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Von Verdi sprechen heißt für mich von Herzensdingen sprechen. Deshalb bedaure ich es, mich nur improvisiert und lapidar zu diesem so reichen Thema äußern zu können, da ich bis über die Ohren in der Probenarbeit zur Berliner "Macbeth" - Neuinszenierung und zur Wiederaufnahme des "Falstaff" stecke. Zugleich patriarchalisch und voller Güte ist Verdi für mich der Verehrteste unter den wenigen großen Opernmeistern. Und es fällt mir schwer zu verstehen, daß man auf unserer Seite der Alpen so gern zum Lippenschürzen bereit ist, sobald Dreivierteltakt und gelegentliche Folklorennähe (und damit allerdings höchste Einfachheit) dem Hörer Verständnis für das sinnenhafte Urverhältnis der Italiener zur Musik abfordern. Furor und kantable Melodie sind nicht der ganze Verdi. Nicht ganz unschuldig an so manchem Mißverständnis mögen die heutigen Nachfahren seiner Interpreten des vergangenen Jahrhunderts sein, die sich immer mehr einer nur sinnlichen, meist ausschließlich lautstarken Tongebung hingeben, von nicht eben zahlreichen Ausnahmen selbstverständlich abgesehen. Man vergißt, nicht nur in Italien, allzu häufig , wie Verdi sich seine Gestalten dachte, welche klaren, auffallend oft durch p oder pp unterstützten Anweisungen er gab. Zur Verdeutlichung bedarf es etwa eines Blickes auf seinen eigenen Probenbericht, seine Verzweiflung über die nur auf Schöngesang bedachte erste Lady Macbeth. Oder man lese anläßlich der "Aida" - Vorbereitungen: "Die Stimme allein, sei sie noch so schön, genügt nicht. Die sogenannte Vollendung des Gesanglichen kümmert mich wenig: ich liebe es, die Partien singen zu lassen, wie ich es will." Er geriet außer sich, wenn die ihm notwendig erscheinende Charakterisierung in der Sangesweise zu vermissen war. Vielleicht mehr noch geben Auskunft über das Gemeinte die zahllosen erhaltenen Aufnahmen großer Verdisänger der Vergangenheit. Ob es sich dabei um Caruso oder den unvergleichlich nuancierenden Battistini handelt: abgesehen von geschmacklichen Überholtheiten des Portamentos und der rhythmischen Ungenauigkeit befleißigen sie sich im allgemeinen großer Zurückhaltung bei der Entfaltung ihrer stimmlichen Mittel. Ich habe selbst erfahren, wie meine möglichst genaue Befolgung der Stärkegrade im Notentext des "Il balen" aus dem "Trovatore" den Anwurf eines Kritikers nach sich zog, ich sänge Verdi wie ein Schubertlied. Außer der Sucht zur schematischen Einordnung und der Verkennung der manchmal frappanten inneren Schubertnähe von Verdis Musik macht sich hier die weitgehende geschmackliche Verbildung in der Beurteilung von Verdis Stil deutlich. Gewiß, der "grido" und die glänzenden "acuti" sollen nicht verleugnet werden. Aber so wenig wir die Helden der Sprechbühne in ständigem fortissimo von der Bühne hallen lassen, so wenig läßt sich der spätestens seit dem "Macbeth" stetig verfeinerte Typus des Verdicharakters zum breitesten Stimmeinsatz hin nivellieren. Wenn Verdi auch ohne mythologische oder philosophische Umschweife seine Menschengestalten vor unser Ohr und Auge führt, sie mit der ganzen Fülle seiner eigenen Lebens- und Leidenserfahrung ausstattend, so ist doch der rationale Anteil in seinem Schaffen nicht zu unterschätzen. Die bewundernswerteste, ganz einzig dastehende Konsequenz wird in seinem Lebenswerk gezogen. Die Gestalten differenzieren sich graduell. Sie deklamieren, ohne doch der Musik fremd zu werden. Sie dürfen bereits im "Othello" genau das tun, was den Kreaturen anderer Opernschöpfer versagt blieb, sie vertrauen sich der "musica" und den "parole" in gleicher Intensität an. Der "Falstaff" schließlich bringt die wunderbarste Übertragung und Lösung des allmählich Gefundenen in die heitere Sphäre. Der Greis von Achtzig zieht die Summe seiner Erfahrungen und führt alle Fehldeutungen seiner Persönlichkeit wie seiner künstlerischen Zeugnisse ad absurdum. Man wird es mir nachfühlen können, wenn ich "Sir John", den weisen Bösewicht und gutmütigen Trunkenbold, die Quintessenz und sinnfällige Realisation dessen, was Verdi zeitlebens anstrebte, meine liebste Bühnenfigur nenne. © Opernwelt 1963 |
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30jähriges Bühnenjubiläum an der Deutschen
Oper Berlin (Siegfried Palm, unbekannt, G. R. Sellner. 1978
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