erschienen am 24.April 1999

"Ob ich nach Salome noch Kraft habe...?"

Dietrich Fischer-Dieskau über Matthew Boydens fulminante Richard Strauss-Biographie

Wer die neue Richard Strauss-Biographie von Matthew Boyden liest, darf über die Fülle von Informationen und über gute Recherchen staunen. Ich denke nur an den seltsamen Bezug der Vers-Änderung im Lied "Das Bächlein" zu einem gewissen Hitler, wie er hier mitgeteilt wird. Oder an die Tatsache, daß nicht Nikisch, sondern Albert Coates die erste Leipziger "Salome"-Aufführung dirigierte. Auch die von Beecham für London verlangten Änderungen interessieren, nicht weniger die 33 "Salome"-Proben mit vollem Orchester des Dresdener Dirigenten Ernst von Schuch. Auch gibt es einen schüchternen Satz, daß dank dem Bühnenbildner Roller der "Rosenkavalier" eine der wenigen Opern war, die sich konsequent dem "Ehrgeiz und der Eitelkeit" moderner Opernregisseure widersetzten. Darüber hätten wir gern mehr gehört!

So sehr den Leser solche Funde freuen mögen, so ist ihm dennoch zu raten, sich zugleich bei anderen Autoren über essentielle Sachverhalte in objektiverer Form zu unterrichten. Denn "kritisch" bedeutet im vorliegenden Fall, den der Verlag stolz als "die" Biographie bezeichnet, eine tendenziös negativ gehaltene, mit den Positiva über die Person Richard Strauss sparsam umgehende Sicht. Aber es greift Gewohnheit um sich: Heute muß anscheinend selbst der wissende Leser an der zur Mode gewordene Herabsetzung von Genies teilnehmen, ob er will oder nicht. (Vergleiche die objektivere Einstellung zu Strauss bei Max Steinitzer, Ernst Krause oder Kurt Wilhelm!)

Auf dem Klappentext erfahren wir, es sollen die hellen und die dunklen Seiten dieses Lebens beleuchtet werden. Die hellen sind dem Autor eher selbstverständlich, aber die dunklen Pinselstriche summieren sich im Verlauf der Lektüre derart, daß sie einen Grauschleier über das Ganze werfen. Fast keine Äußerung zu Strauss' Gunsten darf fallen, der nicht eine Invektive folgt, und das nicht nur in Nebensätzen. Will sich jemand profilieren, muß er heftig kritisieren! Da gibt es durchaus bemerkenswerte ästhetische Wertungen, etwa zum "Heldenleben", die die Entstehungszeit und Beschaffenheit des Stückes beleuchten. Liest man dann aber von der "schamlosen Selbstgefälligkeit" des Schöpfers, so ist gleich wieder durchgestrichen, was soeben über die thematische Dauersuche eines nach Material stetig dürstenden Vielarbeiters gesagt wurde. Und auch, was kurz darauf des Autors Statement über Strauss' Festhalten an dem Grundsatz, abstrakte und Programmusik seien im Grunde dasselbe und alle Musik sei letztlich programmatisch, verliert seinen Wert angesichts der bösen Laune des Verfassers. Straussens Spott über das Suchen der Musikgelehrten nach "persönlich Erlebtem" und "Bekenntnishaftem" wird leider nur in solchen Stichworten zitiert. Und wenn der Autor doch weiß, wie wenig die Überschriften der einzelnen Teile des "Heldenleben" für bare Münze genommen werden dürfen,weshalb spricht er dann von einer "sinfonischen Beichte" und sogar von einer "Nabelschau"?

Mit der "Salome" geht es ähnlich: Nicht der Schleiertanz und die Perversität des Kopfkusses zogen das Publikum zu wohligem Schauern an, nein, es waren die Homosexualität (ohne Frage im Libretto eine Rolle spielend) und das jüdische Thema, die den "Antisemiten" zur Komposition trieben, um Erfolg zu ernten. Strauss hielt sich jedoch bewußt von jeglicher ideologisch infiltrierten Politik fern. "Elektra" wiederum unterzieht der Autor einer stichhaltigen literarischen Wertung, läßt aber Hofmannsthal "innerlich zusammenzucken" (wie will Boyden das wissen?), wenn sein jüdischer Großvater im Gespräch erwähnt wird.

