Zum Liederabend am 22. März 1963 in Stuttgart

Stuttgarter Zeitung, 25. März 1963

Klassische Welt des Sängers

Fischer-Dieskaus Schubertinterpretation

Über einen Niveauschwund des Liedgesanges und der Liedinterpretation haben wir uns nicht zu beklagen. Bedeutende Liedersänger haben ihr festes Publikum aus weiten Schichten der Bevölkerung: der Besuch ihrer Konzerte, bei vielen Hörern durch Schallplatte, Hörfunk und Fernsehen veranlaßt, bestätigt immer wieder den unmittelbaren Kontakt mit dem Hörer beim öffentlichen Auftreten als Plus gegenüber der mechanischen Übertragung. Die eigentliche Welt des Sängers sind Konzertsaal und Bühne. Die drei Liedinterpreten aus dem Baritonfach Fischer-Dieskau, Prey und Souzay sind zugleich auch Bühnensänger. Daß sie die beiden so verschiedenen Wirkungsbereiche zu trennen verstehen und sie in der technischen Erscheinung der Stimme wie im musikalischen Ausdruck reinlich auseinanderhalten, ist ihre Stärke als Musiker und Sänger.

Über die Eigenart des männlich bestimmten, lyrisch variablen in den Ballungsstellen deklamatorischer und balladesker Lieder mit kräftigen Akzenten sich ausgebenden Baritons von Dietrich Fischer-Dieskau ist kaum noch etwas Neues zu sagen. Die Kunst der dynamischen Übergänge, die Ausgeglichenheit der Lagen und das vollendete Aussingen der melodischen Phrasen ist dieselbe geblieben. Seine Stimme stellt (neben Prey und Souzay) das ideale Instrument des Liedgesanges dar. Noch ausgesprochener in der schon zu Anfang seiner Laufbahn als Liederinterpret eingeschlagenen Richtung ist sein Verhältnis zum Lied Schuberts geworden.

Der Vorwurf – man findet ihn da und dort in der Beurteilung seiner Schubertdeutung – Fischer-Dieskau singe Schubert mehr mit dem Verstand als mit dem Herzen, ist, so direkt formuliert, nicht angebracht. Richtig ist, daß sein Verhältnis zum Lied ein alle Elemente der Form und des Ausdrucks vorsichtig abtastendes Nachspüren, ein die Möglichkeiten der innersten Wirkungen klug sondierendes Gliedern und Aufbauen darstellt. Daraus resultiert keine kühle Distanz zum innersten Kern des Liedes, sondern eine geistige Auslese, die der formal-tektonischen Erscheinung des Liedes, seiner textlichen Bezogenheit, seiner musikalischen Nuancen dient, es aber erst in zweiter Linie als spontanen Herzenserguß ansieht. Fischer-Dieskau erhebt das Besondere der Intimsphäre des Schubertliedes zum Allgemeinen großer Kunst oder, anders gesagt, aus der familiären Traulichkeit der Kammermusik in die Weiträumigkeit großer Konzertsäle. Als anschaulichstes Beispiel kann man eine seiner Zugaben "Nachtviolen" anführen. Alles war da: die verhangene Stimmung, die Entfaltung der Natur- und Herzenslyrik, aber projiziert aus romantischer Unmittelbarkeit des Gefühls in eine beinahe klassische Objektivität.

Ganz unmittelbar jedoch die Wirkung des "Erlkönigs", den Fischer-Dieskau in seiner balladesken Rhapsodik haargenau traf. Wundervoll abgestimmt Schillers "Gruppe aus dem Tartarus", von starker Gegensätzlichkeit "Der Wanderer". Besonders dankbar sind wir Dietrich Fischer-Dieskau dafür, daß er zu den vielen bekannten Standardnummern des Schubertliedes auch unbekanntere wertvolle Stücke hinzugesellt. Vorbildlich Günther Weißenborns Begleitungskunst, der pianistisch und musikalisch die vollkommene Einheit von Stimme und Instrument gelang. Fischer-Dieskau wurde mit stürmischen Ovationen der Tausende im Beethovensaal bedacht.

wf

   

     Stuttgarter Nachrichten, 25. März 1963     

    

Psychologisches Orchester für eine Stimme

Schubert-Abend von Dietrich Fischer-Dieskau

   

