Zum Opernabend am 9. Februar 1963 in Berlin
Die Welt, 12. Februar 1963
Hoffnung auf die große Zukunft
Imposante Sellner-Inszenierung in Berlin: von Einems "Dantons Tod"
Mitten in den Schrecken der Kriegszeit und der Verzweiflung über die unentrinnbar hereinbrechende Katastrophe begegnete Gottfried von Einem dem Revolutionsdrama Georg Büchners: der Tragödie vom Wüten einer sich überschlagenden Idee, die im grausigen, der Herrschaft der Vernunft entgleitenden Mechanismus der äußeren Ereignisse schuldig wird und darum dämonisch-zerstörerisch wirken muß.
Die packende Aktualität, die erregende Zeitnähe dieser hellsichtigen Dichtung, ihr idealistischer Schwung und die Leuchtkraft des Freiheitsgedankens, der das düstere Geschehen überstrahlt und trägt, faszinierten den damals dreißigjährigen Komponisten und inspirierten ihn zu einem Werk, das seine schöpferische Begabung schlagartig zu reichster und stärkster Entfaltung brachte.
Erfüllt von hohen Hoffnungen und Zukunftserwartungen, gebannt auch von der "fast archaisch wirkenden Zeichnung der Gestalten Büchners", stürzte sich Gottfried von Einem zusammen mit seinem Lehrer und Freund Boris Blacher in die Aufgabe, diesen grandiosen Stoff für die Musikbühne zu formen. Der umfangreiche Text des Originals mußte gestrafft, der aus vielen Einzelszenen hervorzüngelnde dramatische Gehalt komprimiert werden. Die knappe, vorbildlich klare dramaturgische Neufassung drängt die Handlung auf nur sechs Bilder zusammen. Aber jedes von ihnen hat atemraubende Spannung und überwältigende Plastik.
Dabei fallen dem Chor besondere Aufgaben zu. Als Repräsentant der leidenden, leidenschaftlich anteilnehmenden, im Auf und Ab von Hoffnung und Verzweiflung schwankenden, willfährigen, aber oft opportunistisch mißbrauchten Masse tritt er – textlich um Zitate aus Büchners Briefen bereichert – in mannigfacher Funktion als Feind oder als Kontrahent der beiden großen Gegenspieler auf den Plan: Robespierres, des Fanatikers der Idee, der die Revolution um ihrer selbst willen verewigen – und Dantons, der sie evolutiv "in das Stadium der Reorganisation" hinüberführen und "die Republik anfangen" lassen will.
"Die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, und wir alle können uns die Finger dabei verbrennen", lautet Dantons ahnungsvolle Prognose am Ende des ersten Bildes. Im Individualkonflikt der beiden Revolutionsführer spiegelt sich weit über ihr persönliches Schicksal hinaus das Typische jenes historischen Augenblicks, in dem sich das Schicksal aller Revolutionen entscheidet.
Das ist der Punkt, an dem sich für Büchners Drama der Zugang zur Musikbühne öffnet. Natürlich nicht im Sinne der individualistischen "Oper" oder des psychologisierenden "Musikdramas", wohl aber im Sinne des modernen "musikalischen Theaters", das über alle subjektive und private Bedingtheit hinaus in Richtung auf Allgemeingültigkeit des Stoffes und Spiegelung im Typischen neue Sinngebung und Geltung sucht. Für diesen modernen Formtypus haben Blacher und Gottfried von Einem mit "Dantons Tod" ein überzeugendes Modell geschaffen.
Die Wirkung des Stückes ist heute nicht mehr ganz so stark wie vor fünfzehn Jahren, als wir ihm – nur wenige Monate nach dem Salzburger Welterfolg, der den jungen Komponisten international berühmt machte – in Rennerts denkwürdiger Inszenierung erstmals an der Hamburgischen Staatsoper begegneten. Die rein musikalische Substanz beginnt abzubröckeln, durchsichtig zu werden in ihrer relativ einfachen Haltung, die unter den mannigfaltigen Künsten polyphoner oder polyharmonischer Verfremdung durchscheint und sich stereotyp wiederkehrender Floskeln bedient, wie etwa zuckender Begleitfiguren zum rezitativischen Arioso, der ostinaten Schritte dunkler Baßinstrumente, der schwebenden Ornamentik leichtgefügter Holzbläserpassagen, der markigen Fanfaren und aus sich selbst rollenden Marschrhythmen, schließlich gewisser lyrischer Klischees.
Aber spürbar ist immer noch der jugendliche Elan, der frische Impuls dieser Musik [...] Dieser Elan zeugt von der dramatischen, ja von der spezifisch theatralischen Begabung des Komponisten.
Gustav Rudolf Sellners Regie zog ihre stärksten Impulse aus dem Originaldrama, aber sie entging der (vielleicht naheliegenden) Versuchung, Büchner gegen seinen musikalischen Interpreten auszuspielen. Er leitete die Gesetze seiner Inszenierung aus der Partitur ab, und es ergab sich daraus eine Übereinstimmung zwischen Idee und Wirklichkeit, die als ein Glücksfall des modernen Musiktheaters gelten kann. Wenn es einen Ausgleich zwischen der idealistischen Konzeption und der praktischen Realisierung gibt, so hat Sellner ihn gefunden: mit stärkster Wirkung in der Schlußszene, wo ein einziger, symbolisch gemeinter Schlag der Guillotine den Tod der drei Gegner Robespierres anzeigt.