Sodann spricht der Autor davon, daß Strauss aufgrund des Erfolges seiner Werke für Ungeduld und Intoleranz nicht anfällig gewesen sei. Mir scheint eher, daß dies mit dem Bewußtsein seines Könnens zu tun hatte und mit dem als Voraussetzung dafür verbundenen fanatischen, sich der Umwelt gegenüber verpuppenden Fleiß. Bei den "Analysen" reiner Musik fehlt Boyden auffällig das beschreibende Vokabular, und der Autor hält sich wie hilfesuchend bei den Stichworte liefernden Programmusiken oder Opernlibretti auf. Wie aber Strauss' Musik es geschafft haben soll, die Leute zu packen und ihre Gefühle aufzuwühlen, sie gleichwohl "nie ganz" zum Nachdenken zu bringen, das müßte näher erläutert werden.

Wo bleibt die Nachzeichnung der musikalischen, durch schrittweises, planmäßiges Weiterkommen bestimmten Entwicklung des noch ganz jungen Strauss, deren gradueller Zugewinn an Können und Ausdrucksvermögen doch von großem Interesse ist? Es läßt sich wohl kaum behaupten, daß er zum Zeitpunkt der Cello-Sonate "noch nichts Außergewöhnliches" komponiert habe, wo doch die Werke des unter 20 Jahre alten Strauss allesamt außergewöhnlich anmuten. Von den Bühnenwerken und ihrer ambivalenten Wirkung und Wesensart erfahren wir sehr Lesenswertes. Wolzogen und seine "Feuersnot" werden rechtens als "unwiderruflich aus der Mode" gekennzeichnet. Daß der "Rosenkavalier" kein stilistischer Rückschritt sei, sondern lediglich eine logische Konsequenz aus dem Vorangegangenen, wird prägnant deutlich.

Die Recherche fiel gründlich aus und brachte auch manches bisher Unbekannte zutage. Aber in wie tendenziöser Auswahl werden die Zitate gebracht, und wie werden sie vom Autor kommentiert! Der Leser gewinnt den Eindruck, Strauss habe Boyden gründlich vergrätzt und dieser wolle sich nun durch "Beispiele" rächen. Etwa wie Kortner, der auf jeder Probe nach "gehässigen" oder "antisemitischen" Kollegen Ausschau hielt.

Daß Straussens Natur voneinander divergierende Wesensmerkmale aufwies, die sich nur schwer vereinbaren lassen, wird im Buch gezeigt und ist den meisten ohnehin deutlich. Die Konstanten Fleiß, Bescheidenheit, Humor und bajuvarische Direktheit werden beiläufig genannt. Aber daß er als junger Musiker mit der doppelten Ambition des Komponisten und Dirigenten alle Hebel bediente, um sich weiterzuhelfen, auch einmal doppelzüngig redete, Vorträge besser zu konditionieren suchte, das kann ihm niemand mit auch nur etwas Verständnis für werdende Musiker verdenken.

Übrigens: daß sich Strauss für Wagner begeisterte, hatte er nicht so sehr Alexander Ritter als just dem Wagner-Hasser par excellence, seinem Vater, zu verdanken, der ihn zuerst nach Bayreuth mitnahm und an den Proben teilnehmen ließ. Zu jenem Zeitpunkt begeisterte sich Strauss erstmals an den Werken des Musikdramatikers.

Immer dann werden wir verschwenderisch von Boyden bedient, wenn die Termine des Dirigenten, wenn sich Aufgabenstellungen oder Besetzungsfragen jagen. Dann dürfen wir uns für einige Seiten von dem mißtrauischen Blick des Autors auf seinen Helden frei machen. Vielleicht hätte es Boyden gutgetan, sich etwas mehr unter den besten Köpfen der achtziger Jahre umzusehen. Dann hätte er sich die Bemerkung, der Haß gegen die Juden sei der einzige Glaube aller Deutschen gewesen, ungeachtet ihres Standes und Berufs vielleicht doch verkniffen. Nietzsches "Der Antichrist" auch nur in die Nähe jenes Wahnsinns zu bringen, daß nach Meinung Dührings und seiner Anhänger die Juden ihre negroide Stufe erst hinter sich bringen mußten und daher Gift für die Reinheit des deutschen Geistes seien, halte ich für absurd. Der Ausdruck "prahlerisches Evangelium" für Nietzsches ja ständig oszillierende Ideale erscheint mir zudem verfehlt.

