Zum Konzert am 3. März 1962 in Berlin
Die Welt, 5. März 1962
Musikalische Blüte der Katholizität
Liszts Oratorium "Christus" unter Antal Dorati im SFB
Nach Berlioz’ "L’enfance du Christ", das Cluytens mit den Philharmonikern aufgeführt hatte, ist jetzt auch die Wiederbelebung eines zweiten großen Christus-Oratoriums geglückt: Das Radio-Symphonie-Orchester und der Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale boten unter Antal Dorati den "Christus" von Liszt.
Liszt hat das dreiteilige Werk (Weihnachtsoratorium – Nach Epiphania – Passion und Auferstehung) aus Texten der Bibel und der katholischen Liturgie zusammengestellt. Im Gegensatz zu seinem anderen Oratorium, der früher entstandenen "Legende von der Heiligen Elisabeth", ist der "Christus" musikalisch reicher, zugleich konzentrierter. Er verzichtet zwar auch nicht auf effektvolle Monumentalität – etwa im "Marsch der heiligen drei Könige" oder im Schluß, dem "Resurrexit" – aber im ganzen halten sich äußerer und innerer Glanz die Waage. Das "Tristis est anima mea" (Meine Seele ist betrübt bis in den Tod) gehört in seiner unsentimentalen, untheatralischen Ausdrucksgewalt wohl zum Bedeutendsten in der Sakralmusik des späten 19. Jahrhunderts.
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Mit Antal Dorati hatte das Radio-Symphonie-Orchester einen guten Griff getan. Wir kennen den langjährigen Chef des Minneapolis-Symphony-Orchestra (er ist gebürtiger Ungar, Schüler von Bartók, Kodály und Weiner) von vielen ausgezeichneten Schallplatten. Außerdem hörten wir ihn vor Jahren schon einmal mit dem Radio-Symphonie-Orchester. Doratis Beethoven- und Bartók-Interpretation hinterließ damals einen vorzüglichen Eindruck. Auch diesmal zeigte er sich als glänzender Orchesterdirigent. Die Musiker spielten so gespannt-vital und exakt wie selten.
Nur zum Chor hatte Dorati wenig Kontakt. Die Sänger waren großenteils sich selbst überlassen. So hatte das Ensemble nicht immer die gewohnte Präzision. Auch einige Schärfen in der Höhe sind vielleicht begreiflicher Nervosität zuzuschreiben.
Ein besseres Solistenquartett als das aus Evelyn Lear, Sona Cervena, Andor Kaposy und Dietrich Fischer-Dieskau läßt sich kaum denken. – Viel Beifall für alle Musizierenden – und sicher auch für Liszt – im Großen Sendesaal des SFB.
Joachim Matzner
Der Tagesspiegel, Berlin, Datum unbekannt
Franz Liszts religiöses Bekenntnis
"Christus"-Oratorium im Radio-Symphonie-Konzert
Die Reihe der Konzerte, die Berlin dem Gedächtnis Franz Liszts widmete, hätte nicht schöner und imponierender schließen können als mit der Aufführung des "Christus"-Oratoriums, die das Radio-Symphonie-Orchester mit dem St.-Hedwigs-Kathedralchor im großen Sendesaal des Funkhauses veranstaltete. [...]