Musikalische Stilisierung statt szenischem Naturalismus: dieses auch in Reinkings Bühnenbildern streng durchgeführte Inszenierungsprinzip entband die Leistungen der singenden Darsteller zu zuchtvoller Freiheit ihrer stimmlichen und schauspielerischen Entfaltung. Überragend Dietrich Fischer-Dieskau als Danton: in Maske, Spiel und Gesang wahrhaft die Hauptfigur des Abends, zu der Helmut Melchert, stimmlich glänzend disponiert, als eitler, süffisanter Robespierre das dramatisch fesselnde Gegenstück bot. Im lyrischen wie im dramatischen Ausdruck scharf profiliert der Desmoulins Donald Grobes. Aus dem übrigen Ensemble ragten namentlich Martti Talvela (Richter) und die seelenvolle, wenn auch tonlich etwas blasse Lucile von Annabelle Bernard hervor.
Der starke, deutlich akzentuierte Schlußbeifall feierte mit Chor und Orchester, den Solisten und Leitern der Aufführung auch den anwesenden Komponisten.
Heinz Joachim
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Februar 1963
"Dantons Tod" von Sellner inszeniert
Premiere in der West-Berliner Oper
[...]
Boris Blacher und Gottfried von Einem haben Büchners Text "eingerichtet"; sie haben umgestellt, gekürzt, wenige Stellen verändert, Kontrastwirkungen verstärkt. Das Verfahren ist im Hinblick auf die Oper legitim. Auch die Gewichtsverschiebung zugunsten des Chors, des "Volkes", der anonymen, aber gefühlsstarken Masse, ist nach dem Vorbild des Mussorgskyschen "Boris Godunow" mit sicherer Hand durchgeführt. Resultat ist ein Libretto von hochveristischer Art; Griff ins revolutionäre Leben von 1794; Bilderbogen des Aufstandes; rücksichtslos im grausamen Realismus bis zum krachenden Fall des Guillotinenbeils.
Einem hat nichts Besseres komponiert als diese kurze zweiaktige Oper, die seit ihrer Salzburger Uraufführung 1947 auf deutschen Bühnen lebt. Sie ist ein dramatischer Wurf, hat Lebendigkeit, Farbe, Erfindung namentlich im Orchestralen. Die Wirkungsmittel des Singdramas sind geschickt und leichthändig kombiniert. Im Danton-Zimmer des ersten, im Gefängnisbild des zweiten Teils ist eine Art szenischer Kontrapunktik oder Ensemblesimultanität entwickelt, die Verdis Technik selbständig erweitert.
[...] Nun führt Gustav Rudolf Sellner Regie. Die Aufgabe liegt außerhalb seiner ureigenen Sphäre, und er begegnet ihr mit einer Wendung zum extremen Naturalismus, die überrascht. Reinking hat düstere Pariser Straßenbilder aufgebaut, eine Riesengasse für die Robespierre-Szene, eine schräg über die Bühnenbreite steigende Rampe vor der Conciergerie, auf der diagonal das Volk gegen die Wache rebelliert.
Im heutigen Zustand des Theaterbetriebs, wo Ensembles sich nach Kaleidoskop-Art wandeln, haben Probleme der Besetzung veränderten Sinn. Wir sahen in Wieland Wagners "Meistersingern", daß Partien gegen ihren Charakter besetzt wurden, und zwar ohne Not, aus einer prinzipiellen Auflehnung gegen das Überlieferte. In "Dantons Tod" ist umgekehrt eine Standardbesetzung versucht worden, namentlich mit Dietrich Fischer-Dieskau für die Titelpartie. Alles, was dieser begnadete Sänger und Darsteller macht, hat hohes Niveau, ist durchdacht und erlebt. In dieser Partie aber bleibt sein künstlerisches Potential merkwürdig unausgefüllt. Er singt, was denn zu singen ist, mit edlem Ton; er spielt die Tribunalszene mit Pathos und Geschmack. Dennoch bleibt ein Rest. Die Partie ist zu vordergründig.
Da hat es Donald Grobe mit Rhetorik und Tonfall des Camille Desmoulins leichter; alles paßt genau, und so wenig dieser glänzende Tenor für Wagners David geeignet war, so viele Wünsche er an italienischem Lyrismus im Rudolf der Film-Bohème übrigließ, so restlos füllt er hier den Typus aus. Helmut Melcherts charakteristische nasale Stimme gab dem Robespierre eine Aura von Hemmungen und Gepreßtheit, die seiner Gestik genau entsprach; so kann ein denkender Sänger Schwäche zur Tugend erheben. Schlechthin fehlbesetzt war die Lucile mit Annabelle Bernard. Dieser reizvolle lyrische Sopran hat die emotionelle Wärme nicht, die hier not tut; auch darstellerisch fehlte die leidenschaftliche Ergriffenheit, die Büchner und Einem im Sinne hatten.
