Zur Oper am 26. Juli 1962 in Salzburg

    

     Süddeutsche  Zeitung, 29. Juli  1962     

    

Spiel im Schloß als Welttheater

Eröffnung der Salzburger Festspiele mit G. R. Sellners "Figaro"-Inszenierung

   

Die scheinbar so revolutionär gestimmte Figaro-Welt, in der ein singender Jakobiner, einstweilen noch als Kammerdiener tätig, das Recht auf den Alleinbesitz seiner Verlobten und alsbaldigen Gattin geltend macht, kennt in Wahrheit keine Wände – beziehungsweise nur spanische. Wenn man sich auch nur ein Stündchen auf dem Landgut des Grafen Almaviva aufgehalten hat, dann traut man keinem Vorhang, keinem Vorsprung mehr. Bestimmt wird sich jemand dahinter verbergen und lauschen; wahrscheinlich verkleidet oder maskiert. Diese spanischen Wände nun sind "durchlässig" nicht nur im Sinne schlechten Isolierens. Obwohl nämlich bei Beaumarchais und Da Ponte – Mozarts glänzenden Textlieferanten – viel von "Klassenunterschieden" die Rede ist, gehören die Hauptpersonen des "Figaro" auffallend eng zusammen. Alle könnten mit allen verwandt sein, es zumindest mit allen "treiben". Wäre Figaro der uneheliche Sohn des Grafen oder ein vermißter Onkel der Gräfin, man würde sich nicht wundern. Dem Kombinationssinn sind keine Grenzen gesetzt. Im Don Giovanni etwa besteht zwischen den einfachen Leuten, den besseren Ständen, den Guten und den Bösen eine deutliche Kluft. Mozart macht sie im ersten Finale musikalisch – stilistisch und der Tonartenfolge nach – kenntlich. (Masetto hat mit Don Ottavio so wenig zu tun wie mit Don Giovanni; vom Papageno führt in der "Zauberflöte" keine Brücke zu Sarastro oder der sternenflammenden Königin.) Im Figaro jedoch überspringen die Menschen die Mode. Sie unterscheiden sich nicht nach Extremen, sondern nach Nuancen.

Das hat wichtige Interpretations-Konsequenzen. Nicht Riesengegensätze sind da zu unterstreichen, sondern schmale Unterschiede auf einer Ebene wollen sinnfällig gemacht werden. (Die alle krassen Kontraste meidende Harmonie der Figaro-Musik symbolisiert diese Seelenverwandtschaften.)

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Aber nicht nur diese Vielfalt auf engstem Raum, nicht nur der Umstand, daß Figaros böse Gegenspieler in Wahrheit seine rührenden Eltern sind, ist zu bewältigen, sondern etwas noch Schwereres. Mozart war kein Gefangener seiner Libretti. Die Musik sagt keineswegs immer dasselbe wie der Text. Denn die Frage etwa, ob sich ein sentimentaler Page oder eine kokette Zofe verlegenheitshalber im Schlafzimmer der Gräfin versteckt hatte, ist ja gar nicht so schrecklich interessant – und die Klärung des Sachverhalts würde keineswegs alle Opernfreunde über Kontinente und Zeiten hinweg zu Mozart ziehen. Mozarts Musik will mehr wissen, als wer sich wo versteckt und wie verkleidet hat. Wenn – belastenden, schlau kaschierten Umständen zum Trotz – die wahre Unschuld der Gräfin zutage tritt, dann triumphiert im Namen der innigen Erlöstheit dieser Musik nicht nur Susannas Zofen-Witz. Die Töne wissen es besser: sie sagen, daß die Welt sinnvoll geordnet sei. Denn Mozarts spielerische Inbrunst hatte keineswegs nach Alkovenzufällen gefragt, sondern nach höherer Gerechtigkeit. Und sie zum Schluß hergestellt.

Es ist schwer, musikalische Vielfalt auf engstem Raum zu realisieren. So riskiert Mozart beispielsweise am Anfang der Oper zwei Allegro-Duette nacheinander. Aber im ersten Duett herrscht die wolkenlose G-Dur-Heiterkeit ausführlicher Hochzeitsvorbereitungen. (Susanne setzt den Hut auf, Figaro das Ehebett zusammen.) Im zweiten Duett geht’s lustig plaudernd weiter. Doch plötzlich, während Susanne die Begehrlichkeiten des Grafen andeutet, lenkt die Musik nach g-Moll, und zwar so selbstverständlich, daß selbst Figaro es nur langsam kapiert. Sogleich wird ein ausdrucksvoller Höhepunkt erreicht; am Schluß ist man dann wieder in elegantem Dur. Heinz Wallberg, der die Salzburger Eröffnungspremiere dirigierte, hatte für solche Nuancen wenig Sinn. Er dirigierte so, als sei Mozart ein Strawinsky des 18. Jahrhunderts gewesen: ein lebhafter, klirrender Sforzatoklassizist. Viele Steigerungen jedoch legte er mit Verdi-Wucht an. Dabei entstand fesselnde Musik, die Geigen funkelten, Mozarts unvergleichlich heller Satz triumphierte, wo Holz und Streicher sich gegenseitig Lichter aufsetzen, von keiner Blechfinsternis umdüstert.

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Den Wiener Philharmonikern braucht man Mozarts – sonst verlorengegangene – Selbstverständlichkeiten wahrlich nicht umständlich vorzudirigieren. Dennoch tat Wallberg allzuwenig. Er gab nur die Tempi "heizte nur an", aber er modulierte die Linien nicht hinreichend. Vor der Mozartschen Riesenschwierigkeit, daß man einerseits nie das Allegro sentimental musikpsychologisch auflösen, andererseits die Sechzehntel und die Melodien nie bloß so vor sich hin laufen lassen darf, kapitulierte Wallberg in Toscanini-Richtung zugunsten des Con brio, des Tempos, des Taktierens. Da war Feuer, aber wenig Innigkeit. Das rührende Vorspiel zur Kavatine der Gräfin, die mit leisen Schritten sich hineinschleichenden harmonischen Wunder des zweiten Finales, das a-Moll/C-Dur-Vexierspiel zwischen dem Grafen und Susanne zu Beginn des dritten Aktes: dergleichen (und manche Übergänge) könnte noch viel bestimmter, formulierter, kurz: musikalischer sein. Eben weil im Figaro die Welt auf die einzige Ebene Schloßkomödie gebracht scheint, darf der Dirigent dem Feuer, der Lustbarkeit des (von Wallberg oft hinreißend entfesselten) Funkelns, nicht einen Schatten, nicht eine Nuance opfern.

So blieben die Sänger und Sängerinnen mehr dem Regisseur Gustav Rudolf Sellner als ihrem Dirigenten überlassen. Sellner, der früher dazu neigte, lieber die Szenenanweisungen bombastisch, als den Text eines Stückes eindringlich zu inszenieren, bot im Salzburger Figaro eine intelligente Meisterleistung. Man kann sich gewiß manches anders vorstellen und manches – zum Beispiel das Stierkampf-Ballett im Marsch-Finale des III. Aktes (originelle Einstudierung: Deryk Mendel) – outriert finden, aber es ist für mich jenseits allen Zweifels, daß Sellner – was die Logik, die Fülle einleuchtender Einfälle, die Vermeidung banaler Operngestik betrifft – sich in die Reihe großer Opernregisseure hineininszeniert und mit seinem Salzburger Figaro oft Felsenstein-Format erreicht hat. (Sellner, Felsenstein, Schuh, Rennert: sie haben alle schon jahrelang in München keine Opern mehr inszeniert – oder nie! So kommt es, daß wir Münchner vom erfreulichen Stande großer zeitgenössischer Opernregie wenig merken. Man muß sich in dieser Hinsicht hier damit begnügen, entweder zu reisen oder lange Kritiken aus Salzburg, beziehungsweise Hamburg, zu lesen.)

