Zum Liederabend am 9. April 1963 in Bremen
Weser-Kurier, 11. April 1963
Erregender Erlkönig
Dietrich Fischer-Dieskau sang Balladen und Lieder von Franz Schubert
Eine chronologisch angeordnete, von 1815 bis zum Todesjahr des Komponisten (1828) reichende lyrische Auslese von Franz Schubert bildete den Inhalt des 9. Meisterkonzertes. Mit diesem Programm bezeugte Dietrich Fischer-Dieskau wieder einmal seine Vorliebe für den großen Romantiker, dem er in Bremen schon öfters geschlossene Liederfolgen gewidmet hat. Unvergessen sind Zyklen wie "Die schöne Müllerin" und "Die Winterreise", deren herrliche Gestaltung dem gefeierten Sänger zu besonderem Ruhm gereichte.
Sein stilistisches Feingefühl bewies er erneut bei jener genetisch entwickelten Auswahl. Sie enthielt nicht nur bekannte Balladen und Lieder ("Erlkönig", "Der Wanderer", "An die Leier", "Der Musensohn", "Du bist die Ruh", "Im Abendrot" und "Ständchen"), sondern auch seltener zu hörende Gesänge (zum Beispiel "Memnon", "An die Freunde", "Freiwilliges Versinken" und "Die Sterne"), deren kontemplative Art eine denkbar verinnerlichte Darstellung erfordert.
Von Anfang an war man wieder im Banne einer begnadeten Stimme, welche den balladesken Stimmungsgehalt des "Erlkönig" in vollendeter Weise erschöpfte. Dem heldisch aufstrahlenden Bariton erwuchsen in Schuberts genialem Opus 1 die dankbarsten Aufgaben. Aber Dietrich Fischer-Diskau gehört zu jenen sängerischen Ausnahmen, die nicht durch ein bestimmtes Fachgebit eingeengt sind. Seine lyrische Ausdrucksskala erscheint ebenso unbegrenzt wie die dramatische. Der Dialog zwischen den betörenden Geisterstimmen des "Erlkönig" und dem angstvollen Aufschrei des Kindes wurde zum erschütternden Erlebnis. Diesem Höhepunkt zu Beginn war, von der erregenden Interpretation her gesehen, kein ähnlicher anzureihen.
Es blieb insofern bewundernswert, wie weitgehend Fischer-Dieskau auf äußere Wirkungen verzichtete und Gebilden von zartester Besinnlichkeit den Vorrang ließ. Sie verlangen eigentümlich "schwingende", sensitiv berührende Schattierungsgrade: kurzum ein piano und pianissimo, das stets tragfähig ist. War in dieser Beziehung zuweilen bei dem Bariton eine geringe Schwäche spürbar, so mochte sie vielleicht einer Ermüdung infolge zahlreicher Reisestrapazen zuzuschreiben sein. Der aufmerksame Hörer merkte es an einigen leisen Abstufungen ("Du bist die Ruh", "Im Abendrot").
Im "Musensohn" wirkte anfangs der vokale Vortrag etwas matt wegen der zu starken Klavierbegleitung. Indessen ließ die überlegene Gestaltung geringfügige Kontaktstörungen vergessen. Es gab besinnliche Episoden, die traumhaft schön gerieten: im durchsichtigen Tonbild "An die Freunde", im wunderbaren Smorzando des "Wanderer" ("Und immer fragt der Seufzer: Wo?") oder in der idyllischen Verhaltenheit eines pittoresken Stückes wie "Der Einsame". Auch ist die unwahrscheinliche Atemtechnik hervorzuheben, mit der Dietrich Fischer-Dieskau den großen Phrasierungsbogen meistert. Das abgesungene "Ständchen" ("Leise flehen meine Lieder") verlor jeglichen sentimentalen Beigeschmack, es erklang mit einem Zartgefühl sondergleichen.
In Günther Weißenborn hatte der vielseitige Sänger den bewährten Begleiter am Flügel. Das Publikum verhielt sich diesmal mustergültig im großen Glockensaal. Es beherzigte den Programmhinweis, keinen Beifall während der einzelnen Liedergruppen zu spenden, und sicherte sich dadurch den vollen künstlerischen Genuß.
Dr. Ludwig Roselius