Zum Liederabend am 14. März 1963 in Kassel

Kasseler Post, 16. März 1963

Repräsentant deutscher Liedkunst

Dietrich Fischer-Dieskau sang im 10. Meisterkonzert Schuberts "Winterreise"

Die Liederabende Dietrich Fischer-Dieskaus bilden einen festen Bestandteil der Meisterkonzertreihe. Er kann als der populärste Repräsentant deutscher Liedkunst gelten. Das Publikum liebt ihn. So wurde er auch bei seinem diesjährigen Erscheinen im Stadthallenfestsaal herzlich begrüßt und fand wie stets ein vollbesetztes Haus.

Der Sänger gibt dem Liederzyklus gegenüber gemischten Konzertprogrammen den Vorzug. Im Vorjahre brachte er "Dichterliebe" von Schumann und Teile von Schuberts "Schwanengesang". Er wählte jetzt "Die Winterreise" von Schubert, das Pendant zu der "Schönen Müllerin". Hat letztere Liedreihe einen erzählenden Zusammenhang aufzuweisen, ist dieser in der Winterreise nicht gegeben. Er wird auf andere Weise erreicht. Die Reise führt nicht durch Orte oder Landschaften, sondern durch Stimmungen, die das Erlebnis des Winters, des Todes, auch des Sterbens einer Liebe beinhalten. Im Grund handelt es sich in den 24 Liedern um ebensoviele Variationen der gleichen Grundstimmung schmerzlicher, selbstquälerischer Entsagung. Sogar der "Frühlingstraum" birgt bittere Aspekte.

Diese Ähnlichkeit im Stimmungscharakter der Lieder bürdet dem Sänger ein hohes Maß an technischer wie geistiger Gestaltungskraft auf, die Fischer-Dieskau besitzt wie kaum ein anderer. Der hochgebildete, intelligente Sänger ist mit der Winterreise, die seit langem zu seinen bevorzugten Werkinterpretationen gehört, aufs innigste vertraut. Er weiß um jede Stimmungsnuance, die vom Dichterwort gezeugt, sich in musikalische Poesie umsetzt, die oft nur andeutet und manches im Innersten zu verbergen trachtet. Diese Verhaltenheit, das leise Anklingenlassen, überträgt sich im klugen Dosieren und Entfalten der Kräfte auf die sängerische Gestaltung. Das ist wohlbegründet und nicht nur eine sängerische Manie. Es gibt keinen Liederkreis, in dem die Zwischentöne so vorherrschen wie hier. Man sehe sich daraufhin einmal die Tonartenwahl an. Es ist ein ständiges Fluktuieren zwischen vorherrschendem Moll und Dur, ein Beben seelisch-tragischen Ausdrucks, der nur selten sich zu einem kurzen Lichtblick aufrafft. Auch das oft so mißverstandene weil hinausgeschmetterte Lied "Die Post", das in der Originaltonart zwischen Es-Dur und es-Moll schwankt, will keinen Jubel, sondern am Schluß einen Aufschrei der Enttäuschung und Verzweiflung, da kein Brief von der Liebsten das Bangen endet.

So ist jedes der 24 Lieder ein Kleinod, wert, Takt für Takt angesehen zu werden, um all die vielen Schönheiten und Bezüge wahrzunehmen, die Schubert im Nacherleben des Dichterwortes ausstreut. Man denke z.B. an den "Wegweiser", in dem das starre Festhalten an einem Ton den einen Wegweiser heraushebt, der unausbleiblich zum Grabe führt, oder an den "Leiermann" mit seinen Dudelsackquinten. Der ganze Zyklus ist ein Gesang der Einsamkeit und Verlassenheit. Daß Schubert die meisten Lieder durchkomponiert und kaum einmal im Strophischen verharrt, hat seine Begründung in dem inneren Zusammenhang, dem alle Lieder unterworfen sind, so daß sie ineinander überzugehen scheinen. Diese Bindungen deutlich gemacht, das Psychologische, Ur-Romantische einer in sich verlorenen Empfindungswelt nahegebracht zu haben, muß man dem Sänger ohne Einschränkung zubilligen. Man kennt das warme, dunkle, verhangene und wieder aufstrahlende Timbre dieser ausgereiften Stimme, das jeder seelischen Regung Ausdruck zu geben vermag, in einer Eindringlichkeit, die 2000 Menschen fesselt und ergreift. Das gelingt ohne irgendwelche sängerischen Allüren, jeden Aufwand, oder gerade, weil der Künstler nicht mehr sein will, als Werkzeug dessen, was Dichter und Komponist in ihrer Brust bargen. Und dies ausschließlich durch ein differenziertes, beseeltes Ausdrucksvermögen, ein feinnerviges Zugreifen, das im meisterlichen mezza voce seine tiefsten Wirkungen erreicht.

