Dietrich Fischer-Dieskau

Asrael

Die Sonne vertrieb die nächtliche Frühlingskühle und machte sich allmählich auf dem großen Boulevard breit. Mit ihrem Nahen traten immer mehr Menschen auf den Mittelstreifen, der die Innenstadt schnurgerade vom Hafenkai bis zum Regierungspalast durchzieht. Geräusche und Gerüche wuchsen ins Immense. Blumenparfüm von den zahllosen Verkaufsständen, Fischbratendunst aus den vielen kleinen Gastwirtschaften, Vogelzwitschern von den unzähligen kleinen Vogelkäfigen her, die eine besondere Liebhaberei der Einwohner zu sein schienen. Bunt war das Gemisch der Menschentypen, alle Tönungen der Haut zwischen Schwarz und Weiß beobachtete Jaroslav Koslub. Auch amüsierte er sich, seit er das Hotelportal hinter sich gelassen hatte, über die Männergruppen allerorten, die da würfelten oder Geschäfte abwickelten, die wohl nur im engsten Kreis und in drangvoller Nähe zu tätigen waren.

Koslub war vom Gran Teatre Liceo in Barcelona eingeladen worden, ein Konzert zu dirigieren. Er besuchte die Stadt nicht zum ersten Mal und war deshalb von ihrem Aussehen enttäuscht. In seiner Heimatstadt Prag hatten die Behörden damit angefangen, die kostbare alte Bausubstanz wieder instand zu setzen, und das Zentrum der alten Kaiserstadt konnte längst wieder an die alte Pracht erinnern. Hier aber ließ sich eher ein Abstieg beobachten, obwohl doch die Olympiade nicht weit war, die hier stattfinden sollte. Wo könnte da wohl angefangen werden mit den Aufbesserungen, dachte sich Koslub, da alle alten, schönen Häuser zusehends verfielen, selbst hier auf dem Pracht- und Vorzeigeboulevard, und fast alles in diesem Jahrhundert Nachgebaute jeglicher Beschreibung von Häßlichem spottete.

Einwohner und Gäste der katalonischen Hauptstadt schienen sich kaum verändert zu haben: Schwarze Haarschöpfe beherrschten das Bild, daneben buntgescheckte Kopftücher der Frauen vom Lande, die zu einem Einkauf oder Bettelzug in die Stadt aufgebrochen waren. Koslub war noch keine dreißig Schritte geschlendert, da hielt ihm eine alte Vettel eine völlig zerdrückte Blume entgegen, preßte sie dringlich in seine Hand und lächelte häßlich: "Souvenir d'Espagne!" Woraufhin sie sogleich die andere Hand hinstreckte, um einige Pesetas zu ergattern. Verwirrt entledigte sich Koslub einiger Kleinmünzen und strebte weiter .

Es war ihm nun sehr viel lieber als noch gestern abend, daß die Orchestermusiker, wie die meisten Berufstätigen hier, es vorzogen, die Vormittagsstunden zu verschlafen und die Arbeit möglichst erst gegen Abend zu beginnen. Das streckte seinen Aufenthalt zwar um einige Tage, da auf diese Weise nur eine tägliche Probe mit dem Orchester zustande kam. Andererseits konnte sich der nun Sechzigjährige von der täglichen Anstrengung erholen und sich umschauen. Die Bezahlung hielt sich in Grenzen, was ihn dazu veranlaßt hatte, seine Frau diesmal in Prag zu lassen.

Mitten im Gehen und dem gewohnten stillen Repetieren einiger schlagtechnisch komplizierter Stellen zog etwas seinen Blick an, zunächst ohne Richtung und Gegenstand, dann plötzlich klar und fest umrissen. Mitten in den Zeitungsständen, den am Rande des Boulevards hupenden Autos, den Souvenirläden und Herrenausstattern war in etwa fünfzig Metern Entfernung eine Marmorstufe auszumachen. Koslub konnte sich ihr Vorhandensein in dieser Umgebung überhaupt nicht erklären, blieb stehen und starrte in ihre Richtung. Seltsam genug drängten sich gleich mehrere Erinnerungen gleichzeitig vor sein inneres Auge. Ein marmorner Knabe auf ei- nem Friedhof, den er mit acht Jahren zuerst gesehen und seitdem häufig wieder aufgesucht hatte. Die Lektüre eines Kinderbuches, in dem die Statue eines Kindes anfing, zu der Hauptperson, einem Knaben, zu sprechen. Und schließlich das programmatische Thema der Symphonie, die er hier dirigieren sollte: die Asrael-Symphonie von Josef Suk, das umfangreiche, einem Requiem gleichende symphonische Gebilde, in welchem die Gestalt des Todesengels eine nicht immer ohne Kitsch herausgehobene Rolle spielt.

