Zum Liederabend am 25. November 1962 in Wien

Die Presse, Wien, 27. November 1962

Feierstunde der Romantik

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau im Konzerthaus

Die Liederabende Dietrich Fischer-Dieskaus stellen inmitten des fluktuierenden Konzertbetriebes Inseln der Kontemplation, Feierstunden romantischen Empfindens dar. Ihre Popularität erhellt allein aus dem Umstand, daß in Anbetracht des starken Publikumsinteresses diesmal die Veranstaltung in den Großen Konzerthaussaal verlegt wurde, einen für die Auswirkung subtiler Ausdrucksnuancen gewiß nicht geeigneten Rahmen. Die Kunst des Vortragenden in Verbindung mit der seines kongenialen Klavierbegleiters Jörg Demus überwand jedoch siegreich die dimensionale Unzulänglichkeit des "Ortes der Handlung".

Eine ausschließlich Schubertliedern gewidmete Vortragsfolge wurde nach einem von vornherein bis ins letzte fixierten, nichts dem Zufall des Augenblicks überlassenden Konzept interpretiert, das bei aller Schlichtheit niemals die Züge des Abgeleierten annahm. Fischer-Dieskau gelingt es, durch belebende Varianten jegliche Gefahr der Eintönigkeit zu bannen, die unwillkürlich ein auf einheitliche Grundstimmung abgestelltes Programm bedroht. Bestbekannte Gesänge, wie das "Ständchen" oder "Du bist die Ruh’", erklangen nicht in einer banalen Dreimäderlhausmanier, sondern wie es ihnen zukommt: als Lyrik von hohem Rang.

Vorübergehende stimmliche Ermüdungserscheinungen beeinträchtigten kaum die ästhetische Vollkommenheit einer Gesangsleistung, die mit stürmischen Kundgebungen bedankt wurde. Begeisterung erweckte auch die von Generalsekretär Peter Weiser verkündete Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Wiener Konzerthauses an den Künstler.

Mi

Kurier, Wien, 28. November 1962     

    

Seminar in Liedgesang

Zum Schubert-Abend Dietrich Fischer-Dieskaus im Konzerthaus

    

Minutenlanger Begrüßungsbeifall empfing den ungekrönten König des Liedgesanges, der Künstler mußte sich verneigen nach vorne, nach beiden Seiten, nach hinten – denn der Konzerthaussaal war ausverkauft bis über alle Podiumsplätze. Und dann?

Dann begann Dietrich Fischer-Dieskau zu singen. Generös und bester Laune ließ er das Publikum, das er geschickt immer auch mit dem Blick zu fassen wußte, an seiner einmaligen Singkunst teilhaben, ließ die Phrasen im Piano, Pianissimo auf den Lippen zerschmelzen, zauberte das betörendste Mezzavoce in den Saal, immer wieder, machte jedes Wort, jede Silbe, ja jeden Laut plastisch, auch wenn er noch so leise sang, und kam mit dieser intimen Kunst, die selbstredend nach einem kleineren Saal verlangt hätte, selbst in dem Riesenraum überall an, hielt die Zuhörer stets bei Aufmerksamkeit. Und was es da nicht alles zu registrieren gab, an stimmlichem Raffinement, musikalischer Subtilität, gestalterischer Noblesse. Und jede Einzelheit der Perlenkette war zu bewundern, nichts von der Kunst dieses großen Sängers ging verloren. Es war ein richtiges Seminar.

Ich berichtige mich: etwas ging schon verloren. Franz Schubert. Weil es in der wunderbar ebenmäßigen Linie kaum einen Riß gab, keine Reize, aus der Emotion herausdrängte, keine Kante, die Impuls verriet. Gewiß, die Perfektionsglätte hatte geistig und ästhetisch Profil. Allein, Schubert ohne Saft und Kraft, nur vom Kopf her, dazu meist mit halber Stimme und mit noch weniger Herz gesungen: Das reicht nur für den Interpreten.

