Zum Liederabend am 4. Oktober 1962 in Berlin

Die Welt, 6. Oktober 1962

Gesangsabend Fischer-Dieskau

Dietrich Fischer-Dieskau ist einer jener Sänger, deren Prominenz sie nicht daran hindert, sich immer neue Programme zu erarbeiten, dabei auch unpopuläre Kompositionen zu berücksichtigen. Zwar ist er ein unvergleichlicher Interpret der "Winterreise" oder der "Schönen Müllerin", er singt diese Werke auch immer wieder, wobei er sich jedesmal wieder mit ihnen auseinandersetzt und zu neuen Interpretationen gelangt. Er ruht sich nicht auf dem Lorbeer aus, den ihm sein Schubert, Schumann, Brahms, Strauss einbringen.

So hat er für sein diesjähriges Berliner Festwochen-Konzert im SFB ausschließlich Kompositionen des 20. Jahrhunderts gewählt, u.a. von Alban Berg und Ferruccio Busoni. Zwei der Liedgruppen waren Uraufführungen: Boris Blachers "Drei Psalmen" (von 1943!) und Aribert Reimanns "Fünf Lieder nach Gedichten von Paul Celan". Neben diesen beiden Zyklen wirkten Wolfgang Fortners vier Hölderlin-Gesänge geradezu wie musikalische Lyrik der Spätromantik.

Die Psalmen weichen – wie sollte es bei Blacher anders sein – von dem ab, was fromme Gesänge sonst auszeichnet: sei es gläubig versunkene Inbrunst, sei es die Ekstatik der Zerknirschung oder des Rufes nach göttlicher Hilfe. Nichts davon bei Blacher. Selbst Stellen wie "Ich schreie zum Herrn mit meiner Stimme" haben noch etwas gläsern Stilisiertes. "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen" läuft ganz leicht, flüssig, fast parlierend ab.

Der Klaviersatz ist sparsam, stereotypes Ostinato herrscht vor. Ein wesentliches Mittel der Wortinterpretation: An entsprechenden Stellen des Textes unterbricht Blacher das Gleichmaß der ostinaten Klavierbegleitung durch – vor allem rhythmisch – andere Figuren. Das historisierende Melisma am Schluß der Gesänge wirkte etwas unorganisch, aufgesetzt.

Kühle Musik, so scheint es. Trotzdem stellt sich eine nicht unreligiöse Atmosphäre der Vergeistigung ein, die sich angenehm von manchen allzu gefühlsbetonten Kompositionen geistlicher Texte abhebt.

Die Lieder von Aribert Reimann auf irreal düstere Texte von Celan, den Reimann offenbar besonders schätzt, lassen zwar die expressive Begabung des Komponisten spüren, wirken aber musikalisch nicht ganz so vielschichtig und intensiv wie die vier Hebbel- und Mombert-Lieder op. 2 von Berg.

Fischer-Dieskau und Reimann, sein vorzüglicher Begleiter, wurden gefeiert, als hätten sie ein klassisches Programm geboten.

Joachim Matzner

Tagesspiegel, Berlin, 7. Oktober 1962     

    

Überzeugter Interpret der Moderne

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend

    

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau sich der Moderne widmet – und er hat es in diesen Festwochen mit bewundernswerter Ausschließlichkeit getan -, dann bedeutet das auch für diesen großen Sänger ein gerütteltes Maß an Arbeit, das er außerhalb seiner anderen Verpflichtungen auf sich nimmt. Zugleich darf man aber auch sicher sein, daß er sich für einen Liederabend mit zeitgenössischen Werken nicht, wie vielleicht mancher andere, aus Opportunismus oder Effekthascherei zur Verfügung stellt, sondern daß er sich aus Überzeugung und mit der ganzen Kraft seines Könnens dieser Liedkunst annimmt.

So ist es allein schon ein Genuß zu hören, wie er die Gesänge bis ins Detail hinein durchmodelliert, wie er sich Text und Musik zu eigen macht, mitgestaltet, miterlebt und von der Materie durchdrungen ist. Man hört jeden Konsonanten, man staunt über die Ausdrucksschattierungen seines Baritons, den er wie ein kostbares Instrument vom voluminösen Forte bis zum starken Piano geradezu artistisch einzusetzen weiß. Es gibt keinen Wertmaßstab für diesen Sänger, es sei denn, man mißt ihn an sich selbst und an dem ungemein umfangreichen, vielerlei Stile und Komponisten umfassenden Repertoire, das er beherrscht.

Vielseitig war auch das Programm des Liederabends im Sendesaal: vier Gesänge auf Hölderlintexte aus Wolfgang Fortners früher Zeit zeigen den Komponisten noch ganz im lyrisch-dramatischen Expressionismus verhaftet, dessen bildhafte Tonsprache bis heute nichts von ihrer Ausdruckskraft eingebüßt hat. Gleich wirkungsvoll erwiesen sich Busonis herzhafte Lieder, in denen noch Hugo Wolf ebenso nachspukt wie in Alban Bergs frühen Gesängen Opus 2, die von dem späteren Berg noch wenig spüren lassen, zumal Alfred Momberts Texte inzwischen antiquiert erscheinen.