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Aus Salzburg also wäre zu melden, daß Sellner Stanislawskys schwere Regieforderung erfüllte, laut welcher das Publikum in einer guten Inszenierung nach einer halben Stunde auch dann den Fortgang der Handlung begreifen müsse, wenn es kein Wort mehr versteht. (Man sang italienisch.) Die beiden dazu notwendigen Voraussetzungen – Sinnfälligkeit und Selbstverständlichkeit – inszenierte Sellner auf glückliche, manchmal vielleicht etwas harte Weise. Er bot keine löcherige Symbol-Lotterie, wo sich jeder Mensch zu rätselhaften Bildern irgend etwas Passendes ausdenken darf, sondern er machte den Text lebendig. Lauter kleine, intelligente Handgriffe vermittelten großes Gelingen. Zum Beispiel: Der Dr. Bartolo (Oskar Czerwenka) und Marcelline (sehr fein: Patricia Johnson) wurden nicht "irgendwie" gerettet und mühsam plausibel gemacht. Sellner verwandelte die Intriganten in ein trockenes, betuliches Paar. Ältere Herrschaften, die schmalzig wie Mitglieder eines provinziellen Gesangvereins ihren jeweiligen Affekten lebten. Die Schmiere, die Oskar Czerwenka ein bißchen machte, hatte so System. Statt sie ganz zu verbieten (wenn das möglich ist...) nutzte Sellner sie aus. Oder: Figaro inszenierte mit viel Geschick den ironischen Auftritt des Bauernchors, der den darob verärgerten Grafen auf die von ihm proklamierte Tugend festlegt. Aber der Graf sucht doch noch Ausflucht. Figaro zeigt grimmige Entmutigung – bei der Wiederholung leitet Bartolo schadenfroh den (Spott-)Chor. Der arme Cherubin ist an der vielleicht grausamsten Stelle dieser Oper – wenn Figaro ihm boshaft die Lasten des Soldatenlebens ausmalt – derart verwirrt, daß er sogar selbst an den Kommiß zu glauben beginnt und, Figaros Spott nicht bemerkend, vergnügt vormilitärische Allüren annimmt. Wie würden sie ihm vergehen... Glänzend und selbstverständlich liefen die Finales ab. Die sich überkreuzenden Intrigen, das Weiterflüstern lebenswichtiger Details an Figaro, die Ohrfeige, die dem einen gilt und den andern trifft – solche holden Unwahrscheinlichkeiten der Oper hat Sellner samt und sonders in ungezwungene Bewegungsabläufe verwandelt, manchmal fast pedantisch realistisch. Aber das ist wahrlich besser als der gedankenlos alberne Schlendrian, den man sich sonst gern in Buffo-Komödien leistet.

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Als Almaviva hatte Sellner Dietrich Fischer-Dieskau. Er nahm den weltberühmten Sänger, der bekanntlich auch ein trefflicher, temperamentvoller Schauspieler ist, nicht als spanisch-schwarzen Grafen, als hochmütig lateinischen Edelmann, als Verwandten Don Juans. Fischer-Dieskau war vielmehr ein romantischer Graf mit offenem Gesicht. Ein verheirateter deutscher Jüngling mit Reitpeitsche. Blonde Bestie mit großer Stimme. So wäre Scarpia, wenn Kleist das Tosca-Textbuch geschrieben hätte. Schön und hochmütig und ohne Süden. Fischer-Dieskau sang die große Selbstdarstellungsarie des Grafen im dritten Akt voluminös, voller Ausbrüche. Mir schien, als stelle sich das Volumen der Stimme nicht so selbstverständlich her, wie sonst - ganz abgesehen davon, daß Fischer-Dieskau sich da gar nicht erst mühte, "Mozart" zu singen. Er sang Pizzaro aus Fidelio und hatte Riesenerfolg. Daß er seinen Piano-Charme gleichwohl einzusetzen wußte, versteht sich bei einem solchen Künstler von selbst - wie wir überhaupt bei der ganzen Figaro-Aufführung, die musikalisch und inszenatorisch deutlich über dem stand, was etwa deutsche Großstädte fertig bringen, die allerhöchsten Maßstäbe anlegen.

Die Gräfin, dem Textbuch (nicht der Musik!) nach, eigentlich auch eine Kokette, besaß tiefen Ernst. Sena Jurinac sprengte in ihrer Es-Dur-Kavatine fast die Buffo-Grenze, sang schön und seelenvoll. Leider gelangen ihr Rezitativ und Arie im dritten Akt nicht so vollendet. Das strahlende hohe A, zweimaliger Kraftpunkt am Schluß (wieder zeigt sich hier die Nuance auf engem Raum; statt des Dreiklang-G, das man vom C-Dur aus erwartet, schreibt Mozart die 6. Stufe, hat plötzlich a-Moll und macht aus dem Übergang zum G über As eine gewaltige Entladung) klang schrill, und auch die schweren Allegro-Achtel verrieten einige Nervosität. Dennoch wird Frau Jurinac bei günstiger Disposition eine ergreifende Gräfin der deutschen Opernbühnen sein.

Der Cherubin war eben noch in Wien Lulu gewesen (Evelyn Lear). Trotzdem kam es in Anlage, Typ und Kostüm zu einer Ideal-Besetzung. Nur muß die Stimme noch an Süße gewinnen, an Sehnsucht, an Traum. Und wenn man sich vornimmt, die Glanzstücke der Rolle ganz aus der Handlung hervorwachsen zu lassen, dann muß der Dirigent höllisch aufpassen, sonst wird die Allegro-Vivace-Arie wackeln. (Überhaupt begleitete Wallberg gerade Frau Lear immer ein wenig gegen den Strich. Man spürte, wo sie Ritardandi wollte und wo das Orchester sie eigentlich nicht wollte, aber in den folgenden Aufführungen dürfte sich das geben.)

Figaro sah aus wie ein Jakobiner. Ein Revoluzzer, der sich über die Vornehmen ärgert, schlappe Proletarier jedoch, wie etwa den beflissenen Gärtner Antonio, der sich immer auf seiten des Grafen stellt (gut und präzise: Siegfried Rudolf Frese) geradezu haßt. Geraint Evans war ein fast perfekter Figaro. Nun wird Figaro zwar immer ein hoher Baß sein, jedoch auf alle Fälle ein Baß. Daran fehlte es noch ein wenig. Der vorzügliche Sänger war in der Höhe weit stärker als in der Tiefe.

Das mag den Ensemble-Klang ein wenig gefährdet haben, denn die entzückende Susanne der Grazielle Sciutti war wiederum in der Höhe nicht strahlend genug. Sie blieb Despina, hatte nur Susannens Koketterie, aber nicht deren Herz, das Mozart mit wunderbar leuchtenden Achteln etwa im Sextett des dritten Aktes zeigt. Zu leicht, zu schnippisch – was Sellner übrigens glänzend ausnutzte, indem er aus dem Briefduett, wo Susanne und die Gräfin wörtlich dasselbe singen, eine Charakter-Variation machte.

Der tolle Tag spielte in Michael Raffaellis klug abstrahiertem Bühnenbild. (Nie war es karg, aber nie auch Rokoko-Kitsch. Weil der Garten bei der "Bäumchen-wechsle-dich"-Szene des letzten Aktes in entschlossenem Dunkel gemalt war, konnte man die Spielfläche beleuchten, und es blieb dennoch Nacht.) Ergreifend der Schluß: Alle knien vor dem Grafen, dem Mächtigen, und bitten ihn um Vergebung. Doch wie sich der Gräfin Unschuld herausstellt, stehen die Bittenden mit einem Male auf. Es ist wie eine Erhebung. Jetzt kniet der Graf, will Liebe und Verzeihen. Die Schwachen dürfen sie gewähren. Alle sind gerettet. Und in Mozarts Musik, am Schlusse des Figaro, darf die Menschheit für einen Augenblick aufatmen.

Joachim Kaiser

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     Münchner Abendzeitung, 28. Juli  1962     

  

"Figaro" - Eröffnungspremiere in Salzburg

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Neigung für Angelsächsisches

Bei der Sängerbesetzung besteht eine Neigung für Angelsächsisches mit experimentellem Einschlag. So der Figaro selber, der Engländer Geraint Evans, der die Partie gesanglich saftig mit revolutionär-aggressivem Einschlag gab. Weiterhin die spielbegabte, stimmlich gut geschulte Amerikanerin Evelyn Lear als Cherubin und die charakteristisch gezeichnete Marcellina Patricia Johnsons. Fischer-Dieskau gibt seinem Almaviva mehr den egozentrischen Aplomb des Feudalherren, als die Eleganz des aristokratischen Diplomaten, gestaltet und singt mit der ihm eignen Überlegenheit. Sena Jurinacs Gräfin besann sich erst im dritten Akt bei den beiden Arien auf die ganze Fülle ihrer strahlenden gesanglichen Gaben. Eine vollkommene Delikatesse für Aug und Ohr ist Graziella Sciuttis Susanna, in deren Rosenarie die Töne zu duften schienen. Ein Kabinettstück der falschen Wahrheiten und wahren Falschheiten ist John van Kesterens maliziöser Basilio.

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Antonio Mingotti


    

     Salzburger Nachrichten, Datum unbekannt     

    

Zur neuen Hochzeit eines Werkes

   

Die Eröffnungspremiere am Donnerstag abend war als die etwa neunzigste Fetspielaufführung des "Figaro" in Salzburg zu zählen. Der Regisseur ist der zehnte seines Zeichens, der berufen wurde, eine Neuinszenierung des Werkes zu schaffen. Ort und Zeit der Bewährung: Mozart-Stadt Salzburg, Festspiele 1962.

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Gustav Rudolf Sellner, der Intendant der neuen Deutschen Oper Berlin, führt zum erstenmal in Salzburg Regie, und man könnte auch nicht sagen, daß seine Mozart-Erfahrung vergleichsweise groß sei. Er brachte zugleich den Meister des Bühnenbilds und der Kostüme für sein Figaro-Debut bei den Festspielen mit, den Italiener Michael Raffaelli. Die beiden Künstler bestimmten offenbar eindeutig gemeinsam die dramaturgisch-optische Gestaltung der von Heinz Wallberg dirigierten Aufführung.

