Zum Liederabend am 30. März 1963 in Düsseldorf
Rheinische Post, Düseldorf, 1. April 1963
Die Wandlungen Fischer-Dieskaus
Dietrich Fischer-Dieskaus kometenhafte und immer wieder neu einem Zenit entgegenstrebende Sängerlaufbahn ist ebenso wundersam wie seine begnadete Stimme. Als Jüngling schon ein Weiser, weil um das Geistige der Kunst Wissender, hat er sich sehr schnell die Welt erobert, im Lied, im Oratorium, in der Oper, mit einer musikalischen Spannweite, die von Monteverdi und Schütz bis Henze, Fortner und Aribert Reimann reicht. Vorübergehend schien es, als würde sein betörend schöner Gesang von einer gewissen Manier umschlichen. Man unkte, die Oper dramatisiere seinen Liedgesang. All dies aber waren nur Durchgänge eines in unbeirrter geistiger Zucht sich wandelnden, immer mehr einem umfassenden Künstlertum Zustrebenden. Das Gegenteil von dem, was die Unker raunten, war der Fall: Der Opernsänger (und Darsteller) Fischer-Dieskau gewann durch den Liedersänger an Tiefendimension, sein Lied (man braucht nur an Bayreuth zu denken), und das zeigt sich neuerdings, verinnerlicht sich immer mehr, nachdem es die gestische Nuance dieses oder jenes Wortes, Satzes oder ganzen Gedichts in sich eingeschmolzen hat.
Ein Liederabend des großen Sängers, begleitet vom wahlverwandten Günther Weißenborn (in der überfüllten Düsseldorfer Rheinhalle), zeigt mit überwiegend unbekannten und nachgelassenen Schubert-Liedern einen wieder neu zum weisen Jüngling Gewordenen. Die Stimme ist schöner denn je, unvergleichlich ausgeglichen zwischen heller Baßregion, strahlendem Bariton und minnesängerischer Tenorhelle. Wie atmet, wie spricht dieser Sänger! Er gehört zu denen, deren sehr deutscher Musikalität und Stimmführung der Zauber des Belcanto mit in die Wiege gelegt wurde.
Die zwingende Dichte eines Liederzyklus ersetzt Fischer-Dieskaus Kunstverstand in diesem Programm durch innere Bezüge der Lieder untereinander. Es ist ein Abend der Versonnenheit, der stillen Rückschau, des mezza voce. Gelegentlich blitzen dramatische Liedszenen auf oder wie in Bronze gehämmerte. Im "Erlkönig" begegnen sich die drei Wesen als stimmliches Terzett, Schillers "Horch, wie Murmeln des empörten Meeres" gewinnt die Endgültigkeit eines Epitaphs, bardenhaft dann "Heliopolis" oder der verhaltene Hymnus "An die Leier". "Freiwilliges Versinken" spiegelt besonders plastisch die Meisterschaft dieses Sängers: Wie die Endfloskel "Nacht" verhaucht, "erst, wenn ich auf die Berge meine Krone lege" langsames Anschwellen ist, dann wieder ganz still zurückgenommen wird, das sind sängerische Offenbarungen. Ganz versonnen "Memnon", "An die Freunde", wie Volkslied schlicht "Der Musensohn", oder "Du bist die Ruh" und immer mehr dem Abend, dem stillen zugewandt, herrliche Gesangslyrik, aus wehmütig-glühendem Herzen gesungen "Der Einsame", "Im Abendrot", "Die Sterne" und "Nachtviolen". Sehr schlank wieder ist der hochgewachsene Sänger geworden, verjüngt sein Haarschnitt, so tritt er aufs und schreitet vom Podium – einer der größten Sänger unserer Zeit, König in seinem Reich, beglückend, weil Mensch.
Paul Müller
Düsseldorfer Nachrichten, 1. April 1963
Ein verwandelter Fischer-Dieskau sang Schubert
Bei seinem diesjährigen Liederabend in der wieder ausverkauften Rheinhalle zeigte Dietrich Fischer-Dieskau, daß er sich nicht mit seinem jungen Lorbeer begnügt, daß er selbstkritisch weiterarbeitet und daß er noch in voller Entwicklung steht. Die Stationen seiner Krise sind hier in den letzten Jahren analysiert worden. Es war das Problem des Naturalismus, von dem der große Sänger bedrängt wurde. In seinem Bestreben, jedem Lied textlich und musikalisch die denkbar deutlichste Gestalt zu geben, verfiel Fischer-Dieskau in das Extrem der Überdeutlichkeit, der Über-Dynamisierung. Viele haben das nicht als Mangel empfunden, aber wer verfolgte, was der Sänger alles an Ausdrucksmodifikation in ein Lied packte, für das der Komponist vielleicht nur den einfachen Wechsel von Forte und Piano vorgesehen hatte, erkannte die Gefahr, die Fischer-Dieskau drohte.