Mit seiner Präzision und überlegenen Stabtechnik leitete Heinrich Hollreiser die Aufführung. Das Orchester klang transparent; die raschen Zeitmaße federten, der Kontakt mit der Bühne war vollkommen, auch mit den stark besetzten, durch Walter Hagen-Groll ausgezeichnet vorbereiteten Chören.
Es war ein Abend konventioneller, aber starker theatralischer Wirkungen. Gottfried von Einem und Boris Blacher quittierten nebst den Mitwirkenden einen herzlichen Erfolg.
H. H. Stuckenschmidt
Telegraf, Berlin, 12. Februar 1963
Revolutionsoper nicht revolutionär
"Dantons Tod" in der Deutschen Oper Berlin
Scheinwerfer vor der Deutschen Oper, im Eingangsraum, im Foyer. Man hat es für notwendig gehalten, der Premiere von Gottfried von Einems Oper "Dantons Tod" einen besonderen Akzent zu geben. Prominente Besucher wurden beim Betreten des Hauses und während der Pause gefilmt.
Der Abend wurde ein einhelliger Publikumserfolg. Oppositionelle Stimmen blieben diesmal aus; der lebhafte, anhaltende Beifall rief Sänger, Regisseur, den Dirigenten, den Komponisten, den Mitgestalter des Textbuches viele Male vor den Vorhang.
Wie kam es zu dieser nicht alltäglichen Bereitwilligkeit des Publikums, einem modernen Werk seine ungeteilte Zustimmung zu geben?
Das eigentlich Moderne ist dieser Oper, die 1947 in Salzburg zur Uraufführung gelangte, nur in einer begrenzten Dosis mitgegeben. Als textliche Grundlage haben Boris Blacher und der Komponist Georg Büchners erregendes Revolutionsdrama auf sechs Bilder zusammengezogen. Der weit in die Zukunft weisende Geist und die nuancierte Sprachkraft des genialen, frühvollendeten Dichters sind in die Oper eingegangen, wenn auch manche feinsinnige, gedanklich hintergründige Einzelheit dabei geopfert werden mußte. Von Einem ist kein Komponist des elfenbeinernen Turms. Er hat eine Begabung für theatralische Wirkungen. Die Verbindung mit der Tradition wahrend, zielt er auf direkte, illustrative Effekte ab. Seine Absichten sind nicht verschlüsselt und auch dem Hörer unmittelbar verständlich, der sonst mit neuartigen Klängen seine Mühe hat.
War bei Wagners "Meistersingern", der Oper des 19. Jahrhunderts, modernisierende, symbolisierende Stilisierung Trumpf, so half man dem Werk des zeitgenössischen Komponisten – Wilhelm Reinking hatte das Bühnenbild entworfen, Christel Räder die Kostüme – durch handfeste Realistik zur Wirkung. Sogar das niederschlagende Fallbeil gehört zu den optischen Mitteln. Gewiß, Büchners Drama ist im wesentlichen auf dieser schonungslosen naturalistischen Ebene angesiedelt, dennoch beleuchtet diese eigenartige Umkehrung die Vielschichtigkeit unserer problematischen Opernsituation. Die Inszenierung hatte Gustav Rudolf Sellner übernommen; er konnte seine Erfahrungen als Schauspielregisseur ungehemmt nutzen und ließ die ursprüngliche Dichtung hinter den Opernvorgängen durchscheinen. Heinrich Hollreiser dirigierte. Der Stil der Musik entsprach ganz seinem Musizierwillen.
Auf der Bühne stand Dietrich Fischer-Dieskaus Danton überragend im Mittelpunkt. Er schuf die differenzierteste Gestalt. Als seelisch versteinerter Robespierre erwies sich Helmut Melchert wieder als ein Charakterspieler von hohen Graden. Als Präsident des Revolutionstribunals fehlte es Martti Talvela an stimmlicher Durchschlagskraft. Innig, empfindsam-lyrisch und innerlich beteiligt sang Annabelle Bernard die Lucile. Donald Grobes Desmoulins vermochte vor allem stimmlich zu überzeugen. Manfred Röhrl als dämonisch-fanatischer St. Just, Ernst Krukowski als derb-zorniger Mann des Volkes, Rolf Björling als de Séchelles gaben prägnante Charakterisierungen.
Eine besondere Anerkennung verdient wieder der von Walter Hagen-Groll vorbereitete Chor, dem in diesem Musikdrama eine aktive Funktion zufiel.
Karl Rehberg
Telegraf, Berlin, 13. Februar 1963
Dantons Tod
Von Einems Oper in Berlin
[...]
Jetzt, 15 Jahre nach der Uraufführung, wurde Gottfried von Einems Frühwerk Dantons Tod in der Deutschen Oper Berlin neu zur Diskussion gestellt. Das Werk entstand in einer Epoche, die im Zeichen des Ungeheuerlichen stand. Von Einem kürzte mit seinem Lehrer und Freund Boris Blacher Büchners Revolutionsdrama in der Notzeit des zweiten Weltkrieges zu einem Opernlibretto. Uraufgeführt wurde Dantons Tod zu den Salzburger Festspielen 1947. Damals brannte das Feuer der Katastrophe noch in uns. Von Einems Oper wirkte daher – von allem Historischen abgesehen – wie ein Sinnbild des jüngst Erlebten. Indem das Grauen zur künstlerischen Form gebändigt wurde, verlor es an bedrohlicher Aktualität.
