Zum Liederabend im März 1958 in Köln

    

      Neue Zeitschrift für Musik, März 1958     

  

Dietrich Fischer-Dieskau als Schumann-Interpret

Meisterkonzert im Gürzenich in Köln

  

Zweimal mußte der Meisterabend mit dem Bariton Dietrich Fischer-Dieskau verschoben werden. Die Kurven der Gesangsstimme, des schönsten, aber auch empfindlichsten aller Instrumente, vertragen sich schlecht mit jenen, die das Fieberthermometer anzeigt. Nun war es am Publikum, in den kleinen, von keinem Beifall gestörten Pausen zwischen den Liedern die milderen Kurven des Räusperns und Hustens vorzuführen. Aber wenn Fischer-Dieskau dann das nächste Lied des Kerner-Zyklus oder des Eichendorff-Liederkreises von Robert Schumann sang, herrschte gespannte Stille, die Stille des atemlos hingegebenen Lauschens.

Fischer-Dieskau, mit seinen 32 Jahren nun voller und reifer wirkend als vor sechs Jahren, da ihn Fritz Busch zu einer konzertanten Maskenball-Aufführung in den Kölner Funksaal geholt hatte, gehört zu den wenigen Gesangssolisten, die einen ganzen Abend allein tragen. Und vielleicht ist er der einzige heute, der die Iyrische Verinnerlichung und die geistige Konzentration besitzt, dem breiten  Meisterkonzert-Publikum einen "Lieder-Abend" darzubieten.

Der Lieder-Abend, vor drei, vier Jahren noch sorglich gepflegt und damals Inbegriff höchster Kunstübung, ist heute ausgestorben. Vor fünf Jahren hat ihm Furtwängler einen schmerzlichen Nachruf gewidmet, voll tiefer Besorgnis um die Gründe für diesen kaum erklärbaren Niedergang einer der edelsten öffentlichen Musizierformen.

Mancher Besitzer einer berühmten Stimme hat es noch mit den "gemischten" Erfolgsprogrammen versucht mit Opernarien von Händel, Mozart, Puccini, Strauss und einem pflichtgemäß absolvierten Liedteil, in dem die ausgesuchten Perlen der Literatur aufgereiht waren, von der Forelle und der Mondnacht bis zum Traum durch die Dämmerung, dem dann als beifallumrauschte Zugabe die Cäcilie oder die Zuneigung mit dem donnernden "Habe Dank!" folgte.

Nichts von alledem bei Fischer-Dieskau. Er ist herrlich kompromißlos, ein Verächter jeglichen Publikumsgeschmacks und damit ein Erzieher des Publikums. Er singt die beiden Schumann-Zyklen, zweimal zwölf Lieder, von denen nicht mehr als drei in die populären Liederalben eingegangen sind. Er singt sie so wie sie als poetische Ganzheit, als Zyklus, zusammengehören, so, wie sie vom Dichter, vom Komponisten gemeint waren. Und  es gelingt ihm, mit ebenso viel geistiger Überschau wie nuancierender Feinheit in das Wesen des gesamten Liedzyklus einzudringen - darin liegt das eigentliche Geheimnis dieses einzigartigen Sängers.

Man kann das Technische, das Vokalartistische dieser prachtvoll strömenden, des pathetischen wie des zartesten Ausdrucks mächtigen Baritonstimme beschreiben, ihre Feinheit, Iyrische Verinnerlichung und männliche Ausdruckskraft, ihre wunderbare Modulationsfähigkeit und vergeistigte Schlichtheit - das alles würde nicht ausreichen, die unvergleichlich tiefe Wirkung dieses eminenten Sängers zu erklären. Er ist nicht bloß Sänger, vielmehr ist er genau das, was er mehr ist als Sänger, ein Künstler, der völlig im interpretierten Werk aufgeht.

Er verzichtet auf jede Pose, auf jeden Effekt, auf alles, was den sogenannten "Erfolg" macht - und zwingt dennoch den bis zum letzten Platz besetzten Gürzenich unwiderstehlich in seinen Bann. Jenes "Habe Dank!"  wäre das schlichteste, das leiseste, das man ihm darbringen könnte. Günther Weißenborn am Flügel: wir haben ihn noch nie so gut, so kongenial mitgehend gehört.

E.

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