Nur zweimal beim letzten Konzert, einem Schubert-Abend, wurde man an diesen übervirtuosen "pädagogischen" Darstellungsstil erinnert. Die Phrase "Leise flehen meine Lieder" aus dem "Ständchen" und die Korrespondenzphrasen in den folgenden Strophen versieht Fischer-Dieskau mit einem unproportionierten Schweller, und auch die Crescendi in "Du bist die Ruh" sind so kraftvoll, daß sie das schwebende Gleichgewicht des Liedes zerstören. Wenn dagegen der Sänger mit komödiantischer Lust die Stimmen des Geisterkönigs, des Kindes und des Vaters im "Erlkönig" imitiert, so gehört das zum legitimen Balladenstil, und im übrigen ist man glücklich, von Fischer-Dieskau endlich wieder ein schlichtes, ungekünsteltes Legato zu hören, das die kleinen Kunstwerke stilistisch bindet. Der Sänger vertraut jetzt auf die natürliche Ausdruckskraft seiner Stimme, er begnügt sich mit den winzigen Modifikationen, die der Gang der Melodie aufzwingt, und verzichtet auf die gröberen Akzente, denen er so lange angehangen hat. Die Künstlerschaft Fischer-Dieskaus erscheint jetzt wie von den letzten Schlacken gereinigt.
Das Schubert-Programm war sehr anspruchsvoll. Fünf beliebten Liedern standen zehn wenig bekannte, zum Teil schwer zugängliche gegenüber. Mit welcher Sorgfalt Fischer-Dieskau Programme zusammenstellt, erhellt aus der Tatsache, daß seine Vortragsfolge streng chronologisch war, sie zeigt die Entwicklung Schuberts vom "Erlkönig" des Jahres 1815 bis zu "Die Sterne" von 1828. Schwach wirkte nur die zweite Gruppe des ersten Teils mit pathetischen, naturmystischen Gesängen nach Texten von Johann Mayrhofer und dem anakreontischen "An die Leier". Solchen fast abstrakten Gebilden ohne Bezug zum Menschlichen kann auch dieser Sänger kein Leben einhauchen, sie werden zu Demonstrationen einer wie ein Instrument reagierenden Stimme.
Vorher und nachher folgte eine Herrlichkeit auf die andere. Im "Wanderer" steigt die Stimme aus Baßtiefen in tenorale Höhen, und hier zum ersten Male läßt Fischer-Dieskau den Klang in der Kopfstimme ins Nichts verschweben. "Der Musensohn" wird mit schlendernder Leichtigkeit ganz locker hingetupft. Zum Höhepunkt des Abends wird "Im Abendrot" – konzentrierte Lyrik, von einem großen Ordnungswillen zur reinsten Form gefügt. Hinreißend auch "Auf der Bruck", ein langes Strophenlied aus dem Stimmungsbezirk der "Schönen Müllerin". Hier erreichte das Konzertieren Fischer-Dieskaus mit dem Pianisten Günther Weißenborn einen strahlenden Gipfel, der drängende und funkelnde Klavierpart wurde mit prickelnder Brillanz entfaltet. Von schmerzlicher Innigkeit schließlich das Abschiedslied "Die Sterne" nach einem Gedicht von Karl Gottfried von Leitner, in dem so rührend einfältige Verse vorkommen wie dieser: "Doch schelt ich die lichten Gebilde (die Sterne) drum nicht, sie üben im stillen manch heilsame Pflicht."
Die eigentliche Faszination geht bei Dietrich Fischer-Dieskau wohl von seiner geistigen Überlegenheit, seiner disziplinierten Musikalität aus. Diese freilich ist so groß, daß man das Fehlen der sinnlichen Verführungskraft bei dieser Stimme kaum bemerkt. Vielleicht ist der Sänger auch noch auf dem Wege zum bel canto, wer weiß? Einige Phrasen, wie "Ein selig Blühen" im "Memnon" waren von selbstvergessener Hingabe an den schönen Klang.
Das Publikum, das die strengen Gebote des Künstlers – nach den einzelnen Liedern nicht zu klatschen und im Programm nicht vorzeitig weiterzublättern – mit Respekt erfüllte, bezeugte Dietrich Fischer-Dieskau und seinem glänzenden Begleiter tiefe Bewunderung. Von den Zugaben hörten wir noch die so schlicht wie innig gesungenen "Nachtviolen".
A. N