Die weiß leuchtende Frauengestalt faszinierte ihn, ließ ihn ein paar Minuten im Gehen innehalten. Sie schien ihm ein Menschentum von beseligender Gewalt auszudrücken, eine Lauterkeit des Leids und der Glückssehnsucht, eine transzendente und doch reale Hoheit. Er konnte nicht anders, er mußte sich ihr nähern.

Da stockte ihm der Atem. Kein Zweifel: Die Figur regte sich langsam -nicht ohne Feierlichkeit. Sie änderte ihre Stellung bis zu einem völlig anderen Ausdruck. Jetzt erst nahm er die gaffenden Zuschauer ringsherum wahr, deren Gesichtsausdruck zwischen Betretenheit und Bewunderung zu schwanken schien.

Auch bei ihm selbst herrschte Verwirrung. Die Umkehr zu einer anderen Verinnerlichung, die die schlanke, anscheinend junge Frau da vollzog, erschien ihm einerseits ganz natürlich. Und zu bewundem war die körperliche Kraft : und Beherrschung, mit der das Wesen so viele Minuten zu erstarren wußte. Ein etwas gestärktes weißes Griechengewand, eine weiß getünchte Perücke mit Nackenknoten, ein kleiner, etwa fünfzig Zentimeter hoher weißer Sockel, auf dem es nur wenig Möglichkeit zur Entspannung der Füße geben konnte: das war die ganze Ausstattung. Eben regte sie sich wieder, und Koslub nahm wahr, daß es ein in die am Boden harrende Schale geworfener Geldschein war, der gleichzeitig als Lohn und verzweifelt zur Erleichterung aufforderndes Signal die Stellungsänderung hervorrief.

Die Umkehr von einer eben noch abwehrenden Haltung der Statue zu Verinnerlichung erschien ganz natürlich. In jeder anderen Kunst als einer theatralischen wäre es unwahr und schamlos gewesen, wenn sich erlebter Schmerz so augenblicklich, so unverhüllt in öffentliche Darstellung umgesetzt hätte. Allein gelassen zu sein im Haufen der ewig Fremden, wie war es aufrichtiger auszudrücken als mit der Musik der eigenen Körper- und Handsprache.

Die Probe am Abend gestaltete sich besonders anstrengend. Das mittelmäßige Orchester kannte das Stück überhaupt nicht, und Koslub hatte es schwer, sich mit den wenigen Brocken Spanisch oder Deutsch, die ihm zur Verfügung standen, verständlich zu ma- chen. Die Spanier hatten sich das selten aufzuführende Werk von dem Tschechen gewünscht, der es als ein nationales Denkmal selbstverständlich im Repertoire hatte. Aber der Klimawechsel machte ihm zu schaffen, sein nervöses Herz fing mehrfach an, unregelmäßige Sprünge zu vollführen. Und immer wieder glitten die Gedanken von Asrael zu jener Schaustellung hinüber und den Gedanken an Leben und Tod, die ihm Marmorstatuen von Kindestagen her verursachten. .

Am nächsten Morgen trat der Dirigent aus der vornehmen Stille des neu eingerichteten Hotels in das kontrastierende Treiben draußen, um sich erholsames Schlendern zu gönnen. Er verabschiedete sich höflich von dem freundlichen jungen Nicanor, der sein Management im Lande vertrat. Der Mann mit den strahlenden Augen hatte nicht versäumt, auf Koslubs neugierige Erkundung hin Auskunft zu geben: Die junge Dame war als Statuen-Imitatorin seit einigen Jahren eine stadtbekannte Erscheinung, und sie stehe nicht weniger als drei Stunden des Vormittags den Flanierenden zur Schau. Sie sei wohl eine glücklose Schauspielerin oder Pantomimin, von denen es in Barcelona viele gebe.

Nachdem sich Koslub allein auf den Weg gemacht hatte, konnten nur wenige Minuten vergehen, bis er gezwungen war, von neuem der Schaustellerin zu begegnen. Diesmal zeigte sie ein anderes, gleichsam noch unvollendetes Gesicht. Sie saß in anmutiger Haltung auf ihrem Holzsockel und ließ sich von einer Gehilfin die kreideweiße Schminke reichen und in das gestärkte Griechengewand helfen, das sie über einem leichten Unterkleid trug. Sie war dabei, sich die Augenwinkel sorgfältig zu bedecken, dann die Lider, dann den Perückenansatz. Vorübergehende, deren einige auf Koslub den Eindruck von gewohnten Stammgästen des Schauplatzes mach- ten, mischten sich in den Vorgang des Herrichtens und gaben Ratschläge, was wohl noch realistischer und vollständiger zu der Täuschung der Zuschauer beitragen könne.