Das Konzept Sellner-Raffaelli ist neu, wohl nicht in der Idee, aber in der sichtbaren Folgerung. Es zeigt vor allem den Versuch, die mozartische Durchsichtigkeit der Musik in einer äußeren Transparenz der Bühnenräume wiederkehren zu lassen. Die Form der Kastenbühne ist aufgegeben, als freistehende Aufbauten erscheinen schwarze oder schwarz-goldene Gitterwände, die gleichsam nur als graphisch schraffierte Raster einen imaginären, größeren Spielraum zu gliedern haben, ohne seine Teile voreinander abzuschließen. Man denkt unwillkürlich an die ähnliche, vielschichtige Offenheit der musikalischen Werkgestalt und begreift, worauf es der szenisch-bildlichen Planung ankam: die Fäden der Charakterkomödie, wie sie die Partitur in ihrer figurativen Diktion entspinnt und im Gegenzug der Ostinati dramatisch verdichtet, so daß wir das Kommende im Hell-Dunkel-Kontrast voraushören – die "Vendetta" des Intriganten Bartolo, das herrische Wagnis des Tänzchens, dem Figaro Paroli bietet, das lange rumorende Gärtner-Intermezzo, ehe es zu dem Auftritt kommt, - als eine völlig durchschaubare Ordnung von Spiel und Gegenspiel auch dem Auge präsent zu halten. Wenn also Türen aufgehen, ist es derselbe Vorgang, wie im offenen Buch der Partitur: zwei Zeilen, die gleichzeitig gelesen werden, das Drinnen und Draußen als ein absoluter Zusammenhang.

Und dem nämlichen musikalischen Aspekt des Ablaufs ist die ganze Logik der szenischen Entfaltung verpflichtet, wie sie Sellners Regie verstanden wissen will. Daß sie dieses Verständnis im großen und ganzen mühelos erzielt, daß der Zuschauer keineswegs durch abstrakte Kombinationen des geistreichen Vergnügens dieser Methode müde wird, sondern spontan daraus Nutzen zu ziehen lernt, ist die unbestreitbar hohe Leistung des neuen Salzburger "Figaro". Sie erreicht im wesentlichen genau, was sie anstrebt: die denkbar größte Klarheit jener Art, die als Meister ohnegleichen Mozart selbst in seiner Musik verwirklicht hat.

Die Parallelität ist übrigens noch weiter verfolgbar, wenn man die Wahl der Kostümfarben in ihrem harmonischen "Ensembleklang" als Ganzes gewertet sieht, darin wiederum die Charaktere sich durch Grundtöne ihrer Couleur voneinander abheben, während die wechselnden Verknüpfungen Amors jeweils in der Zweiheit gleicher Farbenmotive (Graf – Susanne, in diskreter Anspielung auch Gräfin – Cherubino) symbolisiert werden. Hier sei allgemein die liebenswürdige Sorgfalt des Kostümbildners noch besonders gerühmt, der es sich bei den Chören nicht mit der oft geübten Uniformität leicht machen wollte, sondern jeder einzelnen Figur eine selbständige Studie widmete. Das Kolorit wurde folgerichtig der spanischen Hof- und Volkstracht abgeschaut, so wie der Regisseur den Ort präzise auf den Zettel setzte: Schloß d’Aguas Frescas bei Sevilla, 18. Jahrhundert. Gemeint ist die Goya-Epoche; es herrscht die Tracht der Bundhose, der Mädchen mit Mantille und Kammhaube.

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Bei Heinz Wallberg, der anstelle des nach schwerer Krankheit nun genesenden Ferenc Fricsay als Dirigent der Eröffnungsoper gewonnen wurde und damit seinen ersten Mozart auf der Salzburger Bühne absolviert, ist zweierlei zu unterscheiden: die werk- und stilgerechte Anlage aller seiner Interpretationsmittel, die Richtigkeit der Tempi, das flüssige, nirgends romantisch oder effektbetont, aber auch nie zu trocken klingende Orchesterspiel, in dem die Wiener Philharmoniker ihr so persönlich-künstlerisches Idiom freudig vernehmen ließen, mit einem Wort: das hohe Mozart-Verständnis dieses Dirigenten und demgegenüber eine gewisse Zurückhaltung, was die unmittelbaren Dispositionen der Beziehung Bühne – Orchester betrifft. Hier liegen die Qualitäten Heinz Wallbergs vorderhand noch mehr beim begleitenden als beim imperativen Geben, ohne daß etwa deshalb die Ensembles hinter der ariosen Gestaltung stark zurückfielen; aber der kongeniale Aufbau eines Mozartschen Finales, zumal dieser vielstimmigen Vokalsätze der Charakterfiguren im "Figaro", oder auch die glücklich genaue Ausformung und Balance der Sekkorezitative, das sind wohl Trümpfe, die erst auf dem Gipfel greifbar werden.

Ein Urteil über die Sängerdarsteller könnte in der Schwebe bleiben zwischen Galanterie und Kritik, wenn dies bei höchsten Maßstäben erlaubt wäre. So aber nennen wir diesmal mit Recht die Herren zunächst: Sie waren nicht nur dramaturgisch die Säulen dieser Premiere. Dietrich Fischer-Dieskaus Graf gewinnt in dem standesmäßig zugespitzten Herrenverhältnis zu dem leidenschaftlich erlebten, aufbegehrenden Diener Figaro von Geraint Evans eine Position, die den erotischen Spieler mit doppelter Ambition auflädt. Ohne sie je ins Maßlose aufzusprengen, entfaltet sich sein registerreiches Temperament und darf in der als großer Monolog angelegten Rachearie des Padrone ein gesangliches Feuer entzünden, das über der ganzen, hochgespannten Commedia als unauslöschlicher Eindruck wetterleuchtet. Wenn man Gesang und Gestaltung des großartigen neuen Figaro Geraint Evans’ neben ihn stellt, sind Volumen und Rang beider Leistungen definiert. Von gleichem Schlage war der schiefköpfig lauernde, parfümiert-naive Ränkemeister Don Basilio, den John van Kesteren auch musikalisch mit feinsten Gaben auszeichnete. Die Gräfin, von Sena Jurinac eher gemüthaft vollblütig als sensibel gezeichnet, und die von Graziella Sciutti herzhaft intelligent angelegte, eigentlich lyrisch temperierte Partie der Susanne erreichten beide gesanglich ein sehr respektables Format. Der Cherubino, dessen heller, nobel kultivierter Sopran sich in der Interpretation Evelyn Lears glücklich bewährte, war als Figur von hohem Reiz.

Das Paar Marcellina – Bartolo wurde von Patricia Johnson (anfänglich etwas gehemmt) und von Oskar Czerwenka trefflich charakterisiert. Die Episodenfiguren der Barbarina (Elfriede Pfleger), des Gärtners (S. R. Freese) und des Don Curzio (Martin Vantin) waren der Aufführung ein klarer Gewinn. Als Brautjungfern erschienen Margaret Nessel und Evelyn La Bruce in dem anspruchsvollen Rahmen berufen. Der Staatsopernchor und der von Deryk Mendel als beziehungsreicher Aperçu der Handlung einstudierte Fandango dienten dem künstlerischen Glanz der Festspielinszenierung. Sie wird als ein bedeutender Schritt in eine neue Richtung zu werten sein, wenn die Aufführungstradition konsequent zu einer neuen Hochzeit dieses Meisterwerkes führen soll.

Max Kaindl-Hönig


   

     Abendpost, München, Datum unbekannt     

    

Eröffnung in Salzburg

Warum macht niemand die Türen zu?

"Figaros Hochzeit" ohne Festspiel-Niveau

   

Nach einem heißen Sommertag gab es kurz vor der Eröffnungsvorstellung der diesjährigen Salzburger Festspiele mit Mozarts "Figaros Hochzeit" ein fürchterliches Gewitter mit anschließendem Schnürlregen: kein gutes Omen für den ersten Abend, zu dem man eher schwimmen als gehen mußte. Und wahrhaftig: die erste Vorstellung hatte auch sonst keinen allzu günstigen Stern über sich stehen. Trotz der großen Solistennamen kam eine Premiere zustande, die alles andere als Festspiel-Niveau hatte.

Für die Inszenierung hatte man den Berliner Opernintendanten Gustav Rudolf Sellner verpflichtet, der sich jedoch kaum einmal von den üblichen Inszenierungsformen der Mozart-Konvention löste.

Schließlich ist es doch völlig gleichgültig, ob die Gräfin ihre erste Arie am Toilettentisch sitzend oder irgendwo in Rampennähe stehend singt. Ebenso bedeutungslos ist es, ob Cherubin sich links oder rechts im Sessel unter einem Kleid der Gräfin, das Susanne vorher dorthin praktiziert hat, versteckt.

Unfaßbar dagegen erscheint es, daß der kleine Schürzenjäger nicht sofort durch die türlose Wand abhaut, wenn der Graf das Zimmer betritt. Stets offene Türen, die kein Mensch beim Auftreten oder Abgehen zumacht, halten wir auch nicht für einen besonderen Genieregieblitz.

Natürlich hat Sellner auch ein paar sehr hübsche situationskomische Momente geschaffen – aber sie alle sind irgendwann oder irgendwo schon mal gemacht worden.