Heute trifft uns das Werk in einer anderen Situation an. Wir lassen uns von seinem revolutionären Sturm nicht mehr ohne weiteres überrennen, sondern legen schärfere ästhetische Maßstäbe an. Büchners Sprache, schwer beladen von gedrungener Gedankenfracht und ungestümer Bildkraft, zu vertonen, erscheint problematischer als je, zumindest im Danton, während sich die emotionalen Elemente des Wozzeck der Vertonung eher anbieten. Schon die ersten Takte der Partitur von Einems zeigen, daß er sich der fast verbindlichen Wendung zur Atonalität, zur Zwölfton-Komposition und zur seriellen Konstruktionsmusik nicht angeschlossen hat. So sympathisch diese Wendung gegen den Konformismus wirkt, so deutlich wird wieder, daß auf diesem Weg die Gefahr des Eklektizismus fast unvermeidlich ist. Im ganzen gehört von Einems Werk einem Opern-Typus an, den wir nicht mehr als ganz gegenwärtig empfinden.
Andererseits war aber offenbar gerade das eine der Ursachen für den ungewöhnlich starken Erfolg dieser Oper bei ihrer jetzigen Wiederaufführung. Sie begegnet uns in einem Augenblick, da die neuesten Kompositionsverfahren Ermüdungserscheinungen zeigen, was die Renaissance der Oper älteren Typs begünstigt. Besonders entspricht der musikalische Erregungsstil, den von Einem in den drei großen Chorszenen anschlägt, so offensichtlich einer nicht nur dem Kalkül entspringenden musikdramatischen Begabung, daß der neue Erfolg auch als Ermutigung gedeutet werden kann, auf diesem Weg weiterzugehen – was von Einem – mit Ausnahme der Vertonung von Kafkas Prozeß – in den vergangenen 15 Jahren bekanntlich nicht getan hat.
Zum anderen war der außerordentliche Erfolg einer Aufführung zu danken, die dank Gustav Rudolf Sellners Regie der Perfektion nahe kam. Er hat jetzt seine Künstler, Solisten und Chor, zu einer Disziplin erzogen, die auf alles mimische Operngetue verzichten kann. Die geistige Konzentration, die Sellners Schauspielregie auszeichnet, konnte er jetzt zum erstenmal ohne Rest auf der Opernbühne anwenden. Seine Regie von Dantons Tod bewegt sich auf demselben Rang wie bei Shakespeares Richard III., den er kurz zuvor in Barlogs Schiller-Theater herausgebracht hatte. Damit konnte die Deutsche Oper jenen Standard erreichen, den Sellner als sein Ziel bezeichnet hat. Als Danton und Robespierre standen sich zwei Künstler wie Dietrich Fischer-Dieskau und Helmut Melchert gegenüber, auch das verbürgte Außerordentliches; und doch hatte Fischer-Dieskau als Danton nicht die Möglichkeit, all seine Qualitäten zu präsentieren. Annabelle Bernard und Donald Grobe ergänzten das hervorragende Ensemble. Am Pult kam Heinrich Hollreiser zu seinem ersten uneingeschränkten Erfolg in Berlin. Hollreisers musikalische Intensität war nicht der geringste Beitrag zu dem Gelingen dieser Aufführung, die von Einems Frühwerk einen zweiten Weg über die deutschen Bühnen eröffnen dürfte.
Friedrich Herzfeld
Tagesspiegel, Berlin, 12. Februar 1963
Revolution als Schaustück
"Dantons Tod" – Gottfried von Einems Büchner-Vertonung in der Deutschen Oper Berlin
[...]
Der Stoff hat auch heute, da seine unmittelbare Zeitbezogenheit vergangen ist, seine Bedeutung behalten: die Paradoxie, daß die Menschenrechte durch Blut und Mord bestätigt werden, ist zu jeder Zeit einer Tragödie wert. Das Schauspiel Georg Büchners, das das Grauen des Stoffes durch blendende Zynismen der sprachlichen Form kontrapunktiert, ist als literarischer Wert unangetastet geblieben. Aber gerade auf die Dialoge, die Exkurse sprachlicher Brillanz, mußte der Textbearbeiter Boris Blacher verzichten, denn die musikalische Diktion verlangt lapidare Einfachheit. Er mußte auch die freie, in flatternde Szenen zerstäubte dramaturgische Form in ein festes Gerüst von sechs Bildern verwandeln. Von Büchner bleibt wenig übrig. Das Problem der Literaturoper besteht auch hier: Wer die literarische Vorlage kennt, vermißt in der Oper gar zu vieles, das ihm wert und teuer ist. Freilich sind die historischen Akteure geblieben: Der träge, todessüchtige, vom Morden ermüdete Epikuräer Danton, der erst vor seinen Richtern, als es zu spät ist, die Kraft zur Größe wiederfindet und seine Passivität mit dem Tode auf dem Schafott büßt, sein mystisch-rationalistischer Gegenspieler Robespierre, der kalte, dürre Exponent der Tugend und der politischen Abstraktion; der edle Camille Desmoulins, der zu Grunde geht, weil er das Wort "Erbarmen" aussprach, und seine Frau Lucile, die im Wahnsinn endet; die finsteren und skurrilen Komparsen der Revolution, das dumpf aufbegehrende, von Parolen gelenkte Volk – und am Ende die Vollstreckerin des allgemeinen, grausigen Schicksals, die Guillotine.