Straussens Lektüre von Dührings Auffassungen wird zum Glück mit dem von Boyden recht häufig verwendeten Wörtchen "vermutlich" versehen. Auch anderswo erfreuen Einwürfe nach Art von "woraus ich schließe" oder "sicherlich" den Leser wenig. Daß Cosima Wagners Meinungsherrschaft viele Bewährungshungrige in Bayreuth zu Nachläufern der "vollberuflichen" Antisemiten machte, gehört heute schon zum Allgemeinwissen.

"Aus Italien" versieht der Autor mit dem Verdikt, es fehle ihm "an spezifischem Charakter und der Überzeugungskraft seiner späteren Tondichtungen", ohne sich näher bei der Begründung aufzuhalten und zu erwähnen, daß es sich um den ersten, besonders im Eröffnungssatz höchst eigenständigen Schritt in Richtung auf programmatische Symphonik handelte.

Der Autor irrt wie viele seiner Vorgänger, wenn er die Themenstellung des "Heldenleben" oder der "Domestica" als Selbstbespiegelung brandmarkt. Juckte es Strauss - wie meist - in den Fingern, seine harmonischen Künste neu zu bewähren, scheute er vor keinem antimusikalischen Diktat zurück, transportierte aber jeden Gedanken in seine thematische Arbeit, um schließlich doch (ob Lämmergeschrei, Windmühlen, Kritikergemurmel oder Liebesgetändel) eine ganz unprogrammatische, höchst eigenständige Musik daraus zu machen. Längst hatte sich bei ihm die Glosse oder pure Lautmalerei zu Harmonie, Kontrapunkt und Rhythmik geklärt.

Die stärkste Lebensader seiner Musik ist das Wort, und deshalb drängte er seine zögerlichen Opernautoren stets zur Eile. Das Verhältnis Strauss-Hofmannsthal erfährt bei Boyden eine ausgezeichnete Analyse, und die Auswahl aus den Briefen ist geschickt und erhellend. Die labile Kollegenfreundschaft zu Mahler allerdings fällt wieder einmal zu ungunsten des Bayern aus. Mahlers Begeisterung für die "Salome" und sein schließlich zum Verzicht auf Wien führender Kampf darum sprechen eine Sprache, die auf die Pausen in ihrer Korrespondenz ein eher schwaches Licht wirft.

Wo aber bleibt der Riesenschatz von Liedern, die nicht bloß eigenständigen Betrachtungswert besitzen, sondern zum größten Teil vorbereitende oder begleitende Funktion bei der Behandlung der größeren Stücke versahen? Ihnen ihren lediglich zum kleineren Teil gegönnten Erfolg als Publikumsschlager zuzubilligen, heißt Wichtiges verschweigen . . .

Wenn sich eine Gestalt wie die von Frau Pauline als Blitzableiter anbietet, atmet der Leser auf, denn nun schwenkt der giftige Lichtkegel einmal von der Hauptfigur weg. Ob man freilich der Grotesk-Malerei von Alma Mahler sklavisch folgen sollte, entzieht sich meiner Beurteilung. Daß Frau Pauline für familiäre Ordnung und feste bürgerliche Bande sorgte und damit dem Bedürfnis des Komponisten entgegenkam, dürfen wir schmunzelnd verfolgen. Übrigens sind es auch später bei der Beschreibung der braunen Barbarei immer wieder Randfiguren, die unsere Aufmerksamkeit rechtzeitig komplett in Anspruch nehmen. Die politische Ahnungslosigkeit, vor allem aber Uninteressiertheit des Titelhelden sollte niemanden täuschen: Früher hielt sich ein Musikus für zu schade, derart niederen Sphären von Intrige und Unmenschlichkeit in der Politik auch nur nahezukommen, schon gar, wenn er sich durch seinen Haß auf den internationalen Modernismus in unfreiwillige Nähe zur nationalsozialistischen Ästhetik gestellt sah. Am Rande bemerkt sei, daß Straussens Sohn Franz nie Parteimitglied war.

Das dicke, schön ausgestattete Werk mag dem lesenswert erscheinen, der nicht auf Objektivität einem Genie gegenüber Wert legt, weniger dem, der nach einem chronologischen Werkverzeichnis Ausschau hält.

Matthew Boyden: Richard Strauss. Die Biographie. A. d. Engl. v. Laurus Pacher. Europa. München 1999. 702 S., Fischer-Dieskau ist Sänger, Professor für Gesang und Buchautor. Er lebt in Berlin .

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