Michael Raffaelli hat hauchzarte, fast ein wenig zu prätentiöse Bühnenbilder gebaut – durchsichtige Wände sind allerdings bei einer Überraschungskomödie nicht gerade am Platze – und den singenden Menschen entzückende Kostüme angezogen. Die ganze Eleganz der Mozartschen Partitur ist in dieser grazilen Ausstattung eingefangen.

In völligem Gegensatz zu dieser optischen Leichtigkeit deutet Hans Wallberg mit den trotzdem herrlich musizierenden Wiener Philharmonikern die Partitur aus. Da ist alles grob, derb, hart, laut, wie mit dem Holzhammer gemeißelt. Nirgends und keinen Augenblick ist der Geist des genius loci zu spüren.

Auch auf der Bühne geht es unentwegt laut zu. Dietrich Fischer-Dieskau singt mit Wagnerischer Stimmvehemenz einen bösartigen, ewig polternden Grafen und Sena Jurinac gibt ihren beiden großen Arien der Gräfin Lautstärken mit, die man im Rundfunk als übersteuert abdämpfen würde.

Dagegen wieder ist die an sich süße und liebliche Stimme Evelyn Lears selbst für das relativ kleine alte Festspielhaus zu dünn, um wirklich gefangenzunehmen. Reizend spielt und singt Graziella Sciutti ihre schelmische Susanne, während Geraint Evans dem Figaro einen mannhaft kräftigen Bariton und ein klug disponiertes Spiel gibt.

Alles in allem kein sehr glücklicher Abend für die Eröffnung eines so anspruchsvollen Festivals wie es die Salzburger Festspiele nun einmal sind. Der begeisterte Applaus nach jeder Arie, an den Aktschlüssen und am Ende der Oper ist dem Referenten nicht recht verständlich.

Willy Werner Göttig


    

     Die Welt, 29. Juli 1962     

    

Zwiespältiger "Figaro"

Sellners Mozart-Inszenierung eröffnete die Salzburger Festspiele

    

Der Himmel hatte es gnädig gemeint, Blitz und Donner und strömender Regen kamen höflicherweise so rechtzeitig, daß die Besucher fast schon wieder trockenen Fußes und jedenfalls merklich erfrischt nach dem heißesten Tag dieses Sommers in die Premiere von "Figaros Hochzeit" gelangten, mit der die Salzburger Festspiele dieses Jahres eröffnet wurden.

Ein reinigendes Gewitter hatte mancher Festspielgast vielleicht auch von der Aufführung erwartet, nachdem Rennerts Salzburger Inszenierung, in der das Werk zuletzt gezeigt wurde, durch häufigen Wechsel in der Besetzung schon merklich gelitten hatte und relativ schnell gealtert war. Die jetzige Neuinszenierung in italienischer Sprache hatte Gustav Rudolf Sellner übernommen, der neue Intendant der Deutschen Oper Berlin, der damit zum ersten Mal in Salzburg Opernregie führte.

Der Rückgriff auf den Originaltext, den Salzburg jetzt zum Prinzip erhebt, mag auch dadurch mit bedingt sein, daß die internationale Starbesetzung eine einheitliche Verständigung und vollgültige Realisierung in deutscher Sprache heute nicht mehr gewährleistet. In jedem Fall ist damit eine Voraussetzung für größere Treue der musikalischen Wiedergabe erfüllt. Darin liegt zugleich ein künstlerisches Programm. Die Handlung wird als allgemein bekannt vorausgesetzt; nicht sie als szenischen Eigenwert zu interpretieren, sondern sie aus den Stilgesetzen der Partitur zu entwickeln und mit der Musik in Einklang zu halten, ist die wichtigste Aufgabe des Regisseurs.

In diesem Sinne hatte Sellner in Berlin "Die Entführung aus dem Serail" inszeniert und damit den Glückstreffer einer ebenso behutsamen wie lebendigen Schauspielregie in der Oper getan. "Figaros Hochzeit" ist nicht ganz so überzeugend gelungen. Sei es, daß der Regisseur irrigerweise annahm, da italienisch gesungen werde, müsse er nun erst recht die Handlung deutlich ausspielen, oder sei es, daß er diesmal den unmittelbaren Zugang zu Mozarts musikdramatischer Stilform nicht gleich fand – dieser Aufführung fehlte die einheitliche und einleuchtende Regie-Konzeption.

Sie setzte sich aus vielen fesselnden Einzelzügen zusammen, aber sie ergaben kein organisches Ganzes, da sie untereinander zu stark kontrastierten. Auf der einen Seite führte das Streben nach Verdeutlichung zu einer szenischen Realistik, die im Gegensatz stand zum musikalischen Stilisierungsprinzip. Auf der anderen Seite war der Versuch, das heiter-verliebte Intrigenspiel der Musikkomödie mit dem sozial-revolutionären Aspekt von Beaumarchais’ bissigem Lustspiel zu verbinden, die Musik transparent werden zu lassen, ihre Doppelbödigkeit sichtbar, ihr unterirdisches Grollen vernehmlich zu machen, mit so viel Aufwand an Phantasie und Intelligenz unternommen, daß damit nun wieder die naive (und vergleichsweise konventionelle) Direktheit mancher drastischen Szenen nicht in Einklang zu bringen war.

Am überlegensten entfaltete sich die Kunst des Regisseurs in der nächtlichen Maskerade des (musikalisch allerdings arg reduzierten) zweiten Aktes, wobei auch das aus leichtem Gestänge locker und durchsichtig gefügte, dezent spanisch kolorierte Bühnenbild Michael Raffaellis reizvoll mitspielte.

Merkwürdig ungleich war die Besetzung der Partien und die Führung der singenden Darsteller. Weit in den Vordergrund rückte der ungemein temperamentvolle und vitale Graf Almaviva von Dietrich Fischer-Dieskau: eine vollsaftige Barockfigur, ein Vorfahre Falstaffs und des Ochs von Lerchenau, dabei aber so realistisch ausgespielt (und teilweise auch gesungen), daß man bei aller Bewunderung für die darstellerische Wandlungsfähigkeit und die Stimmkunst dieses Sängers zeitweilig Mozart dem Verismus angenähert fand.

Demgegenüber war die Figur der Gräfin auffallend neutral angelegt. Sena Jurinac, diese großartige Darstellerin, wirkte als reife Matrone, die den Schmerz über den treulosen Gatten ohne tiefere Beziehung zur dramatischen Gesamtkonzeption ganz "italienisch" an der Rampe zu singen hatte, in der C-Dur-Arie aber, die stimmlich mehr Schmelz und leichtere Intonation fordert, zum heroischen Format fast einer "Fidelio"-Leonore aufragte. Erst ganz zum Schluß erwachte die rokokohaft-sinnenfrohe Bereitschaft, auf das Intrigenspiel einzugehen.

Es war Graziella Sciutti als Susanne, die mit der natürlichen Anmut, der unprätentiösen und dennoch genau bemessenen Schlichtheit ihres frischen Spiels und der ebenso klaren wie dezenten Intonation ihres schlanken Soprans in dieser Aufführung echten Mozartstil repräsentierte. Für die wärmeren, tieferen Schwingungen der Garten-Arie reicht ihre Stimme heute noch nicht ganz aus. Doch war auch hier der Charakter der Partie musikalisch sicher präzisiert.

Ähnliches läßt sich nur noch von dem Figaro Geraint Evans sagen: einem Künstler, dem es gegeben ist, mit jedem Auftreten sofort dramatische Spannung um sich herum zu verbreiten, und der mit seiner stimmlichen Kultur und musikalischen Intelligenz die Maßstäbe für eine verbindliche Mozart-Interpretation schafft. Sein geschmeidiger, doch männlich kraftvoller Figaro bleibt auch da, wo er die "Menschenrechte" proklamiert, der aristokratische Vertreter des neuen "Dritten Standes".

Als Cherubino hatte es Evelyn Lear mit routiniertem, artistisch kühlem Sopran nicht ganz leicht, den Pubertätskomplex des Pagen musikalisch glaubhaft zu realisieren. Mit den Randfiguren der Marcellina (Patricia Johnson), des Dr. Bartolo (Oskar Czerwenka) und des Basilio (John van Kesteren) suchte der Regisseur den Geist der Commedia dell’arte heraufzubeschwören. Die Szene des Gärtners (Siegfried Rudolf Frese) wirkte allzu naturalistisch und hemmte so den Fluß des ersten Finales.

Aber das fällt auch unter die Verantwortung des Dirigenten. Heinz Wallberg, der in Vertretung des langsam wieder genesenden Ferenc Fricsay die musikalische Leitung des Abends übernommen hatte, dirigierte zwar klar und zügig, aber auch reichlich trocken, ohne das zündende Brio und die schwingende Atmosphäre Mozarts recht zu treffen. Angesichts des wenig differenzierten Orchesterklangs fragte man sich zuweilen, ob es wirklich die Wiener Philharmoniker waren, die da musizierten.