Was ist aus alledem heute auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin zu machen? Drama, Erlebnis, dichterisches, musikalisches Gleichnis – oder "Theater"?
Der Regisseur, Gustav Rudolf Sellner, hat die Antwort gegeben. Er spielt grandioses, opulentes, mit krassen Mitteln operierendes Theater, er macht die blutige, schreckliche Revolution zur dekorativen Schau. Ist das, was hier gezeigt wird, der Neorealismus, der von Osten eindringt, ist es der Einfluß des historischen Schaufilms aus Amerika, oder ist es Reminiszenz dessen, was die Meininger und Reinhardt vor Menschenaltern gespielt haben? Der Sturm des Aufstands wird zum Tableau, das Volk zieht auf mit Fahnen und Standarten, die Revolution scheint durch das Atelier Davids (oder Makarts?) hindurchgegangen zu sein. Der Bühnenbildner Wilhelm Reinking gibt pittoreske, gespenstische Sichten hoher, öder Häuserfronten, die Kostümbildnerin Christel Räder liefert eine Fleißarbeit historisch treuer Trachten, die durch die fast photographische Akribie des Maskenbildners ergänzt werden. Das Revolutionstribunal, ein hochansteigendes Theater von Uniformen, Federbüschen und Trikoloren, fordert den Beifall heraus, das Beil der Guillotine fällt am Ende krachend herab, dem Zuschauer bleibt nichts erspart. Aber wenn er das alles überlebt hat, fragt er sich doch, wozu eigentlich Jessner, Fehling, Klemperer gelebt haben, wozu der Schauspielregisseur Gustav Rudolf Sellner ein Theater des Wesentlichen auf die Szene gestellt hat.
Heinrich Hollreiser, der die Musik gegen die Übermacht der Szene zu vertreten hat, gibt ein klares, temperamentgeladenes Bild der Partitur, er steigert die dramatischen Ausbrüche zu packender Vehemenz und musiziert die konzertanten Partien mit feinem Geschmack. Gesungen wird durchweg hervorragend. Danton ist Dietrich Fischer-Dieskau, im roten, langschößigen Rock paradierend wie ein Denkmal seiner selbst, verhalten in den Nuancen der Untätigkeit, in Genußsucht, Lebensekel und Fatalismus, ernst in seiner Verteidigungsrede vor dem Tribunal ausbrechend mit allen aufgestauten Kräften seines Wesens, mit der sonoren Rhetorik des großen, von seiner Sendung überzeugten Demagogen. Dietrich Fischer-Dieskau gibt die leisen und die lauten Momente der Figur mit der Mischung von Intuition und Bewußtheit, die das Geheimnis seiner Begabung ist, aber er ist ein viel zu ehrlicher Interpret, als daß er der Versuchung zum "Theater", die in der Partie steckt, ganz ausweichen könnte. Helmut Melchert als Robespierre gibt eine seiner unheimlichen, mit schneidender tenoraler Schärfe gezeichneten Charaktergestalten, Donald Grobe und Annabelle Bernard, Camille und Lucile, vertreten mit stimmlichem Glanz das wichtige kantable Element der Partitur. Unter den kleineren Partien heben sich der kräftige Tenor Rolf Björlings als Hérault, der Baß Manfred Röhrls als Saint Just, der Bariton Martti Talvelas als Herrmann ab; Ernst Krukowski, Carlo Covadi, Alice Oelke sind die Chargen. Der stimmstarke Chor beherrscht die Bühne und gibt den Äußerungen des wankelmütigen Volkes vom "Hoch" und "Nieder" bis zur Carmagnole revolutionären Elan.
Der Beifall war stark und einhellig, Komponist, Textbearbeiter, Dirigent, Regisseur und Darsteller kamen oft vor den Vorhang. War es ein großer Abend der modernen Opernbühne? Auf die Guillotine mit dem Kritiker, der an die Musik glaubt; es lebe das Theater!
Werner Oehlmann
Berliner Morgenpost, 12. Februar 1963
Büchner bleibt Sieger
"Dantons Tod" in der Deutschen Oper
Wahrheitsgemäß ist vorweg zu berichten, daß "Dantons Tod" in der Opernfassung Gottfried von Einems die einhellige, überschwengliche Zustimmung der Premierenbesucher der Deutschen Oper fand. Und dann ist zu sprechen von den Bedenken gegen die Wahl dieses Werkes. Ein Opernhaus, dessen Repertoire mehr als nur die "Zauberflöte" fehlt, sollte – obendrein im Verdi-Wagner-Jahr – andere Aufgaben haben als diese Oper gegen den Schauprozeß. Ferner: Muß hier und heute im Schatten der Mauer ausgerechnet so ein Schauprozeß vorgeführt werden zur theatralischen Erbauung? Und drittens: Lohnt es, daß man diese Oper, die 1945 entstanden ist und damals vielleicht eine gewisse Berechtigung hatte, jetzt wieder zeigt? Nein, es lohnt nicht. Dafür scheint mir ihre Musik zu dürftig.
