Zur Oper am 26. Januar 1961 in Wien

Die Presse, Wien, 28. Januar 1961

Premiere in der Staatsoper

"Eugen Onegin" mit Herbariumduft

Tschaikowskys Werk in einer neuen Inszenierung wieder im Repertoire

Die Neuinszenierung einer Oper wie "Eugen Onegin" von Tschaikowsky hat nur dann ihr Ziel erreicht, wenn es gelingt, das Werk als solches für eine neue Publikumsschicht zu gewinnen, die Schönheiten und Eigenheiten, die es enthält, mit einer neuen Hörerschaft förmlich neu zu entdecken. Im Falle des Onegin handelt sich’s darum, das Allgemein-Menschliche oder das Ewig-Weibliche, das sich in der modischen oder altmodischen Einkleidung birgt, unmittelbar zu erfassen und wirksam werden zu lassen. Der Versuch, eine solche Wirkung zu erzielen, wurde diesmal jedoch nicht unternommen. Die getrockneten Blumen aus der Lade der Erinnerungen gelangten nicht zu neuer Blüte; die Liebesbriefe blieben vergilbt, Herbariumduft breitete sich aus.

Dabei wurden die Formen und guten Manieren durchaus gewahrt. Auch in ihrer Unzulänglichkeit hatte die Reprise Niveau, ungeachtet der anscheinend wenig interessierten musikalischen Leitung durch Lovro von Matacic, der Tschaikowskys feines, empfindsames Melodiengewebe mit geringer Überzeugungskraft vor den Hörer ausbreitete, ungeachtet einer Inszenierung, die in der Regie – Paul Hager – nicht viel anzufangen wußte und im Bühnenbild – Leni Bauer-Eczy – konzeptlos operierte, oder, sofern ein Konzept vorhanden war, dieses nur undeutlich zur Geltung brachte. Aber es spielten unsere Philharmoniker und es sangen einige von unseren besten Opernkräften.

Herz und Seele dieser Oper ist nicht der Titelheld, sondern Tatjana, sein Opfer und seine Überwinderin. Sena Jurinac verleiht ihr den Charme ihrer Persönlichkeit und den Wohllaut ihres Gesanges. Sie bleibt indessen zur Gänze in der lyrisch-sentimentalen Sphäre gefangen, sie bleibt, Schwärmerin, ihren romanhaften, lebensfernen Phantasien hingegeben. Aber sowohl Puschkin wie Tschaikowsky haben sie mit erheblich stärkeren Regungen des Temperaments ausgestattet, so daß sie nicht nur gefühlvollen Schmachtens, sondern auch dramatischer Aktivität fähig ist. Daß sie dem geliebten Mann einen Brief schreibt, der ihm ihr Herz entdeckt, bedeutet einen geradezu heroischen Entschluß. Sie ist bereit, sich ins Leben zu stürzen, aus dem Traum in die Wirklichkeit: "... und wär’s mein Untergang...". Von diesem heroischen Zug der Figur ist in die Neuinszenierung nichts eingedrungen.

Überragend und scharf profiliert stehen die Vertreter der männlichen Hauptrollen in der Aufführung. Dietrich Fischer-Dieskau läßt den Onegin als Zyniker, als blasierten Welt- und Lebemann auftreten und keine falsche Dämonie durchschimmern. Sein Onegin hat kein romantisches Geheimnis zu hüten. Alles, was er unternimmt, ist real. Im Sinne dieser Auffassung ist seine Darstellung vollendet, wozu noch kommt, daß er mit jeder Gesangphrase, mit jeder Gebärde, mit jedem Schritt, den er über die Bühne macht, sein Künstlertum bezeugt. Mit dem Lensky hat Anton Dermota seinerzeit seine ersten großen Erfolge errungen. Die Rolle ist ihm treu geblieben, oder richtiger, er hat ihr die Treue gehalten, und so bietet er heute eine Gesangleistung von höchster Reife und stärkster künstlerischer Intensität. Ton- und Ausdrucksgebung greifen mühelos ineinander, seine passionierte musikalisch-dramatische Hingabe weiß sich eins mit dem Belcanto-Stil seines Singens.