Als vortrefflicher Begleiter sekundierte wie immer Günther Weißenborn, dessen ursprüngliche Begabung des klavieristischen Ausleuchtes der sängerischen Leistung ein Genuß für sich war. Wie bei früheren Liederabenden umdrängten die begeisterten Hörer das Podium, eine Zugabe fordernd, die nicht zu erwarten war. Die Einheit des Abends, durch keine Pause gestört, wäre dahin gewesen.

Georg Rassner

    

     Hessische Allgemeine, 16. März 1963     

   

Ein Sänger ohne Pose

Dietrich Fischer-Dieskau sang im Meisterkonzert Schuberts "Winterreise"

    

Noch vor wenigen Jahren konnte man vom Schicksal des Liedes nur ein trauriges Lied singen. Das Lied, das einstmals als Inbegriff unverwechselbarer deutscher Wertarbeit in Dichtung, Vertonung und Vortrag galt, wurde im Zeitalter des Volkswagens und des Managers, des Startums und der sogenannten, mit vielen beschämenden und beängstigenden Äußerlichkeiten verbundenen künstlerischen Sensation und der perfektionierten und zugleich konfektionierten Technik zum Tode verurteilt, Das konnte kaum anders sein, denn wer Lieder, jenes Konzentrat des Individualismus und Inbegriff des Alleinseins mit Gedanken, Bildern und Gefühlen sang, der mußte auf dem Podium ungeschminkt und bar jeder Kulisse den Wert seines Künstlertums erproben. Und das fiel den meisten Sängern schwer, da es ohne Sensation und Äußerlichkeiten geschehen mußte. Und wagte dennoch ein Künstler einen Liederabend, so blieb das Publikum fern; es hatte Seumes Wort, daß Bösewichter keine Lieder haben, vergessen.

Bis dann das Unerwartete geschah, daß Liederabende gleichsam gestürmt wurden, daß ein einzelner Sänger, Dietrich Fischer-Dieskau, eine weltweite Begeisterung für das deutsche Lied hervorzauberte. Für viele war und ist es sicher seine Stimme, die als eine der schönsten, wenn auch nicht größten unserer Zeit gilt, die technisch-handwerklich bis ins letzte geschult ist, aber ausschließlich in den Dienst des musikalischen Kunstwerks gestellt wird. Von ihr geht jedoch der geringere Teil der Faszination aus, das eigentliche Ereignis liegt in der Art der Liedgestaltung, über die hier schon mehrfach in den stärksten Ausdrücken berichtet wurde. Fischer-Dieskau hat den Mut zum Gefühl, er hat eine unerhörte Reinheit der Empfindung und den Glauben an das Herz, und er kann es wagen, von Trauer und Schmerz, Entsagung und Verzicht, von Blüten und Träumen zu singen, von Dingen also, die – selbst mit ironischem Unterton – zu erwähnen, vor dem Beginn seiner Karriere fast als altmodisch gegolten hätte.

Kein Wunder, daß die Abonnenten der Laugsschen Meisterkonzerte immer wieder nach diesem begnadeten Sänger verlangen, und es ist ihnen sicherlich weit mehr ehrliches Bedürfnis als gesellschaftliche Pflicht, mit dabei zu sein. Und an die 2000 Besucher lauschten im 10. Meisterkonzert in der Kasseler Stadthalle atemlos seiner Interpretation von Schuberts genialer "Winterreise", mit der ihn ein geheimes Band verbindet, das nicht Stimm- und Geisteskräfte allein geknüpft haben. Hinzu tritt hier eine Identifikation von Lied und Sänger, der ohne jede Pose, dafür aber mit einer fast bestürzenden Naivität des Empfindens die verborgenste Regung eines Gedichtes seismographisch genau aufzeichnet. Und man nimmt es ohne Murren hin, daß er in seinem Bemühen, in die seelischen Untergründe eines Liedes hineinzuhorchen, gelegentlich den natürlichen Ablauf des melodischen Einfalls etwas aufhält.

Eine Charakterisierung der einzelnen Lieder wäre nur eine Reihung von Superlativen und eine Wiederholung des bereits Gesagten. Hier war Musik als etwas Intimes wiederentdeckt worden, es war ein Musizieren auf der Grenze zur Stille, eine Sensation, die gleichsam von innen her aufbrach und das Publikum am Schluß des ohne Pause durchmusizierten Zyklus zu stürmischem Beifall veranlaßte, in dem auch sein Begleiter Günther Weißenborn eingeschlossen war, der den Klaviersatz wie kleine Kostbarkeiten nachzeichnete.

Josef Quinke

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