Um gerecht zu sein: Im Lied "Du bist die Ruh’" kam der Sänger Schubert nahe, war der Bogen auch vom Gefühl her gespannt und der Gesang erlebt. Doch ein "Musensohn", aus Dieskaus Mund als kokett-ironisches Scherzo hingeworfen, kann nur noch vorgeben, Blum’ und Blüt’ kaum erwarten zu können, denn er macht sich (in zugegeben brillantem Parlando) über sich selbst lustig, ist nicht mehr Empfindung, sondern bloß Kommentar. Die gern zitierte Neigung der Romantik zur Ironie fand bei Schubert nicht statt. Und wenn das übersehen wird, findet Schubert nicht statt.

Im übrigen war der Komponist im sensiblen und kraftvollen Spiel des Begleiters Jörg Demus ständig zugegen und das Publikum von der großen Kunst des großen Sängers in steigendem Maße entzückt. Nach der Pause gab der Generalsekretär des Hauses, Peter Weiser, die Ernennung von Fischer-Dieskau zum Ehrenmitglied der Konzerthausgesellschaft bekannt und unterstrich so seinerseits die Gewichtsverteilung an diesem Abend.

Herbert Schneiber

    

     Niederösterreich, 27. November 1962     

    

Liebe und Schmerz bei Schubert

    

Einen besonderen Genuß bereitete Dietrich Fischer-Dieskau den vielen Freunden des romantischen Liedes mit seinem Schubert-Abend im ausverkauften Großen Saal des Konzerthauses. Er hatte das Programm mit hoher Intelligenz und liebevollem Eindringen in das Wesen der "holden Kunst" zusammengestellt. Die streng chronologische Anordnung erlaubte einen instruktiven Einblick in die menschliche und künstlerische Entwicklung Franz Schuberts. Vom "Erlkönig" (1815) und vom "Wanderer" (1816) spannte sich der Bogen über "An die Leier" und den "Musensohn" (beide 1822) bis zum "Ständchen" (Nr. 4 des Schwanengesanges) und zu "Die Sterne" (beide aus dem Todesjahr 1828). Als Leitgedanke über den ganzen Abend schien Schuberts Tagebuchbekenntnis von 1822 gestellt zu sein: "So zerteilte mich die Liebe und der Schmerz".

Fischer-Dieskaus reiche, kraftvolle Stimme ist uns aus der Oper wohlvertraut. Sie ist auch hier ständig gegenwärtig, doch wird von ihren vielfältigen Möglichkeiten nur sparsam Gebrauch gemacht. Es ist das Mezzavoce, das zarte andeutende Piano und Pianissimo, mit dem der Sänger sein Publikum in Atem hält, das nicht nur sein Gefühl, sondern auch seine Nerven und sogar seinen Verstand anstrengen muß, um in den vollen Genuß dieser höchst raffinierten und kultivierten Vortragsweise zu kommen.

Höhepunkte des Abends waren das Ende des "Wanderers", in das der geplagte Lichtentaler Schulgehilfe den ganzen Jammer des "geplagten Schullasttiers" gelegt hat: "Dort wo du nicht bist, dort ist das Glück", dann "Du bist die Ruh", bei dessen Schlußstrophe der Sänger sowohl den dramatischen Ausbruch des ersten "Von deinem Glanz allein erhellt" wie auch die lyrische Resignation der Wiederholung auf das glücklichste meisterte, "Im Abendrot" und der "Musensohn", an dem sich seine geschickte Parlandotechnik bewährte. Sehr verdienstvoll war es, daß Fischer-Dieskau sich einiger Lieder annahm, die man im Konzertsaal selten zu hören bekommt, wie "Memnon", "Freiwilliges Versinken", "Heliopolis" und "An die Freunde" (alle auf Texte von Johann Mayrhofer und aus den Jahren 1817 bis 1822).

Ein besonderes Erlebnis war Jörg Demus am Flügel. Subtil und zurückhaltend, sauber akzentuierend, voll Takt und Empfindung wußte er sowohl für den romantischen Überschwang des frühen wie für die Sparsamkeit des späten Schubert-Stils das rechte Maß zu finden.

In der Pause gab Generalsekretär Peter Weiser die Ernennung Fischer-Dieskaus zum Ehrenmitglied der Konzerthausgesellschaft bekannt. Der durch zahlreiche Zugaben stets aufs neue entfachte Jubel des begeisterten Publikums kannte keine Grenzen.

R. E.

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