Um dem kraftstrotzenden, ideenreichen Drama Büchners gerecht zu werden, müßte sie beispielsweise auf die kalte Monumentalität von Strawinskys "Oedipus" oder auf den fiebrigen Expressionismus von Alban Bergs "Wozzeck" gestimmt sein. Was aber macht sie? Gesichtslos, ohne Saft und Kraft plätschert sie neben dem Text her, stärkt sich bei etlichen Vorbildern und tut niemandem weh. Gerade das aber müßte sie tun, wenn man in ihr das fressende Feuer von Büchners rebellischem Genie brennen sehen sollte.
Wo sie einen gewissen Effekt macht, in den Chorszenen, geniert sie sich nicht, altes Geschütz wie die Carmagnole und die Marseillaise aufzufahren; das trifft todsicher ins Ziel und gibt Zeitkolorit.
Mit so abgenutzten Opernschablonen ist Büchner allerdings nicht beizukommen, und es erhebt sich zudem die Frage, ob der "Danton" überhaupt Musik duldet; ob es zum Beispiel angeht, Sätze wie "Die Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gegangen" singen zu lassen.
Ich finde, es geht nicht, und halte im übrigen zu große Stücke von Büchner, als daß ich mir seinen Text unverständlich machen lassen möchte durch Musik von solchem Stil und Profil.
Daß sie aber auch ihr Gutes hat, diese Musik, wird niemand dankbarer anerkennen als Heinrich Hollreiser. Er erringt mit der Wiedergabe der Partitur, die durch Lautstärke Vitalität vortäuscht, einen unwidersprochenen Erfolg, auch für das achtsam spielende Orchester.
Dem Regisseur kann dieser "Danton" ebenfalls nur willkommen sein, denn er braucht sich um die Musik nicht zu kümmern und kann in den milieugerechten Bühnenbildern Wilhelm Reinkings nach Herzenslust Büchner inszenieren. Oder zumindest das, was von dessen dramatischem Freskobild der Französischen Revolution in der empfindlich gekürzten Textfassung übriggeblieben ist.
Das tut Gustav Rudolf Sellner denn auch recht wirkungsvoll und ohne sich zu originellen Experimenten verführen zu lassen. Ihm unterlaufen Ungereimtheiten eigentlich nur in der Gefängnisszene und bei den erstaunlich deutlich singenden Chören, die mehr aufgebaut als bewegt wirken.
Wie unter Sellners Regie Dietrich Fischer-Dieskau den Danton in porträtgetreuer Maske anschaulich macht als trägen, elegant-saloppen Ästheten, der zum Löwen der Revolution emporwächst, das dürfte so bald seinesgleichen nicht haben.
Ebenso zu packen versteht Fischer-Dieskau mit seiner intelligenten gesanglichen Leistung; aus vielen leisen Zwischentönen zusammengesetzt, gipfelt sie in dem vulkanhaften Ausbruch vor dem Revolutionstribunal.
Schade nur, daß hier der Gegenspieler fehlt, Was da in Schwarz präsidiert, ist eine Attrappe, ein provinzieller Opernbösewicht, den Martti Talvela leider auch so singt.
Daß Robespierre sich zum gleichrangigen Gegner Dantons hochspielen könnte, verwehrt das Textbuch, indem es dem "Unbestechlichen" nur eine Szene läßt. Diese freilich wird von Helmut Melchert beklemmend gefüllt. Hier steht der eitle, marmorkalte Dämon der Revolution, umwittert von der Einsamkeit eines tückischen, gekränkten Schulmeisters.
Die seelische Zerrissenheit des Camille Desmoulins macht Donald Grobe recht glaubhaft, doch bedarf sein schöner Tenor anscheinend der Schonung.
Annabelle Bernard als seine Frau Luicile geht wie eine stille exotische Marionette durch ihre Szenen und läßt weder am Gefängnis noch am Schafott etwas von lieblichem Wahnsinn erkennen; ihr schmaler, wenn auch intensiver Sopran klingt nicht immer tonrein.
In kleineren Partien bleiben Rolf Björling und Manfred Röhrl blasser als etwa Ernst Krukowski, der den unflätigen Aufwiegler Simon ebenso lebensecht ordinär darstellt wie Alice Oelke, seine zungenschnelle Frau.
Der Abend wurde, wie gesagt, ein lauter Erfolg für alle Beteiligten. Auch für Einem? Ich glaube eher, für Büchner – trotz Einem.
Rudolf Bauer
Der Abend, Berlin, 11. Februar 1963
Beifall wie nach Verdi
Sellners großer Erfolg: "Dantons Tod" in der Deutschen Oper
Selten findet eine zeitgenössische Oper einen einmütigen Publikumserfolg. Bei der Premiere von "Dantons Tod" in der Deutschen Oper trafen alle Faktoren glücklich zusammen: Büchners Drama in geschickter Konzentration als Handlungsbasis, Gottfried von Einems dramatisch packende Musik und eine großartige Wiedergabe. Sellners Aufbauarbeit errang an diesem Abend einen ihrer uneingeschränktesten Siege.
[...]