Koslub genierte sich ein wenig, so gebannt auf der Stelle zu verharren, und ging seines Weges. Bis zum Kai über dem Hafen kam er und atmete tief die Brise ein. Dann kehrte er um und fühlte erneut ein Stechen in der Brust, als er der Statue wieder ansichtig wurde.

Nicht als Deklamationsstück oder Geschmeide erglänzte die Gestalt, die Titanentochter stieß in jenem Augenblick eine drohende Faust gegen den Himmel. Es stimmte nicht schlecht dazu, daß ein Wind das gehärtete Gewand in leichte Bewegung versetzte.

Er näherte sich beklommen und war dann fast erleichtert, als er merkte, daß sich die allzu weiße Schminke des Anfangs mit der Haut zu einem tatsächlich steingrauen Gemisch vereint hatte. Es berührte ihn auch erheiternd, daß aus der Nähe genau zu sehen war, in welcher Weise sich die Frau Erleichterung von der Konzentration verschaffte, indem sie nämlich häufig schluckte und die Augen unter den halb verdeckenden Lidern ließ, damit sie wandern konnten, wohin sie wollten, ohne doch die Illusion des Steinernen zu durchbrechen.

Der Schauende konnte sich nicht enthalten, selbst einen Geldschein in die Schale fallen zu lassen. Und sofort leitete sich eine Gebetsszene ein, so, als flehe sie, aufragend unter Widerstrebenden, für ihren Sieg gegen die Ungläubigen. Tut es eigentlich weh, so schön herumzulaufen, kam Koslub nicht umhin, sich selbst zu fragen. In diesem Augenblick traf ihn ihr schwarzer Blick unter den weißen Lidern. Er fühlte einen Stich in der Herzgegend, der ihn zwang, leicht schwankend, aber so schnell wie möglich das Hotel aufzusuchen.

Das Konzert am Abend, spät beginnend und - mitsamt einer vorausgeschickten Mozart-Symphonie -von erheblicher Länge, begann vielversprechend. Lange anhaltender Begrüßungsapplaus, Bravo-Rufe noch vor dem Erklingen des ersten Tones machten dem Gast einigen Mut. Aber seltsam: Er konnte sich nicht konzentrieren. Er dachte an das Göttinnenantlitz, in dem sich nichts gerührt hatte. Seine Eitelkeit war rasend verliebt in die Bleiche. Und er mißtraute plötzlich im Innersten seinem eigenen Talent, war aber vor dem Publikum nicht frei genug, sich seine Nöte zu bekennen. Ganz unnötigerweise hungerte er während des langen symphonischen Ergusses nach greifbaren Zeichen, als hätte irgendeine Bestätigung jene Unsicherheit heilen können. Mit Scham dachte er daran, daß er noch heute jede Zeile las, die irgendein Provinzkritiker über ihn drucken ließ.

Nach anderthalb Stunden nahm das Werk ein Ende und, den halbleise abschließenden Akkorden spottend, stürmte Beifallbrausen aus der Gegend des roten Plüschs und der goldenen Stuckpracht auf ihn ein. Innerlich widersprach er: Das Glück des Anfangs ist eingetauscht gegen die äußeren Zeichen der Meisterschaft: Name, Wohlstand, herrenhafter Sitz am Gebirgsrand. Beifall der Welt, was hieß das? Wie selbstverständlich brauste er daher. "Ich bin eine Einrichtung für sie", sprach er zu sich. "Einst war es anders. Warum Versteckenspielen vor mir?"

Das lange Stehen war ihm schwergefallen, die Beine wollten kaum die Schritte setzen, als er vom Podium ging. Im Künstlerzimmer sank er, von leichtem Schwindelgefühl überwältigt, in einen tiefen Sessel und absolvierte, was nach jedem Auftritt unvermeidlich folg- te: die Cour der Glückwünschenden, die fremden, nichtssagenden Gesichter, die Wünsche nach einer Unterschrift.

Nicanor griff etwas besorgt unter seinen Arm und nahm ihm seine mit den notwendigen Utensilien gefüllte Aktentasche ab, als sie den kurzen Weg über den Boulevard zum Hotel gingen. An einer gewissen Stelle glitten KoslubsAugen zur Seite und suchten etwas. Kein Sockel war da, keine Gestalt, nur lärmende Passanten. Da wollte ihm ein Zerren die Brust zerreißen, die Knie gaben nach, und er lag auf dem Pflaster des Gehwegs. Nicanor konnte ihm nur noch die Lider über den starr gewordenen Augen zudrücken.

© Dietrich Fischer-Dieskau, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Abdruck am 12. Oktober 1991

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