Zum Liederabend am 28. März 1963 in Köln
Kölnische Rundschau, 30. März 1963
Wenn Fischer-Dieskau Schubert-Lieder singt
Meisterkonzert im Kölner Gürzenich
Wie schön und trostreich, daß der erfolgreichste deutsche Sänger auf dem Konzertpodium auf jede Pose, jeden Effekt, auf alles verzichten kann, was den sogenannten "Erfolg" macht. Diesmal bot Dietrich Fischer-Dieskau ein reines Schubert-Programm, kein zyklisches, sondern ein in historischer Folge ausgewähltes, angefangen vom balladenhaft vibrierenden, rezitativisch-ariosen "Erlkönig", dem Geniestück des Achtzehnjährigen, bis zu dem im Todesjahr 1828 entstandenen Lied "Die Sterne".
Trotz "Erlkönig" und dem fast gleichzeitig entstandenen "Gretchen am Spinnrad" (das nicht im Programm des Abends stand) hat Schubert keinen Goethe gebraucht, um hochwertige Lieder zu schaffen. Er hat mehr unbekannte als bekannte Dichter vertont oder solche, die einst eine gewisse Rolle spielten und heute vergessen sind. So den glücklosen, mit vier Liedertexten im Programm vertretenen Johann Mayrhofer, der sich zwischen Schiller und Grillparzer für die Antike und den imaginären Barden Ossian begeisterte.
Schubert hat für diese düstere, ins Titanische gereckte Antike ein besonderes Organ gehabt. Keiner dieser mächtigen, deklamatorisch starken Gesänge, zu denen auch Schillers "Gruppe aus dem Tartarus" gehört, hat bis heute weitere Verbreitung gefunden. Wie überhaupt die großen weißen Flecken auf der Lied-Landkarte Schuberts sich seit hundert und mehr Jahren nicht geändert haben.
Hier, beim unbekannten Schubert, setzt Fischer-Dieskau an. Hier wird der große Künstler zum großen Pädagogen. Bei ihm wird alles wesenlos, was auch nur in der Andeutung auf Publikumsfang ausgeht. Er kann es sich erlauben, den sogenannten Publikumsgeschmack, was immer man darunter verstehen will, zu verachten.
Das ist im Zeitalter der Publicity und des bedenkenlosen Sich-Anbiederns nicht nur ein erzieherisches, sondern im höchsten Sinne moralisches Phänomen, das weit über den künstlerischen Anlaß hinausreicht und die stellvertretende Kraft des einzelnen überwältigend deutlich werden läßt. Wo viele Sänger schweigen, gewohnt, bei Schubert auf die Perlen und Paradestücke zu setzen, kann ein Künstler vom Range Fischer-Dieskaus das Urteil wenden.
Ganz unaufdringlich ist Fischer-Dieskau im Humoristischen, das er in dem Lied "Der Einsame" mit einem Anflug von Biedermeier-Parodie köstlich idealisiert. Auch wenn er zum "bekannten" Schubert übergeht (Der Musensohn, Du bist die Ruh’, Ständchen) vermittelt er mit unübertroffener interpretatorischer Meisterschaft das immer wieder neue und einmalige Erlebnis einer verinnerlichten und vergeistigten Kunst. Den ganz stillen Schubert singt Fischer-Dieskau fast privat vor sich hin – um so lauter rast das Publikum, das mit dem Zugabenattribut nicht locker läßt und mit endlosem Beifall auch den feinsinnigen Begleiter Günther Weißenborn bedenkt.
E.
Kölnische Stadtanzeiger, 28. März 1963
Kunst wird zur Natur
Dietrich Fischer-Dieskau sang Schubert
Ein Schubert-Abend von Dietrich Fischer-Dieskau – diese Ankündigung füllte den Gürzenich bis zum kleinsten Stehplatz in den Podiumreihen. Schwer, neue Worte zum Lobe dieses Sängers zu finden, der heute auf der Bühne wie im Konzertsaal zum "Leitbild" der nachwachsenden Generation geworden ist. Sie kopiert die dynamische Differenzierung seiner Gesangskunst, die unvergleichliche Beherrschung der "Mezza voce" und bruchlose Verschmelzung der Register bis zur strahlenden Höhe. Aber es bleibt bei der Kopie. Denn das Entscheidende liegt in der seelischen Spannweite einer einmaligen Persönlichkeit.
Fischer-Dieskau vertritt das musikalisch Selbstverständliche, das Gesunde und ewig Gültige auf schlechthin vollkommene Weise. Das beginnt damit, daß er Dynamik und Ausdruck in die absolut "richtige" Proportion zu Formverlauf und innerer Spannung des Liedes bringt. Der Hörer entdeckt auf diese Weise Zusammenhänge des musikalischen Organismus im "Erlkönig" u.a., die er vorher kaum wahrgenommen hat. Die zur Akzentuierung der Dramatik notwendige Wiederholung der Textworte wird in dieser Deutung ebenso klar wie die zwingende Logik des Aufbaues.
Aber alles "bewußt" Disponierte löst sich bei Fischer-Dieskau im Augenblick der Wiedergabe zu lauterstem Nacherleben eines im Innersten ergriffenen Menschen. Dieses Gleichmaß von deutendem Intellekt und Spontaneität ist das eigentliche Geheimnis seiner Wirkung.
Daß er aus dem umfangreichen Liedschaffen Schuberts neben Altbekanntes auch einige der philosophisch schwerbefrachteten Gesänge stellte, sei ihm besonders gedankt. Darunter waren der schwer zugängliche "Memnon", das "Freiwillige Versinken" und die "Gruppe aus dem Tartarus" nach Schiller.
Wollte man Höhepunkte herausgreifen, so müßte man wohl "Du bist die Ruh" und "Abendrot" nennen – die stillen Gesänge also, jenseits des nur Stimmungshaften ergreifend schlicht aus der poetischen Form getrieben. Kunst wird hier zu Natur – und umgekehrt. Wie leicht vergißt man dabei, wieviel Selbstzucht und künstlerische Askese sich diese aus dem Vollen schöpfende Bühnenbegabung im intimen Liedbereich auferlegen muß.
Nach Abschluß des offiziellen Programms – schier erdrückt von der Begeisterung seiner Verehrer – eine Reihe Zugaben, mit der gleichen Konzentration gesungen und aufgenommen. Günther Weißenborn, der getreue Paladin am Flügel, begleitete mit gewohnter Anpassung aus sensibelstem Klanggefühl.
Margot Schuchardt