Wir kennen den Hergang aus Büchners feurigem Revolutionsdrama, das Piscator und Vilar zuletzt in Berlin spielten. Auch Sellners Regie profitiert spürbar von seinen Erfahrungen mit dem Klassiker.
Gottfried von Einem, der österreichische Komponist, hat den hochkarätigen Text gemeinsam mit seinem Lehrer Boris Blacher sinnvoll zusammengezogen; wenige wichtige Personen, das Übermaß der Szenen auf sechs Bilder reduziert, die langen Reden verknappt, die treibenden Ideen bewahrt, die persönlichen Motive neben den politischen an ihrem Platz.
Einen Musiker mit dramatischer Ader wie Einem fügte sich das Ganze wie von selbst zu zwei gleichgewichtigen Teilen.
Der Lebensgenießer Danton in der Exposition, die einzige Direktbegegnung mit dem "Blutmessias" Robespierre, das von Dantons Verhaftung überschattete Liebesidyll Camille-Lucile. Soloauftritte und Chorszenen, verbunden durch beredte Orchesterzwischenspiele. Die Sprache der Instrumente deckt unausgesprochene Gedanken auf, am großartigsten in der Soloszene Robespierres.
Zweiter Teil: Der Kontrapunkt zwischen dem verhetzten Volk vor dem Gefängnis und den trüben "Nachtgedanken" der beiden Inhaftierten, die in dem Terzett mit der wahnsinnigen Lucile einen Gefühlshöhepunkt erreichen. Die große Volksszene vor dem Revolutionstribunal mit der ariosen Polemik Dantons, die in Tumult endet. Eines der schönsten Zwischenspiele leitet zu dem Epilog unter der Guillotine über. Er wird vom selbstvergessenen Rundtanz um das Blutgerüst, von dem sentimentalen Henkerlied und von Luciles ergreifendem Schlußgesang suggestiv geprägt.
[...]
Ausgesprochen gut disponiert war diesmal das Orchester unter Heinrich Hollreiser. Einems Partitur inspirierte ihn zu einem genau durchgeformten, klangschönen und disziplinierten Musizieren, wie wir es selten von ihm erlebten. Durch Tonfülle, Präzision und Intensität empfahl sich die von Walter Hagen-Groll vorbereitete Chorleistung.
Gustav Rudolf Sellner gliederte die Massenbewegung und führte eine bis in die kleinste Geste durchdachte Regie im Stil eines gedämpften Realismus. Hervorragend waren Wilhelm Reinkings Bühnenbilder. Sie machen die Aufführung zu einer Sehenswürdigkeit.
Die Hörenswürdigkeit wird durch die Besetzung gewährleistet. In ihrer Mitte steht Dietrich Fischer-Dieskau als Danton, nicht als einsamer Star, sondern durchaus als Ensemblemitglied. Seine gesanglich-darstellerische Charakteristik des fallenden Revolutionshelden ist in ihrer stimmlich üppigen, klugen Anlage unantastbar. Fast noch höher ist zu bewerten, daß er auf billigeren Ruhm in allbekannten Partien verzichtet und sich (nach Henze, Berg, Hindemith) abermals so entschlossen der modernen Oper widmet.
Helmut Melcherts Charaktertenor gestaltet Robespierre zum markanten Gegenspieler. Annabelle Bernard findet die Töne rührender, entrückter, hingebungsvoller Liebe für Lucile, die menschlichste Figur der Oper. Donald Grobe ist als Camille wieder in seinem lyrischen Fach und produziert Töne von weichem Glanz. Der junge Schwede, Rolf Björling, zum erstenmal zu hören, hat sich noch nicht freigesungen. Zu weich für den strengen St. Just ist der schöne Baß von Manfred Röhrl. Krukowski und Talvela sind noch hervorzuheben.
Große Pausenparade im endlich einmal hell erleuchteten Foyer. Beifall wie nach Verdi.
Wolfgang Schimming
Der Tag, Berlin, Datum unbekannt
Atemberaubendes Schauspiel mit Musik
"Dantons Tod" von Gottfried von Einem in der Deutschen Oper Berlin
[...]
Man versteht, daß der Komponist, den persönliche Erlebnisse 1944 ohnehin hart an das katastrophale, von der Diktatur umschattete Zeitgeschehen heranführten, sich für die Tragödie um Danton begeisterte. Zwar ist sein Libretto nur eine die Bekanntschaft mit Büchners Drama voraussetzende bunte Szenenfolge, die, so aufgeregt sich auch der Chor des charakterlosen Pariser Volkes gebärdet, eigentlicher Zielstrebigkeit entbehrt, aber es weht ein revolutionärer Feueratem durch das Ganze, und an diesem Atem hat sich Einems Musik entzündet. Es ist die Musik eines kundigen, atonalen Abenteuern aus dem Wege gehenden Eklektikers, der mit sicherer Hand die Vorgänge illustriert und plakatiert, sie aber nicht musikalisch vertieft. Für diese Vertiefung fehlt es dieser Musik an persönlicher Eigenart, an zwingender Melodik, an formorganischer Schlüssigkeit. Sie hat deklamatorische Kraft, sie wirkt unheimlich in den orchestralen Zwischenspielen, sie erfüllt die Volksszenen mit dämonischem Leben, und wenn sie auch nicht eigentlich persönlich-neu wirkt, so wird sie doch nie banal – auch nicht dort, wo aus der "Masse Mensch" die einzelnen auftauchen und, wie zum Beispiel Lucile, die Gattin des Camille Desmoulins, vom Glück und Leid des Menschenherzens singen.