Heinz Joachim


    

     Salzburger Volksblatt, 28. Juli 1962     

    

"Figaro" macht Revolution

Eröffnung der Festspiele 1962 im alten Haus

    

Die Überraschung ist geglückt. Salzburg hat seinen Gästen zur Festspieleröffnung 1962 einen neuartigen "Figaro" präsentiert und insgesamt viel Beifallsdank empfangen. Das Publikum war zum Teil begeistert von der Idee dieser Neuinszenierung, zum Teil zwar nicht unbedingt erfreut, aber doch lebhaft interessiert. Daß die scharf ablehnenden Stimmen nicht fehlten, wird der Diskussion um den neuen Salzburger "Figaro" Würze und Dauer geben.

[...]

Sagen wir’s klar in einem Satz: Mozarts Oper "Die Hochzeit des Figaro" (natürlich italienisch gesungen) wird diesmal als Revolutionsoper interpretiert. – Wer mit uns Maestro Mozart als den Meister absoluter Harmonie verehrt, kann uns nicht mißverstehen. Die Musik ist voll heiterer Weisheit wie je. Doch die Akzente sind verschärft – und manchmal härter als nötig. Der Komödienton bleibt gewahrt, doch ist es jetzt eindeutig die Charakterkomödie – mit profiliert gegensätzlichen Charakteren. Regie und Bühnenbild betonen den Kontrapunkt: Hier geht es um den Kontrast zwischen dem Untergebenen und seinem Herrn, hier begehrt Figaro sein Recht gegenüber der Willkür des Grafen und ist zu gefährlichem Widerstand entschlossen. Zu dem Lied "Will der Herr Graf ein Tänzchen wagen... ich spiel ihm auf!" zückt Figaro einen spielerisch ergriffenen Holzstab, als wär’s der Degen eines Toreadors; und das Bühnenbild deutet das Gitterwerk eines armseligen Käfigs an, in dem das Dienerpaar Figaro-Susanna leben soll. Deutlicher noch ist manche Geste Figaros, wenn sie den Grafen zur Besinnung mahnt. Da geht es nicht mehr um Liebe und Eifersucht allein.

[...]

In der Titelpartie und in der Rolle des Grafen Almaviva entsprechen die Sänger-Darsteller vollkommen der Absicht dieser Neuinszenierung. Geraint Evans singt mit schwerem, starkem Baßbariton, der manchmal metallisch aufglänzt; geschmeidig aber sind die Rezitative. Mimik und Haltung sind ausdrucksvoll und wandlungsfähig genug; bald sehen wir den liebenswürdigen Figaro mit Spitzbubenlachen, bald den drohenden Rebellen. Dietrich Fischer-Dieskau, souveräner Graf, ist der herrliche Sänger und überzeugende Schauspieler wie stets: er versteht die dunkel aufflammende Gefahr und gelangt, durch Figaros, Susannens und der Gräfin fröhliches Ränkespiel klug geworden, beizeiten zur Besinnung – die Revolution findet (noch) nicht statt. Es wäre ja auch kein echter Mozart ohne Läuterung in Harmonie...

Die Damen – Gräfin und Susanna und in der Hosenrolle Cherubin – besitzen wundersame Sopranstimmen von eigentümlich herbem Timbre: Sena Jurinac (am Premierenabend etwas überanstrengt ) ist eine stolze Rosina, Graziella Sciutti eine temperamentsprühende Jungfer, Evelyn Lear ein betörend charmanter Page (Ach! Diese Canzonetta!). Neben ihnen bestehen im Ensemble Patricia Johnson (Marcellina), Oskar Czerwenka (Dr. Bartolo), John van Kesteren (Basilio) und Martin Vantin (Don Curzio) als ein Quintett, dem die Regie ein buffoneskes Agieren vorschrieb. Siegfried Rudolf Frese zeichnet treffsicher den Gärtner Antonio, Elfriede Pfleger ist eine sympathische Barbarina, Margaret Nessel und Evelyn La Bruce sind ein wunderhübsch singendes Brautjungfernpaar, dem der Chor der Wiener Staatsoper mit verjüngten Stimmen assistierte.

Der Beifall bezog alle Mitwirkenden ein, in erster Linie selbstverständlich auch die Wiener Philharmoniker. Der Dirigent Heinz Wallberg, der Regisseur Gustav Rudolf Sellner und der kühne junge Bühnen- und Kostümbilder Michael Raffaelli zeigten sich indessen nicht vor dem Vorhang. Sie hätten es ungefährdet tun dürfen. Sellners Regieführung hat überrascht, aber nicht schockiert. Raffaellis Kostümentwürfe in spanischem Rokoko konnten sehr gut gefallen. Daß der Picassoschüler Rück- und Seitenwände aus durchscheinendem Plexiglas auf die Bühne gestellt hatte, gehörte mit zur Überraschung des Abends; die Glaswände zeigen ein Gitterwerkmuster in Variation, z.B. mit vergoldetem Zierat für Boudoir und Festsaal, und mit Baumsilhouetten für die Gartenszene. Darüber schwebt trapezförmig oder oval ein angedeuteter Plafond, das Material ist bemaltes Glas, der Effekt der abstrakten Malerei an sich vorzüglich. Allerdings ist solch ein Deckenoval gewiß nicht das Ei des Kolumbus just für ein Mozart-Bühnenbild. Dennoch sind wir alles in allem einverstanden. Denn alles wirkt zusammen. Mozarts Werk in neuer Perspektive mit bedeutender Tiefenwirkung zu zeigen.

Dr. Hehn


    

     Münchner Merkur, 28. Juli 1962     

    

Figaro wird wieder revolutionär

    

Auf einen der strahlendsten und heißesten Sommertage, die wir in Salzburg erlebten, folgte abends die Taghelle von "Figaros Hochzeit" – glanzvoll eröffneten die Salzburger Festspiele mit Mozarts zeitnahester Oper. Und dem reinigenden Gewittersturm, der zu Beginn der Vorstellung über die Stadt hinwegging, entsprach das Wetterleuchten der Französischen Revolution, das in dieser denkwürdigen Aufführung die Szene merklich bestimmte.

Der Regisseur Gustav Rudolf Sellner greift hinein ins volle Bühnenleben, und wo er’s packt, ist’s – amüsant. Zu langweilen jedenfalls brauchte man sich an diesem Abend nicht.

Sellner ist nicht zimperlich, wenn es gilt, Türen knallen, Gegenstände fallen, Schlösser schnappen und die Szene sinnfällig werden zu lassen. In dieser Inszenierung gibt es keinen toten Punkt; sie ist äußerst sorgfältig und mit großer Konsequenz durchgearbeitet, reich an neuen Nuancen und durchblutet von einem kraftvollen dramatischen Atem.

Beaumarchais’ Geist, der Geist der politischen Satire, ist im Hintergrund stets gegenwärtig. Sellner scheut nicht vor kräftigen Realismen zurück; aber er bleibt im Stil, fällt nie aus der Gebundenheit Mozarts heraus. Selten sahen wir das Sichverstecken Cherubinos so witzig und zugleich so natürlich ausgespielt wie hier.

Welch ein Bühnentemperament ist doch diese Graziella Sciutti als Susanna! Da spiegeln sich tausend Ängste und Verlegenheiten in ihrer Mimik und Gestik, da schwingt ständig Koketterie und weibchenhafte Gefallsucht mit, da steht ein kapriziöses Persönchen vor uns, nicht gerade gemüthaft angelegt, aber von großer geistiger Beweglichkeit, mit ungezählten kleinen Kanten und Eigenwilligkeiten und zugleich von höchster Grazie und Liebenswürdigkeit. Die Aufführung erhält entscheidende Impulse vom Hall ihrer schillernden Schritte und von ihrem leichtfließenden Secco-Gezwitscher und Staccato-Geplapper.

Wenn Evelyn Lear die Bühne betritt, hat man den Eindruck, so und nicht anders muß Cherubino aussehen: eine Figur, die von allen Zaubern jugendlicher Empfindsamkeit umwoben ist, ein Spiel, in dem der ganze Überschwang dieses euphorischen Wesens zum Ausdruck kommt. Aber – war es Nervosität? – ihr Gesang wirkte zunächst merklich gehemmt und ihr Vortrag manieriert. Später festigt sich ihre Stimme, und sie wächst auch gesanglich mehr und mehr in die Aufführung hinein.

Sena Jurinac hat die herrliche, warme Gräfin-Stimme, die wunderbar strömt und quillt, und auch sie wird mehr denn sonst ins dramatische Geschehen mit hineingezogen, ohne dabei ihre Würde und die Gemessenheit der Bewegung, die dem Kostüm entspricht, zu vergessen.

Dietrich Fischer-Dieskau schreitet als Graf so lebendig durchs Stück, wie man es sich nur wünschen kann. Er zieht alle Register vom jovialen lebemännischen Ton bis zur nur mühsam verhüllten Brutalität. Dann ist er glaubhaft der gefürchtete Herr im Hause, dem kein Einsatz zu klein ist, wenn es sich um die Verwirklichung seiner Wünsche dreht.

Den Figaro gibt Geraint Evans mit klangvoller, männlicher Stimme und einer gewissen Schärfe der Diktion. Hier steht nicht so sehr ein Buffo, sondern mehr der um sein Recht kämpfende Bedienstete vor uns, den insgeheim Aufruhr treibt und der die Ahnung kommenden Umsturzes im Herzen trägt.