Dietrich Fischer-Dieskaus alljährliche Liederabende in Stuttgart sind die wahren, die inneren Höhepunkte unseres Konzertlebens. Daß ein Liedsänger den riesigen Beethovensaal überfüllt, wäre schon ein Unikum; daß Fischer-Dieskau dies vermag, ohne einen Schritt von seiner strengen künstlerischen Straße abzuweichen, ohne zu billigen Konzessionen zu greifen, das zeigt erst seinen einzigartigen Rang. Er machte es auch im letzten Schubert-Abend seinen Verehrern nicht leicht. Die ganze erste Hälfte war bewußt auf einen ernsten Ton abgestellt; mit dem "Schwammerl", dem Biedermeier-Schubert war es hier nichts. Das alberne, durch Bartschs Roman "Dreimäderlhaus" und Kitsch-Tonfilm geförderte Klischee bedarf natürlich längst nicht mehr der Widerlegung. Doch brachte Fischer-Dieskaus Auswahl die innere Monumentalität von Schuberts Liedkunst besonders überzeugend zum Vorschein; nicht nur in den allberühmten Nummern, wie dem Erlkönig, dem Wanderer oder Schillers "Gruppe aus dem Tartarus", dieser grandiosen Vision des antikischen Infernos; auch in den weniger gesungenen Liedern.

Fischer-Dieskau hatte den Gedichtvertonungen nach Johann Mayrhofer eine Vierergruppe eingeräumt. Eine verdiente Ehrenrettung für den Freund und langjährigen Zimmergenossen Schuberts. Er war eine zwiespältige Natur, nach Hohem strebend und am Leben scheiternd – er endete durch Selbstmord -, einer der wenigen, die Schuberts Genie schon frühzeitig erkannten und dessen grüblerisch-pathetische Lyrik den Komponisten zu den kühnsten, unkonventionellsten Lösungen der Liedform inspirierte. "Laß die Leidenschaften brausen im metallenen Akkord" heißt es im "Heliopolis"-Gedicht: Kann man nach dieser feurigen "deutschen Arie" noch daran zweifeln, daß Schubert ein Musikdramatiker war, den theatralische Naivität und inferiore Librettisten-Partnerschaft an der Entfaltung als Opernkomponist verhinderten?

Fischer-Dieskau spürt diese dramatischen Züge mit einer unfehlbaren Stilsicherheit auf. Intellekt, Instinkt und Technik bedingen und steigern einander. Im "Erlkönig" erreicht er durch seine stimmliche Modulationsfähigkeit die Ausdrucksvielfalt eines psychologischen Orchesters. Episch gelassen, ohne alles Pathos, berichtet der Erzähler, die Stimme des Vaters ist in einen dunkelsatten Bariton gekleidet, die des Knaben klingt völlig überzeugend jünger, und der Erlkönig lockt mit einer wahrhaft geisterhaft-unmenschlichen Tenor-Kantilene! Fast ist man geneigt zu sagen, Fischer-Dieskau hole mehr an psychologischen Feinheiten hervor, als überhaupt in diesem Geniewurf eines 18jährigen hineinkomponiert ist. Aber Fischer-Dieskau tut nichts dazu. Er präsentiert keine "originelle Auffassung". Bei aller unvergleichlichen Intensität gewinnt man, was immer er singt, den Eindruck: So muß es richtig sein, so und nicht anders.

In der zweiten Programmhälfte trat dann der Idylliker Schubert ("Der Einsame"), der Melodiker ("Der Musensohn", "Im Abendrot") in seine Rechte. Was deutscher Belcanto sein kann, demonstrierte Fischer-Dieskau im Wohllaut der Mezzavoce-Studie "Du bist die Ruh". Daß ihm der i-Vokal einige Schwierigkeiten macht und etwas flacher klingt, was will das besagen bei so überwältigenden Vorzügen? So jung Fischer-Dieskau ist, es fällt schwer, sich vorzustellen, daß er noch etwas "dazulernen" könnte. Und doch meint man, von Jahr zu Jahr reife er, indem er statt kunstvoller einfacher wird, der Identifikation mit den Meistern, denen er dient, näher kommt.

Sein Ruhm – der stürmische Beifall, der Zugaben auslöste, bestätigte ihn – ist verdient: der Ruhm des größten Liedersängers unserer Zeit, und wahrscheinlich (wer will da objektive Maßstäbe setzen!) nicht nur unserer Zeit. Günther Weißenborn nahm den ihm zukommenden Anteil am Erfolg entgegen: ein vorzüglicher Pianist, der die jagenden Triolen des Erlkönig-Parts mühelos durchhielt, ein feiner Musiker, in seiner Nuancenkunst gut auf des Sängers Stil abgestimmt.

Kurt Honolka

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