Für die Berliner Aufführung hatte Intendant und Inszenator Gustav Rudolf Sellner die reichen Mittel seines Hauses glücklich eingesetzt. Man erlebte ein prachtvoll buntes, atemberaubendes Spektakel auf der Bühne, in welchem die Straßenszenen und das Revolutions-Tribunal besonderen Eindruck machten. Hier wurde das Mit- und Gegeneinander der Volksmassen von einem überlegenen Gestaltungswillen gelenkt. Wilhelm Reinkings Bühnenbilder mit ihren hochragenden, fahlgrauen Häuserfronten paßten gut zum Naturalismus der Aufführung.
Unter den Einzelspielern ragte Dietrich Fischer-Dieskau als Danton hervor, der seiner Rolle erschütternde Wahrhaftigkeit zu geben wußte. Dem dämonischen Bösewicht Robespierre verlieh Helmut Melchert treffende Züge. Donald Grobe war mit Erfolg um den lebensfrohen Camille Desmoulins bemüht, dessen Gattin Lucile Annabelle Barnard Ophelia-Züge zu geben wußte. Neben den Genannten sah man unter anderen Renate Mühl (Julie), Manfred Röhrl (St. Just), Ernst Krukowski (Simon), Rolf Björling (de Séchelles) und Martti Talvela (Herrmann).
Als musikalischer Leiter machte Heinrich Hollreiser die Sache Einems zu seiner eigenen und gewann dem Orchester, den Solisten und dem von Walter Hagen-Groll einstudierten Chor ein Höchstmaß von klangfrohem und zuverlässigem Musizieren ab. Die schauenden Hörer spendeten am Schluß starken Beifall.
Erwin Kroll
Süddeutsche Zeitung, 11. Februar 1963
Sellner und die Diktatoren
Shakespeares "Richard III" und Einems "Danton" in Berlin
[...]
Im übrigen offenbart dieser Danton sich als Gebrauchsoper. Die Partitur ist auf erstklassige Schauspielinszenierung angewiesen und auf Künstler wie Helmut Melcher (Robespierre) und Dietrich Fischer-Dieskau (Danton), deren musikalische Intelligenz, stimmliche Befähigung und darstellerische Intensität nicht eine Sekunde Zweifel an ihrer "Weltklasse" aufkommen lassen. Dann allerdings kann ein triumphaler Erfolg zustande kommen, wie er in Berlin erzielt wurde. Daß Fischer-Dieskau, natürlich Star der Aufführung, gleichwohl dem Robespierre weichen mußte, lag einzig daran, daß die Musik mehr übrig hatte für die Magie eines tötenden Schweigsamen als für den Schwung des Schönredners, der sich die Schlinge des Selbstmords aus Weltekel um den Hals legt und sie erst dann abstreifen möchte, wenn es viel zu spät ist.
Joachim Kaiser
Neue Zeitung für Musik, April 1963
Revolution als Schaustück
"Dantons Tod" -- Gottfried von Einems Büchner-Vertonung in der Deutschen Oper, Berlin
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Heinrich Hollreiser, der die Musik gegen die Übermacht der Szene zu vertreten hat, gibt ein klares, temperamentgeladenes Bild der Partitur, er steigert die dramatischen Ausbrüche zu packender Vehemenz und musiziert die konzertanten Partien mit feinem Geschmack. Gesungen wird durchweg hervorragend. Danton ist Dietrich Fischer-Dieskau, im roten, langschössigen Rock paradierend wie ein Denkmal seiner selbst, verhalten in den Nuancen der Untätigkeit, in Genußsucht, Lebensekel und Fatalismus, erst in seiner Verteidigungsrede vor dem Tribunal ausbrechend mit allen aufgestauten Kräften seines Wesens, mit der sonoren Rhetorik des großen, von seiner Sendung überzeugten Demagogen.
Dietrich Fischer-Dieskau gibt die leisen und die lauten Momente der Figur mit der Mischung von Intuition und Bewußtheit, die das Geheimnis seiner Begabung ist, aber er ist ein viel zu ehrlicher Interpret, als daß er der Versuchung zum "Theater", die in der Partie steckt, ganz ausweichen könnte. Helmut Melchert als Robespierre gibt eine seiner unheimlichen, mit schneidender tenoraler Schärfe gezeichneten Charaktergestalten, Donald Grobe und Annabella Bernard, Camille und Lucile, vertreten mit stimmlichem Glanz das wichtige cantable Element der Partitur. Unter den kleineren Partien heben sich der kräftige Tenor Rolf Björlings als Hérault, der Baß Manfred Röhrls als Saint Just, der Bariton Martti Talvelas als Hermann ab; Ernst Krukowski, Carlo Covadi, Alice Oelke sind die Chargen. Der stimmgewaltige Chor beherrscht die Bühne und gibt den Äußerungen des wankelmütigen Volkes vom "Hoch" und "Nieder" bis zur Carmagnole revolutionären Elan.
Werner Oehlmann