Meisterhaft trifft John van Kesteren den spitzen Intrigantenton des Musikmeisters Basilio. Diese ständig halb dümmlich, halb unverschämt lächelnd und auf dünnen Beinen gespreizt daherstelzende Figur hebt die Rolle weit über die übliche Beiläufigkeit hinaus. Oskar Czerwenka gibt den Bartolo mit wütender Verve, Patricia Johnson ist eine grotesk altjüngferliche und dann verstiegen mutterselige Marcellina, und Elfriede Pfleger besitzt als Barbarina den Vorzug der jugendlichen Stimme.

Als ein Dirigent, der anscheinend keine Beziehung zu Mozart hat, erweist sich Heinz Wallberg. Schon die Ouvertüre kommt starr und unlebendig, die Sforzati hart und ohne Schwung, das Ganze ohne Glanz und Feuer.

Gewiß, Wallberg ist eingesprungen; das bedeutet mildernde Umstände. Aber selbst als Ersatzdirigent ist er in der Eröffnungsvorstellung der Salzburger Festspiele fehl am Platz.

Helmut Schmidt-Garre


    

     Kurier, Wien, Datum unbekannt     

    

"Figaros Hochzeit" und die spanische Wand

Die erste Premiere der Festspiele:
Mozarts komische Oper in der Regie Gustav R. Sellners

    

Das Holzpodest mit den den Raum fixierenden Gitterwänden, spanischen Paravents in Zimmergröße sozusagen, das sinnvoll spärliche Mobiliar, die genau pointierte Farbgebung die Gitter entlang, und schließlich das Oval oder die Ellipse, die in kräftigerer Couleur über den Akteuren schwebend dafür sorgt, daß die Bäume (auch der Regie) nicht in den Himmel wachsen: das alles läßt keinen Zweifel daran zu, daß Figaro und Susanne diesmal auf einer Stilbühne heiraten.

Die Aufführung wird, wie so manches Neue, Ungewohnte, einige Gegner finden. Sie haben sich immerhin mit etwas Außergewöhnlichem zu befassen: mit der konsequenten Verwirklichung eines grundgescheiten Konzepts, das nicht dem schlechtesten Hirn entsprungen ist. Grund genug zur Freude, auch darüber, daß es Figaro nach zwei hinreißenden Ehen unter dem Regieszepter von Oscar Fritz Schuh und Günther Rennert nunmehr zu einer dritten, auch für das Publikum glücklichen Salzburger Mariage gebracht hat, diesmal mit Gustav Rudolf Sellner als Trauzeugen.

Sellner wäre kein Schauspielregisseur, würde er nicht den Beaumarchais-Kern des Stückes herausschälen, das politische Ekrasit der Komödie, den Kampf der Leidenschaften, das Aufeinanderprallen der Charaktere. Wie er die einzelnen Figuren zeichnet, wie er psychologische Spannungen in kontrapunktischer Bewegung nahezu choreographiert, das läßt manche Szene völlig neu und dabei keine gewaltsam "anders" gedeutet erscheinen. Dabei ist als großes Plus zu vermerken, daß diese Regieauffassung nie gegen den Geist der Musik verstößt. Freilich, darum, ob Mozart es in seiner Vertonung auch stets so ernst gemeint hat, kümmert sich diese Inszenierung nicht. Sie ist quasi der extreme Gegenpol zu jener Auffassung, die Da Ponte gern mit Schikaneder verwechselt.

Sellners Grundidee, im Bühnenbild und in den Kostümen von Michael Raffaelli motiviert und fortgesetzt, wird in den Reaktionen aller Solisten sichtbar, gewinnt Gestalt in unzähligen Details, wird auch in der Choreographie von Deryk Mendel beachtet. Die Besetzung, in der das wienerische Element diesmal lediglich durch die Gräfin von Sena Jurinac vertreten ist, hat in den beiden männlichen Protagonisten der Premiere, in Dietrich Fischer-Dieskau und Geraint Evans, ideale Vollstrecker des Sellnerschen Konzepts. Zwar sieht der erblondete Almaviva, gar beim martialischen Recitativo, gelegentlich wie ein aufbegehrender preußischer Junker aus, aber sein Temperament des Singens ist durchaus südlich, und die Glut seiner Prachtstimme ebenfalls. Und Geraint Evans, nicht unähnlich dem Figaro von Pernerstorfer vor ziemlich einigen Jahren, hat den Trotz, das Revoluzzertum, den Mut zum Aufbegehren ebenso im scharfen Profil wie im profilierten Spiel. Und in der dunkel tönenden Stimme noch dazu, die ebenso sinnlich wie bedrohlich klingen kann und in der Mozart-Kantilene ganz zu Hause ist.

Von den Damen hat Sena Jurinac mehr Adel der Empfindung als Singatem, was die Tongebung bei der zweiten Arie unruhig und forciert erscheinen ließ. Und die Commedia im letzten Bild ist wohl nicht ihre Sache. Von souveräner Selbstverständlichkeit im Spiel und musikalischem Charme im Vortrag ihrer Arien Evelyn Lear als Cherubin; daß die Partie von rechtens einem Mezzo gehört, hatte man bei so viel Flair auf der Bühne ebenso zu vergessen wie die Tatsache, daß für die Susanne eher eine lyrische Legatostimme am Platz ist. Graziella Sciutti sang dessenungeachtet ihren Mozart bezaubernd klar, erfühlt und erfüllt, in jedem Point kultiviert ausgeformt. Und sie spielte die Susanne als eine, die ganz genau weiß, worum’s geht, aber sie interpretierte keineswegs eine Drahtzieherin, die beim ersten Aufgehen des Vorhangs schon die Gewißheit hat, wohin der Figaro im letzten Bild läuft.

Prächtig die Chargen: Czerwenka als pastoser Bartolo, Patricia Johnson als Marcelline, John van Kesteren, ebenfalls stimmlich überbesetzt, als Basilio, Siegfried Rudolf Frese (Antonio), Elfriede Pfleger (Barbarina) und Martin Vantin (Richter).

Heinz Wallberg nahm als Dirigent dankenswert ruhige Tempi, an denen freilich mitunter das Bleigewicht geringer Spannung und dicken Klanges hing. Die Aufführung war exakt, das Spiel des Orchesters nur von mittlerer Qualität und gegenüber der Bühne häufig zu vorlaut.

Das Publikum beklatschte Arien, Ensembles, wirkungsvolle Auftritte und Abgänge. Der Erfolg im alten Festspielhaus war groß.

Herbert Schneiber


   

     Tagesspiegel, Berlin, 7. August 1962     

   

Mozartkult im motorisierten Zeitalter

Salzburg zur Festspielzeit im Zeichen des Tourismus – 
Gustav Rudolf Sellners "Figaro"-Inszenierung

[...]

"Le nozze di Figaro", die die diesjährigen Festspiele eröffneten und weiterhin als repräsentative Mozart-Neuinszenierung auf dem Spielplan stehen, waren dennoch alles andere als eine Routine-Aufführung. Gustav Rudolf Sellner, der zum ersten Male in Salzburg inszenierte, bot auf der Bühne des alten Festspielhauses einen ungewöhnlichen, faszinierenden Aspekt des Werkes. Er stellt die Handlung auf eine erhöhte, von durchsichtigen Wänden umgebene Spielfläche, die der Bühnenbildner Michael Raffaelli durch sparsame ornamentale Zutaten und farbige Plafonds als kahles Dienerzimmer, preziöses Boudoir, als Festsaal und nächtlichen Garten charakterisiert. Bei allem Realismus des Spiels ist damit ein stilisierender Rahmen gegeben, der die Komödie aus dem Alltag des Realismus heraushebt. Der Zuschauer blickt hinter die Kulissen des Intrigenspiels, er sieht in Vorzimmer, Korridore und Kabinette und hat einen klareren Überblick über das Verwechslungsspiel im dunklen Garten. Die Auffassung des Werkes trägt vieles von dem zusammen, was frühere Inszenatoren herausarbeiteten. Das revolutionäre Aufbegehren des Dieners, das Mahler betonte, wird ein paar Male bedrohlich angedeutet, die kühle, nüchterne Grazie, die Gründgens zum Grundton wählte, klingt nach, die Steigerung des Grafen zum Herrenmenschen, die Felsenstein anregte, wird aufgegriffen. Der Bühnenmaler gibt dazu die Kultur des spanischen Kolorits, der Regisseur einen Überfluß an komödiantischer Erfindung, die sich in feinen und drastischen Zügen, in Nuancen und Gags bezeugt. Das alles ist geistvoll entworfen und virtuos ausgeführt.

Aber auch in dieser Sellner-Inszenierung bleibt das Verhältnis von Bühne und Musik problematisch. Was gespielt wird, ist nicht eigentlich Mozart. Sellner typisiert, wo Mozart individualisiert, Sellner gibt die klare, fertige Gestalt, wo Mozart die Ahnung, das Irrationale des Gefühls andeutet. Es ist auch nicht, trotz der italienischen Sprache, der poetisch-witzige Da Ponte, so wenig wie der bittere, spöttische Beaumarchais. Es ist eine Rückdeutung der Comédie humaine in die Sphäre der Typenkomödie, etwas wie ein imaginärer Goldoni, ein perfekt funktionierendes Spiel charmanter, meisterlich geschnitzter Marionetten, aus dem nur eine dämonisch-lebendige Gestalt hervorragt: Dietrich Fischer-Dieskau als Graf Almaviva.

