Zum Konzert in Berlin, British Centre, am 4. Juli 1952

 

"Liederabend Gerda Lammers - Dietrich Fischer-Dieskau.
Gerda Lammers und Dietrich Fischer-Dieskau setzten sich diesmal höchst dankenswerterweise für das zeitgenössische Liedschaffen ein; daß der Saal trotzdem überfüllt war, ist zunächst der Zugkraft der Interpreten zuzuschreiben. Auf dem Programm des Abends standen lediglich drei Komponistennamen: Wolfgang Fortner, Paul Höffer und Gerhard Kastner. Kastner (geb. 1928), dessen Lieder den Hauptteil der Vortragsfolge ausmachten und der zugleich als Begleiter am Flügel fungierte, ist einmal bei Höffer in die Schule gegangen und hat sich dann (soweit wir wissen) autodidaktisch weitergebildet. Seine Gesänge hinterließen zwiespältige Bilder. Unter den Sopranliedern von 1949 gab es einige, die es bis zu einer gewissen Geschlosseheit brachten; dagegen löste die neueste Gruppe von 1951 (6 Lieder für Bariton auf Texte von Wolfgang Borchert) so etwas wie Unbehagen aus. Hier stießen in der Behandlung von Singstimme und Klavier zwei Kompositionsprinzipien aufeinander, die sich nicht zur Einheit fügen wollten; und es mußte der Eindruck entstehen, als sei der aufgewandte Ernst mitunter in der Haltung falsch, als drängten sich Elemente in den Vordergrund, die dem Wesen des Liedes eigentlich fremd sind. Oder war dies überhaupt ein Versuch, eine ähnlich problematische Sphäre, die sprachlich geistige Welt des frühverstorbenen Wolfgang Borchert, aus der Gärung der Gegenwart heraus zu deuten? Für Kastner war es vermutlich nicht einmal vorteilhaft, schon jetzt mit diesen noch nicht recht ausgereiften Vokalwerken der Öffentlichkeit vorgestellt zu werden; eine nochmalige Lehrzeit, die auf die rein instrumentalen Gattungen Wert zu legen hätte, könnte seiner kompositorischen Entwicklung dienlich sein. Kastners Opus stand zwischen Fortners gekonnten Hölderlin-Gesängen und den Totenliedern von Höffer, in denen dieser 1945 gleichsam vorausahnend in sechs dichterischen Texten jenen letzten Erfahrungsbereich ebenso sparsam wie meisterlich umschreibt. Gerda Lammers und Dietrich Fischer-Dieskau boten gesanglch und von der Gestaltung her schöne Leistungen und fanden zu Recht viel Beifall.

Werner Bollert

Musikblätter, Jahrgang 6, 15. August 1952, Heft 33/34 (84/85), Seite 131.
(eruiert und mitgeteilt von Jonas Olejniczak, im Rahmen seiner musikwissenschaftlichen Arbeit 2010)

 

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