Nur eine hervorragende Wiedergabe kann dem anspruchsvollen, zweieinhalbstündigen Werk gerecht werden. Die Mittel waren gegeben. Der Dirigent Antal Dorati freilich blieb der Schönheit des orchestralen Teils, dem poetischen Kolorit der Pastoralszenen, dem Leuchten der mystischen Episoden manches schuldig. So wirkte der erste Teil, die Weihnachtsgeschichte, monoton, erst gegen den Schluß hin steigerte sich der Dirigent in den Enthusiasmus, der ein wesentlicher, unentbehrlicher Teil dieser Musik ist. Um so schöner waren die gesanglichen Eindrücke. Wie Dietrich Fischer-Dieskau die Lyrik der Seligpreisungen in eine Sphäre feierlicher Entrückung hebt, wie er in den Gethsemane-Worten den dunklen Weg von Verlassenheit und Verzweiflung bis zu stiller Ergebung durchmißt, das ist eine Leistung inspirierter, an den Kern des geistlichen Gehalts dringenden Interpretation, die heute ohne Vergleich ist. Evelyn Lear sang mit der hinreißenden Intensität, die sie stets für ungewöhnliche, interessante Aufgaben aufbringt, die Sopranpartie. Sona Cervena und Andor Kaposy gaben den Mittelstimmen des Quartetts Glanz und Wärme. Der St. Hedwigs-Kathedralchor, in den Frauenstimmen durch Sängerinnen des RIAS-Kammerchors verstärkt, war hier auf seinem eigentlichen Gebiete. Die Klangfülle der palestrinensisch wohllautenden, harmonisch ungemein komplizierten Chöre wurde rein und strahlend intoniert, die Schlußfuge "Christus vincit" hatte die begeisternde Wirkung, die nur Überzeugung verleihen kann. Die Rehabilitierung des Komponisten Franz Liszt, der schönste Erfolg, den das Gedenkjahr bewirken konnte – hier war sie gelungen.
Werner Oehlmann
Der Tag, Berlin, 6. März 1962
Weltkind und Gottsucher
Liszts "Christus"-Oratorium im Großen Sendesaal des SFB
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Wie steht es aber um den Kirchenmusiker Liszt?
Auf diese Frage gab eine Berliner Aufführung des Oratoriums "Christus" Antwort, an der das Radio-Symphonie-Orchester und der Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale beteiligt waren, dem sich vier hervorragende Gesangsolisten beigesellten. [...]
In der Musik des "Christus" lebt – echt lisztisch! – gregorianische Einfachheit neben rauschender "neudeutscher" Farbenpracht, schlichte Ergebung neben verzückter Schwärmerei. Die als antiphonisches Graduale gestalteten "Seligpreisungen" der Bergpredigt hat der Komponist in den Mittelpunkt eines dreiteiligen Oratoriums gestellt, das Leben und Wirken Christi von der Verkündigung bis zur Auferstehung schildert. Es sind weniger die breit angelegten Orchestersätze, die Ausmalung des Weihnachtsgeschehens, der Hirtenszene, des Marsches der drei Könige, des Sturmes auf dem See, des Einzuges in Jerusalem und so weiter, die uns heute fesseln, als die von der heiligen Ergriffenheit des Gottsuchers zeugenden, zum Teil unbegleiteten chorischen und solistischen "neugregorianischen" Teile seines Werkes: zum Beispiel die altertümlich schlichten Sätze der Weihnachtsmusik, die pathetisch gesteigerten "Seligpreisungen", die Passions- und Auferstehungsmusik des dritten Teiles mit dem ekstatisch sich aufschwingenden "Stabat mater dolorosa". Hier beugen wir uns auch heute noch vor der Größe des Komponisten Liszt.
Obschon Orchester, Chor und Solisten in bester Verfassung waren, sich bereitwillig einsetzten und dem Dirigenten jeden Wunsch erfüllt hätten, ließ die von Antal Dorati geleitete Aufführung doch manches von jener Genauigkeit, jener Ausdrucksbestimmtheit und jenem Schwung des Vortrags vermissen, die man sich hier wünscht. Gewisse Längen und Plattheiten der Lisztschen Musik hätten nicht so stark in Erscheinung zu treten brauchen, wie es unter Dorati der Fall war. Es war nicht nur seine unklare, zittrige Zeichengebung, die sich hier störend bemerkbar machte, es war auch sein Unvermögen, den großen Zug der Lisztschen Musik, ihre schwärmerische Gotterfülltheit bis ins Letzte hinein zu verdeutlichen.
Aber auch so wirkte Liszts Oratorium noch stark, und neben dem Orchester und dem Chor sind auch die Solisten zu rühmen: Evelyn Lear, Sona Cervena, Andor Kaposy und voran Dietrich Fischer-Dieskau, der die Seligpreisungen und das "Tristis est" der Passion erschütternd eindringlich sang.
Erwin Kroll