Das Publikum kümmert sich wenig um stilistische Bedenken, es applaudiert laut nach jeder einzelnen Arie; die Sänger unterbrechen das Spiel, verneigen sich ausgiebig, gehen wieder in ihre Pose und spielen weiter. Das ist so scheußlich und festspielunwürdig, daß man nicht versteht, warum es zugelassen wird; zumal das gesangliche Niveau der von Heinz Wallberg mit Feingefühl und scharfer dramatischer Charakterisierung, wenn auch ohne zündende Brillanz geleiteten Aufführung nicht immer Anlaß zur Begeisterung gibt. Sena Jurinac als Gräfin, Geraint Evans als Figaro, Evelyn Lear als Cherubino sind keine idealen Verkörperungen der durch lange Traditionen entwickelten Gestalten. Die zierliche, mit einer Wohllaut verströmenden Vogelkehle begabte Graziella Sciutti ist eine italienische, gesanglich virtuose Susanna. Weit über allen steht Dietrich Fischer-Dieskau, ein heißblütiger, sinnlich tändelnder, jäh aufbrausender Almaviva, eine Mozartfigur im Zwielicht zwischen Komik und Tragik, komödiantisch bis zum Exzeß entfesselt, gesanglich von souveräner, jede Gefühlstönung fein schattierender Kultur, ein mit Rokokograzie begabter Riese, der auch im Verspielen und Verlieren Herr der Szene bleibt.

Werner Oehlmann


   

     Neues Österreich, 28. Juli 1962     

   

"Figaros Hochzeit" hinter Plexiglas-Gittern

   

Graf Arco hat Mozart einen Fußtritt versetzt, Mozart revanchierte sich später "gräflicher", mit einem musikalischen Zeichen menschlicher Noblesse, indem er dem Grafen Almaviva zwar allerlei Hiebe und Stiche versetzt, ihn aber zum Schluß am generellen Pardonieren partizipieren läßt. Man darf also der politisch-sozialkritischen Tendenz, die der Komödie "Le mariage de Figaro ou une folle journée" von Beaumarchais wesentliche Impulse gibt, bei Mozart keine übertriebene Bedeutung beimessen. Der Hofdichter da Ponte hatte die heikelsten Stellen abgeschwächt, und Mozart verstand es meisterhaft, seine feinen ironischen Spitzen, die den Feudalismus ein wenig lächerlich machen, in scheinbar höfliche, raffiniert harmlos tuende, meist zweideutige Komplimente zu kleiden. Hinter dem formelhaften Etikett des 18. Jahrhunderts funkelt ein pointiertes Feuerwerk psychologisch durchgezeichneter Intrigen und Konflikte, deren erotischer Hintergrund viel schwerer wiegt als der soziale. Die Liebe, ein menschliches Grundrecht, wird gegen das Herrenrecht der Hochzeit erfolgreich verteidigt.

Wenn sich nur alles so erfolgreich verteidigen ließe! Das Herrenrecht ist heute in die Hände einiger Regisseure und Bühnenbildner übergegangen und wirkt sich daher nicht nur in der ersten Nacht aus. Vergewaltigungen an den Geliebten (Theaterstücken natürlich) sind an der Premierenordnung. Nur selten wird der Herr zum edlen Diener am Werk, dann erübrigen sich alle Standeskonflikte. Manche Stücke überleben nicht nur die Zeiten, sondern auch jede Behandlung. "Le Nozze di Figaro" zählt hiezu. Sollte der unsterbliche Mozart, in dessen Vaterstadt soeben wieder touristengeschwängerte Festspielzeiten mit dem schon obligaten Premierengewitter ausgebrochen sind, dennoch der Meinung sein, für – wenn auch nur unbeabsichtigt – verabfolgte Tritte sich revanchieren zu müssen, würde er nur dann verstanden werden, wenn er mit gleicher Münze zurückzahlte – die Zeiten versteckter Anspielungen und feingeschliffener Ironie sind für so manchen längst vorbei.

Offenbar hatte man das Gefühl, die vom Team Rennert-Maximowna klug stilisierte Inszenierung der "Hochzeit des Figaro" sei jetzt schon verstaubt und müsse, ebenfalls im alten Festspielhaus, durch eine neue, moderne ersetzt werden. Modern wurde sie nicht, aber modisch. Das neue Team heißt Gustav Rudolf Sellner (Regie) und Michael Raffaelli (Bühnenbilder und Kostüme). Wo ein Sellner inszeniert, darf ein Raffaelli nicht fehlen, nur ist nicht jeder Raffaelli gleich ein Raffael. Almaviva muß, seinem Schloß nach zu schließen, ein armer Graf sein. Der noch vorhandene Reichtum hat sich auf die Plafonds der diversen Gemächer geschlagen, wo schöngefärbte, teils abstrakte, teils blumenhafte Rastergebilde blühen, die Polsterstickereien gleichen. Auch über dem plastikverspannten zierlichen Schattenrißgarten hängt eine mondnachthimmelbunte Planetenscheibe. Die Zimmer selbst sind kahl, von schräg und vertikal vergitterten Plexiglaswänden begrenzt: graphische Flächen, in Metallrahmen gestellt, Eine Spielbühne vor indifferentem, hellgrauem Hintergrund wurde errichtet, Auftritte und Abgänge bleiben sichtbar.

Überhaupt ist alles kühl und durchsichtig, zu durchsichtig für das Intrigenspiel, das man ja kennt, das aber deswegen nicht als leicht durchschaubar dargestellt werden durfte. Der luziden Transparenz der Musik Mozarts wird damit nicht entsprochen. Nur eine ihrer vielen Schichten ist zu sehen. Sie ist aber nicht nur kühl, sondern auch impulsiv, impulsiver, als es dem 18. Jahrhundert lieb sein konnte. Angesichts von Plastik und Plexiglas assoziiert man das künstliche, das zu den Typen der Commedia dell’arte passen würde. Mozart hat aber gerade im "Figaro" deren Typologie überwunden und die Figuren vermenschlicht. Dem Bild fehlt das Überraschende, das Vieldeutige, das mehrfach Verzahnte, das man in Mozarts Partitur fast auf jeder Seite findet. Gerade das stereotype barocke Schwarzweiß wurde hier durch unerwartete placierte dynamische Kontraste reich schattiert.

Gegen die Abstrahierung des Figaro-Bildes ist nichts einzuwenden, wenn sie konsequent durchgeführt wird. Sellner und Raffaelli hielten jedoch nicht durch. Goldüberlagerungen und schwarzes Rokokogeschnörkel an den Gitterwänden (vor allem im Gemach der Gräfin), hispanisierte und barockisierte Kostüme, deren einzige Qualität die behutsame Farbgebung war, sind nur zwei Beispiele für das hilflose Steckenbleiben in Kompromissen, die der Aufführung, abgesehen vom Finale, die meiste Atmosphäre raubten. Es zeigte sich, daß sich Mozarts "Figaro" durch seine dramaturgisch genial disponierte Festgeformtheit vielen Versuchen widersetzt. Auch Sellner bekam das zu spüren. Er mußte, ob er wollte oder nicht, seine Bewegungsregie weitgehend den bekannten Modellen annähern. Wo er es nicht tat, wirkte die Bewegung als bezugslose Zeitüberbrückung.

Den (durchwegs schauspielerisch begabten) Sängern gebührt Lob und Anerkennung. Wieder betreute Dietrich Fischer-Dieskau die Partie des Grafen Almaviva. Wir sehen die fulminante Studie eines eitlen, selbstherrlichen Barockfürsten, dessen Horizont nicht weit über die Rundungen seiner Kammerzofen reicht, der sich daher leicht düpieren läßt und als einziger nicht weiß, was eigentlich wirklich gespielt wird. Eine – auch von Sellner angestrebte – Akzentuierung der sozialkritischen Tendenz, die Fischer-Dieskau souverän löst und als Nachkomme der Seria, mit musikalischen Formtypen des Barocks von Mozart witzig ausgestattet, sein bombastisches Auftreten mit leiser Selbstironie an den entscheidenden Stellen der Lächerlichkeit aussetzt, eine Leistung, die durch das unfehlbar servierte Parlando und die meisterhafte Ariengestaltung abgerundet wird.

