Zur Oper am 21. April 1963 in Berlin

Neue Zeitschrift für Musik, April 1963

Revolution als Schaustück

"Dantons Tod" - Gottfried von Einems Büchner-Vertonung in der Deutschen Oper

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Der Stoff hat auch heute, da seine unmittelbare Zeitbezogenheit vergangen ist, seine Bedeutung behalten; die Paradoxie, daß die Menschenrechte durch Blut und Mord bestätigt werden, ist zu jeder Zeit eine Tragödie wert. Das Schauspiel Georg Büchners, das das Grauen des Stoffes durch blendende Zynismen der sprachlichen Form kontrapunktiert, ist als literarischer Wert unangetastet geblieben. Aber gerade auf die Dialoge, die Exkurse sprachlicher Brillanz, mußte der Textbearbeiter Boris Blacher verzichten, denn die musikalische Diktion verlangt lapidare Einfachheit. Er mußte auch die freie, in flatternde Szenen zerstäubte dramaturgische Form in ein festes Gerüst von sechs Bildern verwandeln. Von Büchner bleibt wenig übrig. Das Problem der Literaturoper besteht auch hier: wer die literarische Vorlage kennt, vermißt in der Oper gar zu vieles, das ihm wert und teuer ist. Freilich sind die historischen Akteure geblieben: der träge, todessüchtige, vom Morden ermüdete Epikuräer Danton, der erst vor seinen Richtern, als es zu spät ist, die Kraft zur Größe wiederfindet und seine Passivität mit dem Tode auf dem Schafott büßt, sein mystisch-rationalistischer Gegenspieler Robespierre, der kalte, dürre Exponent der Tugend und der politischen Abstraktion; der edle Camille Desmoulins, der zugrunde geht, weil er das Wort "Erbarmen" aussprach, und seiner Frau Lucile, die im Wahnsinn endet; die finsteren und skurrilen Komparsen der Revolution, das dumpf aufbegehrende, von Parolen gelenkte Volk - und am Ende die Vollstreckerin des allgemeinen, grausigen Schicksals, die Guillotine.

Was ist aus alledem heute auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin zu machen? Drama, Erlebnis, dichterisches, musikalisches Gleichnis - oder "Theater"?

Der Regisseur Gustav Rudolf Sellner hat die Antwort gegeben. Er spielt grandioses, opulentes, mit krassen Mitteln operierendes Theater, er macht die blutige, schreckliche Revolution zur dekorativen Schau. Ist das, was hier gezeigt wird, der Neorealismus, der von Osten eindringt, ist es der Einfluß des historischen Schaufilms aus Amerika, oder ist es Reminiszenz dessen, was die Meininger und Reinhardt vor Menschenaltern gespielt haben? Der Sturm des Aufstands wird zum Tableau, das Volk zieht auf mit Fahnen und Standarten, die Revolution scheint durch das Atelier Davids (oder Makarts?) hindurchgegangen zu sein. Der Bühnenbildner Wilhelm Reinking gibt pittoreske, gespenstische Sichten hoher, öder Häuserfronten, die Kostümbildnerin Christel Räder liefert eine Fleißarbeit historisch treuer Trachten, die durch die fast photographische Akribie des Maskenbildners ergänzt werden. Das Revolutionstribunal, ein hochansteigendes Theater von Uniformen, Federbüschen und Trikoloren, fordert den Beifall heraus, das Beil der Guillotine fällt am Ende krachend herab, dem Zuschauer bleibt nichts erspart. Aber wenn er das alles überlebt hat, fragt er sich doch, wozu eigentlich Jessner, Fehling, Klemperer gelebt haben, wozu der Schauspielregisseur Gustav Rudolf Sellner ein Theater des Wesentlichen auf die Szene gestellt hat.

Heinrich Hollreiser, der die Musik gegen die Übermacht der Szene zu vertreten hat, gibt ein klares, temperamentgeladenes Bild der Partitur, er steigert die dramatischen Ausbrüche zu packender Vehemenz und musiziert die konzertanten Partien mit feinem Geschmack. Gesungen wird durchweg hervorragend. Danton ist Dietrich Fischer-Dieskau, im roten, langschössigen Rock paradierend wie ein Denkmal seiner selbst, verhalten in den Nuancen der Untätigkeit, in Genußsucht, Lebensekel und Fatalismus, erst in seiner Verteidigungsrede vor dem Tribunal ausbrechend mit allen aufgestauten Kräften seines Wesens, mit der sonoren Rhetorik des großen, von seiner Sendung überzeugten Demagogen. Dietrich Fischer-Dieskau gibt die leisen und die lauten Momente der Figur mit der Mischung von Intuition und Bewußtheit, die das Geheimnis seiner Begabung ist, aber er ist ein viel zu ehrlicher Interpret, als daß er der Versuchung zum "Theater", die in der Partie steckt, ganz ausweichen könnte. Helmut Melchert als Robespierre gibt eine seiner unheimlichen, mit schneidender tenoraler Schärfe gezeichneten Charaktergestalten, Donald Grobe und Annabella Bernard, Camille und Lucile, vertreten mit stimmlichem Glanz das wichtige cantable Element der Partitur. Unter den kleineren Partien heben sich der kräftige Tenor Rolf Björlings als Hérault, der Baß Manfred Röhrls als Saint Just, der Bariton Martti Talvelas als Hermann ab; Ernst Krukowski, Carlo Covadi, Alice Oelke sind die Chargen. Der stimmgewaltige Chor beherrscht die Bühne und gibt den Äußerungen des wankelmütigen Volkes vom "Hoch" und "Nieder" bis zur Carmagnole revolutionären Elan.

Werner Oehlmann

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