Zwei Uraufführungen standen im Mittelpunkt des Programms: drei Psalmen von Boris Blacher halten sich in der Singstimme im wesentlichen an Sprachmelodie und -rhythmus und gehen stellenweise ganz in Psalmodie über. Die sparsame Klavierbegleitung verwendet Blacher gewissermaßen als akzentuierende Klanginterpunktion. Es sind dies kühle Vertonungen, frei von jeder Frömmelei, aber auch frei von religiöser Bindung. Aribert Reimann wählte fünf Gedichte von Paul Celan: schwer eindringliche Metaphern, die jedoch ihrer musikalischen Sprache wegen zur Vertonung angeregt haben mochten. Reimann errichtet ein strukturelles Gerüst in der Klavierbegleitung, über das er die weitschweifende Singstimme wie ein zartes Gespinst zieht. Einige dieser Gesänge stehen gefährlich nahe an der Grenze zum manieristisch-kühlen Intellektualismus, andere – etwa die "Tenebrae" oder "Heute und morgen" – zeigen mehr Ausdruckstiefe, keineswegs aber Gefühl und Wärme. Der Komponist erwies sich wieder als ein äußerst feinfühlig gestaltender Begleiter. Was leider nicht hinderte, daß das Programmheft seinen Namen verschwieg.

C. E.

   

     Berliner Morgenpost, 6. Oktober 1962     

   

Im Großen Sendesaal des SFB sang Dietrich Fischer-Dieskau Lieder zeitgenössischer Komponisten. Mit Wolfgang Fortner, Blacher, Reimann, Alban Berg und Busoni hatte er ein besonders schwieriges Programm zu bewältigen.

Die fünf Lieder nach Gedichten Paul Celans von Aribert Reimann, der selbst am Flügel begleitete, gehörten zu den textlich und musikalisch abstraktesten Werken des Abends. Aber durch Fischer-Dieskaus Interpretation erhielten sie ein seltsam ergreifendes Leben.

Mit dem humorigen "Floh"-Lied des Mephistopheles in der Vertonung von Ferruccio Busoni bewies Fischer-Dieskau erneut sein Talent auch für komische, fast komödiantische Liedszenen. Der Schlußbeifall war stürmisch.

M. M.

    

     Der Abend, Berlin, 5. Oktober 1962     

    

Dieskau-Triumph

    

Wenn Dietrich Fischer-Dieskau der Moderne seine Stimme leiht, dann wird diese oftmals spröde und schwer zugängliche Gesangsliteratur zum klingenden Ereignis. Denn er bringt nicht nur einen Bariton mit, der über jedes Lob erhaben ist, sondern eine persönliche Anteilnahme an Text und Musik.

Jedes Werk – seien es nun die uraufgeführten, sparsam vertonten Psalmen von Boris Blacher und die zarten, lyrischen Gesänge von Aribert Reimann oder Busonis handfeste Goethe-Lieder – modelliert er aus dem papierenen Entwurf des Komponisten heraus. Er faßt es in Töne wie der Juwelier einen kostbaren Edelstein. Aribert Reimann begleitete am Flügel mit erprobtem Feingefühl.

-ch-

   

     Kurier, Berlin, 5. Oktober 1962     

    

Fischer-Dieskau in allen Sätteln

   

Einen ganzen Abend zeitgenössischer Liedmusik, gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau, gab es hier noch nicht, und so viel freie Plätze, das ist sicher, hat dieser Bariton bei uns noch nicht gesehen.

Immerhin, der Ehrgeiz nach Universalität, wem stünde er besser an als diesem unerreichten Interpreten! "Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen" – damit, mit Hölderlins berühmter Ode und gar nicht provozierend also, fängt es an, zumal die vier Gesänge des Komponisten Wolfgang Fortner aus dem Jahre 1933 den Sprachgesang nachzeichnen und ihn nicht kontrapunktieren wollen. So hat die Unterlegung der Musik dem Worte nichts geschadet, ohne daß etwas Neues, Überhöhtes hinzugekommen wäre. Das ist bei Blachers Beitrag jedenfalls geschehen. Die deklamatorische Konzeption der Singstimme seiner Drei Psalmen, die psalmodierende Anrufung hat keine untermalende, nachbetende, sondern selbständige, unruhige, suchende, zumeist zweistimmige Klavierbegleitung bekommen – eine moderne und zutreffende musikalische Exegese. Die vier Lieder Alban Bergs op. 2 nach Hebbel und Alfred Mombert und die fünf Gesänge Aribert Reimanns sind in einer Antithese zu fassen: Der von Tristan-Harmonik zum letztenmal sich nährenden Glut.

H. R.

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