Staatstheater Stuttgart, Großes Haus, 20. November 1991
11.00 Uhr, Liedmatinée

  Dietrich Fischer-Dieskau
Hartmut Höll


Lieder aus des Knaben Wunderhorn
 
von Gustav Mahler, (1860-1911)

Rheinlegendchen
Ablösung im Sommer
Scheiden und Meiden
Der Tamboursg'sell
Der Schildwache Nachtlied
Das irdische Leben
Des Antonius von Padua Fischpredigt

Wo die schönen Trompeten blasen
Revelge
Zu Straßburg auf der Schanz
Lied des Verfolgten im Turm
Wer hat dies Liedlein erdacht
Um schlimme Kinder artig zu machen
Selbstgefühl
 

Aus dem Programmbuch der Hugo-Wolf-Akademie

Dietrich Fischer-Dieskau

GUSTAV MAHLERS "WUNDERHORN"-LIEDER

VERTONUNGEN VON GEDICHTEN aus der Sammlung DES KNABEN WUNDERHORN, herausgegeben und weitergedichtet von Clemens Brentano und Achim von Arnim, bilden zweifellos die Ausnahme. Strauss und d' Albert boten einzelne Glanzlichter, vor allem aber schrieb Schumanns Schützling Theodor Streicher als einziger neben Mahler eine größere WUNDERHORN-Gruppe. In Alma Mahlers Erinnerungen werden wir Zeuge jener peinlichen Szene, in der Streicher als nachbarlicher Gast der Mahlers während der Sommerferien seine WUNDERHORN-Lieder vorspielt und Mahler den Älteren höflich nicht tadelt, aber auch kein Lob über die Lippen bringt.

VON DIESEN EINZELVERSUCHEN abgesehen scheint es den Komponisten lieber gewesen zu sein, sich den >altdeutschen< Ton aus Bearbeitungen minderer Qualität zu holen. Mahler wußte um seine Ausnahmestellung, wenn er an Ludwig Karpath schrieb: »Meines Wissens sind die Wunderhorn-Lieder nur vereinzelt komponiert worden. Also ein kleiner Unterschied ist es schon, wenn ich bis zu meinem 40. Lebensjahr meine Texte, sofern ich sie nicht selbst verfaßte (und auch dann gehören sie in gewissem Sinne dazu) ausschließlich aus dieser Sammlung gewählt habe«. (Briefe, Wien-Hamburg 1982).

BEIM ANHÖREN DER auf der Schaffenshöhe komponierten WUNDERHORN-Lieder mit Orchester sollte die Erinnerung an Gesänge »aus der Jugendzeit« mitschwingen. Denn schon hier schlägt Mahler jenen Ton an, der die späteren Kompositionen bestimmen wird. Es besteht kaum ein Abstand zwischen dem hier geschilderten, todgeweihten Deserteur und den Visionen von Schlachtfeld und Richtplatz, die Lieder wie REVELGE oder DER TAMBOURSG'SELL charakterisieren. Die Erniedrigten und vom Leben Gestoßenen sind es, die Mahler faszinieren. Immer hält es seine Musik mit denen, die sich dem Kollektiv nicht einfügen und deshalb zugrunde gehen, mit der »verlor'nen Feldwacht«, dem toten Soldaten, der in REVELGE noch immer die Trommel schlägt. Die Sammlung des Unfreien, das - richtig interpretiert - doch die Hörer in Bann schlägt, macht Mahlers Musik aus, eine Erweckung im Sinne des Titels der LIEDER AUS LETZTER ZEIT: Revelge.

WAS MUSIKALISCH UNMITTELBAR sein soll und >natürlich<, wird von dem angeblich musikalisch so naturbesessenen Komponisten bis in die tonsetzerischen Zellen hinein immer wieder in Frage gestellt. So unverkennbar eigenartig er ist, so plastisch er formuliert, so wenig schickt er sich in das von den Romantikern inthronisierte Ideal des Originellen. Alles, was seit dem »stile rappresentativo« fingiert wiederkehrt, vermochte Mahler insofern zu übersteigen, als er gerade fehlende Unmittelbarkeit, mangelnde Geschicklichkeit des routinierten Tonsetzers, nicht vorhandene Virtuosität in den Prozeß des Komponierens einbrachte.

HINTER DER TEXTWAHL stand Mahlers Lieblingssatz bei Dostojewski: » Wie kann man glücklich sein, wenn ein Geschöpf auf Erden noch leidet!« (nach Alma Mahler-Werfel). Hierher gehört auch die bei einem Hofoperndirektor damals schockierende Stimmabgabe für den sozialistischen Kandidaten Viktor Adler bei den Wahlen von 1901. Dem Leid der Sprachlosen hat Mahler künstlerische Stimme gegeben. DAS IRDISCHE LEBEN gehört dazu, wenn es in Kontrast zu den »himmlischen Freuden« des Sopran-Solos aus der 4. Symphonie vom Hungersterben eines Kindes erzählt. Vor allem machte er den geschundenen Soldaten zum Gegenstand der Anklage. Alban Berg sollte in seinem WOZZECK diese Züge im Geiste Mahlers weiterzeichnen.

DEM ENTSPRICHT AUF kompositionstechnischer Ebene ein volkstümIich lapidares Element, das sich gegen die bürgerliche Musiktradition stellt, den traurigen Überrest des ihr von der Zivilisation überlassenen Abfalls gleichsam verstümmelt und entstellt. Es erklingt ein Volkston, der sich erst durch Reflexion bilden konnte, »Musik über Musik«, wie es Dahlhaus (München 1982) formulierte. Zugleich aber dichtet und singt Mahler ab Volkslied weiter, nicht unähnlich den Herausgebern der Gedichte um 100 Jahre zuvor, als einzelner nachvollziehend, was ehedem viele einzelne in einer Kette von Generationen getan hatten und so eine gewaltige Distanz zur Liedpraxis seiner Zeitgenossen dokumentierend. Ist also das Ergebnis ein keineswegs naives oder volksliedhaftes, so gründet dies in der Schwierigkeit, den Quellen von neuem sich zu nähern - und sich dies einzugestehen.

AUSDRUCK DAFÜR IST unter anderem, daß sich Mahler in strophisch gebauten Liedern (und die WUNDERHORN-Lieder sind es fast alle) einer Form der Variante bedient, in der sich Strophenschlüsse kaum in geronnener, reimähnlicher Gestalt wiederholen. Zwar bleiben die Strophen als solche erkennbar, aber meist geht es unerwartet, intensiver weiter. Die Veränderungen werden in die harmonische Konstruktion einbezogen und steigern oder schwächen sich mit dem ganzen. Die B- Teile jeder Strophe etwa im LIED DES VERFOLGTEN IM TURM, die die Verzweiflung des Mädchens zugleich vertiefen und zeitlich dehnen, machen dies deutlich.

DIE SYMPHONIK MAHLERS, zu der die Lieder als Zelle oder Zusammenfassung gehören, kann als der Versuch gewertet werden, erstarrtem Formalismus zu entrinnen und an seine Stelle eine gelöste, melodisch aufgelockerte Expression zu setzen. In ihr verband sich die emotionale Überspannung des 19. mit dem nervösen Skeptizismus und der Weltangst des 20. Jahrhunderts. Das macht Mahlers >volkstümliche< Melodien zu stilisierten, intellektualisierten Gebilden, die ebenso weit von den naturhaften Formen des Volksliedes entfernt sind wie die dekorativ stilisierten Pflanzenmotive des Jugendstils von ihrem Urtyp.

 

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