Zum  Konzert am 2. Oktober 1960 in Berlin

Tagesspiegel, Berlin, 5. Oktober 1960

Mahler rhetorisch und symphonisch

Gedenkfeier in der Akademie

Gustav Mahler, dem nach hundert Jahren noch immer Umstrittenen und dennoch die Musik des Jahrhunderts durch seine Größe Überschattenden, war das letzte musikalische Wort der Festwochen vorbehalten. Eine Feier im Saal der Akademie der Künste, vom Senat veranstaltet, galt seinem hundertsten Geburtstag; Max Brod hielt die Gedenkrede, die, aus biographischen Erinnerungen, aus Betrachtung und Bekenntnis lose zusammengesetzt, gleichsam mittelbar, ohne eifernde, überredende Akzente, die Ahnung dieser Größe heraufrief. "Das Lied ist schön" – den Ausruf eines Kindes, das im Kinderchor bei der Uraufführung der achten Symphonie mitgesungen hatte, wählte der Vortragende als Motto. Das Lied ist ihm die Quelle der Mahlerschen Kunst, Naivität, Kindlichkeit, die der Heiligkeit verwandt ist, ihre wesentliche Eigenschaft. Daß Mahler, der "am deutlichsten transzendente Künstler", eine religiöse Erscheinung ist, mußte in diesem Zusammenhang betont werden. Damit rückt auch das jüdischer Element seines Wesens, das neben dem deutsch-romantischen, sich in Volksliedklang und Naturpoesie bezeugenden nicht übersehen werden darf, in den Blickpunkt der Betrachtung. Gerade in dieser Richtung gab Max Brod bedeutsame Anregungen. Daß der für Mahlers Werk charakteristische Marschrhythmus aus dem chassidisch-jüdischen Musikgefühl zu erklären sei, daß überhaupt vieles Dunkle, Rätselhafte und Zwiespältige, das das Urteil über ihn irritiert, hier seine Rechtfertigung finde, sind Fingerzeige, die wesentlich zur Erhellung des Mahler-Bildes beitragen. Dazu kamen Einzelheiten wie der Hinweis auf die zentrale Stellung der autobiographisch zu verstehenden sechsten Symphonie, deren Aufführung in Berlin immer noch aussteht. Aus allem ergab sich eine umfassende, verständnisvolle Würdigung des großen, vom Irdisch-Brüchigen zum Überirdisch-Reinen und Wahren strebenden Musikers, der als Verkünder biblischer Humanität an der Schwelle unseres Jahrhunderts steht.

Dietrich Fischer-Dieskau, von Karl Engel mit klarem Ton und sparsamer, unsentimentaler Pedalisierung am Flügel begleitet, gab mit frühen, humoristischen und wehmütigen Wunderhornliedern und den späten, tiefernsten Rückertliedern die tönende Ergänzung zum Vortrag, zur Analyse des Mahlerschen Werkes aus dem Lied. Über die gezielte, ins Wesentliche greifende Ausdruckskraft seiner Interpretation sind keine Worte zu verlieren. Daß ein Sänger dieses Ranges gerade bei Mahler das Äußerste und Letzte zu geben vermag, zeugt wiederum von dem Lebensreichtum, der in diesem Werk beschlossen ist.

Autor unbekannt


   

     Berliner Morgenpost, 5. Oktober 1960     

   

Eine Gustav-Mahler-Feier aus Anlaß des hundertsten Geburtstages des Komponisten fand in der Akademie der Künste statt. Der Schriftsteller Max Brod sprach zu Herzen gehende Worte des Gedenkens; er sieht im Lied den Schlüssel zu Mahlers Werk, auch zu seinen Sinfonien. Dietrich Fischer-Dieskau (von Karl Engel poetisch begleitet) sang ergreifend einige Lieder, von denen das heimwehkranke "Zu Straßburg auf der Schanz’" vielleicht am meisten von Mahler kündete. Max Brod sprach auch von der "Gefühlserstarrung" einiger Moderner. Über den Abenden, die während der Festwochen der Musik der Gegenwart gewidmet waren, hätte in den meisten Fällen dieser Ausspruch als Kennwort stehen können.

Autor unbekannt

       


    

     unbekannte Presse     

   

Die letzten Festwochenkonzerte im Hochschulsaal

  

Außer Dietrich Fischer-Dieskau dürfte es kein Sänger wagen, einem breiten Publikum mit einer Liederfolge zu kommen, die fast ausschließlich intimen, besinnlichen oder heiter-ironischen Charakters war. Man versteht, daß ein Künstler, der alle Grenzen des deutschen Liedrepertoires bereits abgeschritten hat, sich mit gleichsam historisierender Liebe der Lyrik des jungen Strauss aus der Zeit vor der Jahrhundertwende, der Zeit des Jugendstils und des Überbrettls annehmen mag. Die vergilbten, teils sentimentalen, teils neckischen Texte der Bodman, Gilm oder Felix Dahn, die dem literarisch noch unkritischen Musiker irgendwie adaequat waren, erreichen auch bei subtilster, mimische Mittel hinzunehmender Verdeutlichung den heutigen Hörer nicht mehr. Auch die nach dem ersten Weltkriege entstandenen, sehr pointierten, aber wenig singbaren Vertonungen der Spruchweisheit aus Goethes Westöstlichem Diwan geben keinen Anlaß zu kantabler Klangsinnlichkeit, die man am Ende sucht.

Die aus Mahlers Wunderhorn-Liedern getroffene Auswahl, die anspruchsvollen Gruppen Pfitznerscher Lieder, auf Worte Eichendorffs und C.F. Meyers, die die deutsche Liedtradition legitim mit dem musikalischen Material ihrer Zeit fortsetzen, das alles forderte vom Hörer die Bereitschaft, einer Vortragskunst von mikroskopisch differenzierter Verfeinerung zu folgen, die sich, so scheint es, allzu oft und allzu weit vom Elementar-Gesanglichen entfernt. Die unerhörte Geschmeidigkeit der Stimmführung läßt Fischer-Dieskau ins Falsett ausweichen, auch dann, wenn der Ausdrucksbogen die volle Spannung bis zum Ende der Phrase erforderte. Hier wird vielleicht die latente Problematik einer Künstlerpersönlichkeit sichtbar, die sich dem zwiefältigen Kunstwerk "Lied" hingebend verpflichtet fühlt. Die plastische Bildkraft des Wortes droht obzusiegen über die inkommensurablere Seelenhaftigkeit der gesungenen Linie.

Die Hörer im vollbesetzten Hochschulsaal erwärmten sich nur langsam. Erst bei den bekannteren, mit vergleichsloser Vollendung vorgetragenen Zugaben war man hypnotisch gebannt und dankte dem großen Künstler mit langem Beifall. Karl Engel am Flügel folgte dem Sänger mit höchster Sensibilität und Hingabe.

 

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