Tatjanas Schwester war Biserka Cvejic, die sich vor eine bekanntermaßen besonders schwierige, im Grund unlösbare Aufgabe gestellt sah; als Wärterin assistierte Hilde Rössel-Majdan mit gefühlswarmem Zuspruch; als Gutsbesitzerin Larina war Hilde Konetzni eine perfekte Vertreterin ihres Standes; die galanten Strophen des Monsieur Triquet fielen Peter Klein, einem Meister drolliger Chargen, zu. Daß Oskar Czerwenka als Gremin nicht an seinem Platz und noch weniger in seinem Element war, scheint er selbst am besten gefühlt zu haben. Lähmende Verlegenheit breitete sich um seine Szene und um seine Arie. Auch die Balletteinlagen unter der choreographischen Ägide von Heinz Rosen bereiteten wenig Freude und wenig Interesse. Geradezu befremdend wirkten die outrierten Walzerevolutionen, die so gar nicht zu Tschaikowskys geschmeidigen Dreivierteltakten paßten... Gleichviel, Tschaikowskys liebenswertes Opernwerk soll uns willkommen sein, auch wenn der Aufführung etwas zu viel Herbariumduft anhaftet.

Kr


   

     Wochen-Presse ?, Wien, Datum unbekannt     

    

Leider ein Irrtum

    

Tschaikowsky bezeichnet seine Oper "Eugen Onegin" als eine Reihe lyrischer Szenen. Aufgabe der Interpretation müßte es sein, dieser Lyrik stellenweise den heißen Atem handfester Theatralik einzuhauchen, ein Vorgang, den allein die auch an äußeren Spannungen reiche Handlung der Dichtung Puschkins rechtfertigen würde. Die Staatsopern-Neueinstudierung des Werkes schlug den entgegengesetzten Weg ein. Sie verharrt weite Strecken hindurch in epischer Breite. Das Ergebnis ist ein Mangel an Leidenschaft und Animo, eine oft oratorienhaft anmutende Statik.

Das ist um so bedauerlicher, als Senja Jurinac die Partie der Tatjana nicht nur prächtig, sondern auch schauspielerisch durch Züge verhaltener Innigkeit glaubwürdig verkörperte. Dietrich Fischer-Dieskaus stimmliche Vorzüge müssen nicht erst neuerdings gerühmt werden. Sie zeigten sich auch an diesem Abend in bestem Licht. Dennoch war die Berufung des Künstlers für die Titelpartie ein Irrtum. Seinem geradlinigen Naturell entspricht das Zwiespältig-Launenhafte der Figur in keiner Weise. Die Folgen dieser Tatsache äußerten sich in einem Mangel an Charakterisierung.

Am sinnfälligsten erweckte Anton Dermota in seiner großen Arie den magischen Zauber des Musiktheaters. Hilde Konetzni und Hilde Rössel-Majdan bewährten sich in Episodenrollen. Durch Stilgefühl und Phantasie zeichnete sich Heinz Rosens Choreographie aus. Gleiches läßt sich leider nicht von den Bühnenbildern Leni Bauer-Eczys aussagen, die eine unglückliche Ehe zwischen Realistik und einer in dieser Oper völlig überflüssigen Symbolik eingehen. Trotz temperamentvollen Gesten gelang es dem Dirigenten Lovro von Matacic nicht, durchweg dynamisch abgestufte Orchesterwirkungen zu erzielen.

Diese Vorstellung hatte in Einzelheiten Niveau, in ihrer Gesamtheit verlief sie lustlos. "Eugen Onegin" ist das Werk eines Genies, aber kein geniales Werk wie seine meisterhafte "Pique Dame", die bedauerlicherweise, wie erst jüngst mitgeteilt wurde, in absehbarer Zeit in Wien nicht zu hören sein wird.

Mi

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