Zum Liederabend am 10. Mai 1957 in Stuttgart
Stuttgarter Zeitung, Datum unbekannt
Meisterkonzert Fischer-Dieskau
Lange Zeit vor dem Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau war der Riesensaal der Stuttgarter Liederhalle ausverkauft. Der Ruf dieses großartigen jungen Baritons, der auch schon verschiedentlich bei den Bayreuther Festspielen glänzte, hat sich in den letzten Jahren mit Windeseile verbreitet. Und man konnte sogar die gewaltige, imponierende Gestalt des immer noch rüstigen, einst nicht weniger berühmten Baritons Theodor Scheidl unter den Zuhörern bemerken - offenbar wollte er sich dieses künstlerische Ereignis nicht entgehen lassen. Um einen Höhepunkt der sich langsam dem Ende zuneigenden Stuttgarter Konzertsaison handelte es sich bei diesem fünften Meisterkonzert auch tatsächlich. Der von dem ungemein schmiegsam und musikalisch begleitenden Pianisten Günther Weißenborn sekundierte Sänger bezauberte die Besucher durch seine wunderbare, modulationsfähige, alle Färbungen bis in die feinsten Kopfregister beherrschende Stimme. Nicht nur das allein - er riß sie gleicherweise hin mit seinem makellosen, warmen und stets souveränen Vortrag. Kaum ein anderer wie er hätte es wohl wagen können, einen reinen Schumann-Abend mit den zwölf Justinus-Kerner-Liedern op. 33 und dem ebenfalls ein Dutzend Gesänge umfassenden Eichendorff-Zyklus op. 39 zu geben. Jedes einzelne dieser romantischen Gebilde interpretierte Dietrich Fischer-Dieskau mit wechselnder Ausdruckskraft, aber immer mit dem tief empfundenen Erfassen der intimen Grundstimmung. Zartes und Versponnenes, Leidenschaftliches und Schwermütiges folgten einander in staunenswerter Natürlichkeit und zugleich musikalisch-geistiger Durchleuchtung. Ein Abend großer Kunst - Dietrich Fischer-Dieskau verstand es, seinen atemlos und andächtig lauschenden Hörern die Welt der Romantik zu erschließen, deren Spannweite immer wieder eine tiefgreifende Wirkung auf das Gemüt ausstrahlt. Die in der Zeit äußerer Bedrohung für solche Kunst heute zweifellos wieder sehr stark empfänglichen Menschen überschütteten Dietrich Fischer-Dieskau und seinen Begleiter Günther Weißenborn geradezu mit Beifall.
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