Zum Konzert am 2. Juni 1959 in Köln


     

     Kölnische Rundschau, 4. Juni 1959     

     

Fischer-Dieskau sang die "Müllerin"

Schubert-Ausklang der Konzertzeit im Gürzenich

      

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau singt, kann auch der kritischste Kritiker Feierabend machen. Was immer man zum Ruhm und Preis dieses einzigartigen Liedersängers sagen mag, man kann im Grunde nur wiederholen, was man schon früher gesagt hat: daß das Technische, das Vokalartistische dieser prachtvoll strömenden Stimme des mächtigsten wie des zartesten Ausdrucks fähig ist. Daß sich männliche Ausdruckskraft und lyrische Verinnerlichung darin zu einer vollkommenen Einheit verbinden. Daß die wunderbare Modulationsfähigkeit seiner Stimme und die vollendete Kunst seiner Tonführung im Dienst einer vergeistigten Schlichtheit stehen. Das alles mag aufschlußreich sein, aber es enthält nicht das Geheimnis dieses Meistersängers.

Mit der Unbeirrbarkeit des wahren Künstlers bleibt Fischer-Dieskau auf seinem Weg. Er ist ein sensationeller Kassenmagnet und dabei ein Verächter jeglichen Publikumsgeschmacks, ein kompromißloser Künstler, der nicht die geringste Konzession macht: Ein Erzieher des Publikums, der auf jede Pose, auf jeden Effekt verzichtet und dennoch seine Hörerschaft unwiderstehlich in seinen Bann zwingt.

Das Wandern ist des Müllers Lust – so harmlos und heiter beginnt Schuberts Liederzyklus "Die schöne Müllerin", einziger Programmpunkt des Abends, ohne Unterbrechung gesungen und nicht viel mehr als eine Stunde dauernd. Es gibt heute keinen andern Sänger, der ein solches Programm vor einem breiten Hörerkreis wagen könnte. Die drei, vier populär gewordenen Stücke aus dem Zyklus kennt jeder. Auch hier gibt es neue, ungeahnte Tönungen. "Ich schnitt es gern in alle Rinden ein" erklingt leicht und deklamatorisch behend. Ganz ohne die auftrumpfende Geste des "Dein ist mein Herz!"

Aber auf solche Einzelwirkungen kommt es nicht an. Fischer-Dieskau ordnet das Lied dem Zyklus unter. Er durchschreitet wandernd eine ganze Welt. Die erste Frage, in dem Lied "Wohin?", ist noch voll holder Poesie. Aber bald wird es eine bittersüße Liebesgeschichte. Was so idyllisch begonnen hat, verwandelt sich in weltschmerzliche Tragik. Das Lied "Die liebe Farbe" mit dem unheimlich pochenden "E" der Klavierbegleitung weitet sich zu einem Abgrund der Melancholie, und das letzte Lied, des Baches Wiegenlied "Gute Ruh’", ist ein Passionsausklang, der alles Biedermeier-Genre hinter sich läßt.

Fischer-Dieskaus interpretatorische Meisterschaft ist kaum zu übertreffen. Er packt die Hörer mit seiner Stimme, mit seiner Kunst, mit seiner Menschlichkeit. Er packt sie an der zentralen Stelle der Angst, so würde man heute sagen – damals nannte man es das Unglück oder das Grab des Glücks.

Kein Beifall zwischen den Liedern. Dafür um so mehr am Ende und bei einigen Zugaben. Immer wieder mußte der Sänger mit seinem trefflichen Begleiter Günther Weißenborn auf dem Podium erscheinen.

E.


  

     Kölner Stadtanzeiger, 4. Juni 1959     

  

Die Farben verändern sich

Fischer-Dieskau sang Schuberts "Müllerlieder"

    

Das ist nun schon seit Jahren ein gewohntes Bild, wenn Dietrich Fischer-Dieskau singt: ein bis in die höchsten Podiumssitze gefüllter Saal und ein Publikum, das ihm huldigt wie einem regierenden Souverän.

In einem Sonderkonzert der Westdeutschen Konzertdirektion brachte er diesmal im Gürzenich Schuberts Liederkreis "Die schöne Müllerin" zu Gehör, ohne die zwanzig Gesänge durch eine störende Pause zu unterbrechen. Und er sang dieses Miniaturdrama um Liebesfreud- und leid mit einer Lauterkeit und Hingabe des Herzens, in einer Übereinstimmung von Wort und Ton, wie sie uns heute nicht oft mehr begegnet. Seine Mittel sind freilich bewußter geworden. Man spürt es an der stärkeren dramatischen Akzentuierung des Lyrischen, einer freizügigeren Behandlung der Dynamik und der Hervorhebung einzelner Worte aus dem musikalischen Zusammenhang. Überraschend der kraftvolle Ausbruch des Gefühls, mit dem er das populäre "Ungeduld" zum Höhepunkt führt. Da triumphiert dann für einen Augenblick der sieggewohnte Bühnensänger über den Liedgestalter. Zuweilen auch – etwa in der "Danksagung an den Bach" und dem "Tränenregen" – schwingt eine leise Sentimentalität mit.

Aber wieviel Unverfälschtes, Ergreifendes und im letzten Erfülltes gibt es dagegen zu bewundern! Nehmen wir als Beispiel nur die letzten Verszeilen aus dem Lied "Pause". Fischer-Dieskau singt sie wunderbar versonnen im Ausdruck und macht allein aus der Färbung der Vokale den Stimmungsumschwung deutlich. Ein flüchtiger Wolkenzug über der Sonne – und die Farben der seelischen Landschaft sind verändert. Noch etwas Wesentliches fällt einem hier auf: Nichts wird zweimal gesagt. Der Sänger weiß, daß Wiederholungen im musikalischen Aufbau ihre genau berechnete organische Funktion haben, und versteht es, sie dem Hörer aus der Steigerung des Vortrags, oft auch nur durch eine andere Schattierung des Klanges deutlich zu machen. Nach dem abschließenden "Wiegenlied des Baches" – vielleicht das Schönste des Abends – stand das Publikum wie eine Mauer und erzwang ein Schubert-Lied nach dem anderen als Zugabe. Erst als Fischer-Dieskau mit dem "Ade" unmißverständlich um Schonung bat, leerte sich der Saal. Sein langjähriger Begleiter und Mitgestalter Günther Weißenborn sekundierte ihm wie immer mit Anpassung und Musikalität.

Margo Schuchardt

       


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