Die Gräfin bleibt als einzige Person des Feudalmilieus ungeschoren, mehr noch: Sie wird von allen hochgeschätzt. Sena Jurinac spielte eine sanfte, zurückhaltende Gräfin, die sich am liebsten aus der ganzen Commedia heraushalten möchte. Ihre Stimme klang diesmal etwas hart und unausgeglichen, paßte also nicht zur Figur. Figaro, dem der Arlecchino unverkennbar im Nacken sitzt, fand in Geraint Evans einen geradezu idealen Fechter für die Rechte des "dritten Standes". Er outrierte nie, färbte seine vorbildlich geführte, schön timbrierte Stimme, wie es die Situation erforderte, und war der einzige, der es wagen durfte, sich mit dem Grafen im "Tanz" zu messen. Susanne, die Tochter Columbinas, wurde charmant und lieblich von Graziella Sciutti dargestellt; die Stimme reichte nicht immer und klang nur im Piano makellos. Als Cherubino, dem immer das Konzept störenden Amor, dem Grafen in Taschenformat, den Almaviva aus guten Gründen vom Schloß fernhalten möchte, stellte sich Evelyn Lear vor. Sie gestaltete die Hosenrolle burschikos und lebendig und setzte ihren flexiblen Sopran dieser Auffassung entsprechend ein. Marcellina, Bartolo, Basilio und Antonio, die ihrer verschlagenen, intriganten, komischen und läppischen Eigenschaften wegen unschwer als Abkömmlinge von Ruffina, Dottore, Brighella und Truffaldino zu erkennen sind, wurden im Sinne von Mozarts "Vermenschlichungsprozeß" mit treffenden Charakteren (Patricia Johnson, Oskar Czerwenka, John van Kesteren, Siegfried Rudolf Frese) besetzt, hier kommt es nicht auf den leeren "Schöngesang" an.

Die musikalische Leitung lag in Händen von Heinz Wallberg. Er wählte gute Tempi und zeigte darin Beziehung zu Mozart. Der Kontakt zur Bühne funktionierte klaglos. Nur der musikalische Aufbau der Ensembles entfaltete sich nicht organisch. Auch hätte das Stimmengeflecht zuweilen feiner schattiert werden müssen. So richtig im Zusammenhang mit Almaviva einige orchestrale Sforzati und Akzente lagen, so unrichtig wirkten einige Massivitäten an Stellen filigraner Auflösung. Ein guter Musiker dirigierte ein von Fischer-Dieskau und Evans überragtes Mozart-Ensemble. Die Philharmoniker musizierten ihren "Hauskomponisten" mit unverwechselbarer Verve. Der Opernchor brachte seine Gratulationen kultiviert dar.

Lothar Knessl


    

     Die Presse, Wien, 28. Juli 1962     

    

Gescheiter als Mozart und da Ponte

Sellners Neuinszenierung von "Die Hochzeit des Figaro" zielt an Mozart vorbei

[...]

Das neue Inszenierungstrio, bestehend aus Gustav Rudolf Sellner als Regisseur, Michael Raffaelli als Bühnenbildner und Heinz Wallberg als Dirigent, wendet sich weder an den naiven noch an den diffizilen Sinn, sondern schafft eine Version, von der man sagen möchte, daß sie schlechthin gescheit ist, gescheiter als Mozart und da Ponte zusammengenommen. Es präsentiert etwa eine triviale Komödie für seriöse Leute. Es schmunzelt einem beständig zu: Seht, wie gescheit das wieder ist, was wir euch da vorführen.

Alles wie unter Anführungszeichen

An hübschen und originellen Einfällen herrscht gewiß kein Mangel – als den vielleicht hübschesten nennen wir den Schluß des ersten Aktes, wenn Cherubin von der Vision einer "Gloria militar" unwillkürlich erfaßt wird und wenn sich seine Beine, von Mozarts Marschmusik fasziniert, in Bewegung setzen – aber in der demonstrativen Vorführung dieser Einfälle erschöpft sich zur Gänze das Konzept der Regie. Mozart und da Ponte werden nicht eigentlich inszeniert, sondern auf Schritt und Tritt von szenischen Aphorismen begleitet. Nichts geschieht spontan oder auch nur scheinbar unbewußt. Alles wird gleichsam unter Anführungszeichen gesetzt. Dieses Unterstreichen und Bewußt-Machen mag noch so virtuos, noch so geschickt und gescheit durchgeführt werden, an Mozarts Musik, die aus dem Unbewußten schafft und wirbt, zielt es jedoch vorbei...

Mozart, da Ponte und natürlich auch Beaumarchais, der die Komödie und ihre Personal erfunden hat, spielen mit dem Theater als einer handgreiflichen Wirklichkeit, mit Dekoration, Kulisse und Möbelstück, mit offenen oder verschlossenen Kabinettstüren als magische Realitäten. Das kapriziöse Drahtgeflecht, das Michael Raffaelli als Bühnenbild aufs Theater stellt, mag an und für sich als ein Musterexemplar ingeniöser modernistischer Einrichtung gelten. Die Anpassungsfähigkeit an den Szenenwechsel ist erstaunlich und die Variationsmöglichkeiten scheinen unbegrenzt. Nur das eine vermag das Drahtgitterwerk nicht: der Illusion, wie sie von der Komödie als konstitutiver Faktor verlangt wird, zu dienen, wenn wir ständig hinter die Szenerie schauen können, werden Verstecke oder Überraschungen als Spielmotive unwirksam. Wenn sich die Personen bereits auf dem Anmarschweg dem Auge des Publikums darbieten, verpatzen sie den Effekt ihres Auftritts. Die Inszenierung sagt sich energisch vom verpönten Illusionstheater los, setzt sich aber dafür frohgemut in den Käfig, dessen Gitterwerk sie sich selber geflochten hat.

Um so seltsamer ist’s, daß dem streng stilisierenden Prinzip, wie es im Szenenbild zum Ausdruck gelangt, in der Aktion äußerste Realistik entgegengehalten erscheint. Jede Situation wird in allen ihren Phasen aufs gründlichste ausgespielt, bisweilen bis zur Übertreibung, bis zur Persiflage. Am stärksten leidet darunter die Figur des Grafen Almaviva, der sich so ungeniert mitteilt, als wäre er ein Blutsvetter des Ochs von Lerchenau. Völlig zur Karikatur erstarrt ist Marcelline. Sie geistert als komisches Gespenst durch die Handlung, dessen Komik von außen hineingetragen wird und nicht aus Spiel und Komödie erfließt. Das falsche Konzept erzielt wohl drollige Augenblickseffekte, läßt sich aber nicht konsequent durchführen. Zum Schluß muß auch Marcelline auftauen und mozartisch-menschlich an der Affäre teilnehmen.

Die Darstellerin der Marcelline ist Patricia Johnson, die sich mit Talent und Ambitioniertheit dem Plan der Regie einordnet. Den Grafen gibt Dietrich Fischer-Dieskau, der großartig singt, Wort und Ton mit Wucht und Eindringlichkeit gestaltet und immer fesselnd bleibt, auch wenn er auf falsche Fährte gelockt wird. Verrät er im Spiel eine lerchenauische Vetternschaft, so legitimiert ihn sein Singen als Bruder Wotans. Als Gräfin begegnen wir unserer Sena Jurinac, die, ein wenig mühsam in der Tongebung, mehr die leidende und enttäuschte Ehegattin hervorkehrt als die charmante Rosina, die mit lachendem Herzen an Figaros Intrigenspiel teilnimmt. Graziella Sciutti verleiht der Susanne die Anmut und Zierlichkeit einer Despina. Sie singt sehr fein, sehr meisterlich, aber auch das langsame Tempo, das sie in der Rosenarie anschlägt, weckt nicht den Gemütston, der sich hier unter aller Schalkhaftigkeit melodisch äußert. Von Evelyn Lear als Cherubin kann man etwa sagen, daß sie ihre starke Eigenpersönlichkeit sowie die absoluten Werte ihrer schönen Stimme und gepflegten Gesangsfertigkeit ins Spiel bringt, als daß sie die Figur des liebegirrenden Knaben lebendig macht.

Am wenigsten beirrt von der Regie scheint Geraint Evans als Figaro zu sein. Nur einmal läßt er sich zu einer aufrührerischen Gebärde dem Grafen gegenüber hinreißen und erinnert an Beaumarchais und den "Sturmvogel der Revolution", von dem Mozart und da Ponte absolut nichts wissen wollten. Sonst wird alles mit erfrischender Ursprünglichkeit aus dem Geist und dem Gang der Musik und der Handlung gewonnen. Eine scharf profilierte Charakterfigur, konsequent und ohne Übertreibung gezeichnet, liefert John van Kesteren als Basilio. Als Bartolo erhielt Oskar Czerwenka wohlverdienten Beifall für seine Arie, und in ihrer Art bewährten sich ebenso Siegfried Rudolf Frese als Antonio, Elfriede Pfleger als Barbarina, Martin Vantin als Don Curzio, Margaret Nessel und Evelyn la Bruce als Brautjungfern.

Ein wenig schien das Inszenierungsprinzip auch auf die musikalische Leitung überzugreifen. Auch Heinz Wallberg dirigierte manchmal für die gescheiten Leute und präsentierte ihnen etwa seine Sforzandopointen gern demonstrativ. Aber das hinderte ihn nicht, das Ganze doch in der richtigen musikalischen Balance zu halten, wie es dem Mozartschen Wunderwerk gemäß ist, das sich über alle von der Inszenierung gelegten Hemmnisse hinweg lachend durchzusetzen weiß.

Heinrich Kralik

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