Zum Konzert am 24. April 1963 in Venedig
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. April 1963
Eine hymnische Cantata von Henze
Der deutsche Anteil an der venezianischen Biennale
Der deutsche Anteil an den Aufführungen der diesjährigen Musik-Biennale in Venedig war im ganzen genommen besonders hoch. Selbst wenn man von der dubiosen Repräsentation des "Parsifals" absieht, die wir bereits in unserem ersten Bericht aus Venedig (F.A.Z. vom 22. April)) erwähnt haben, treten doch zwei sehr gewichtige Ereignisse hervor: das Gastspiel des Opernhauses Hannover mit den drei Einaktern von Arnold Schönberg, deren musikalische Wiedergabe ebenso gelobt wie deren szenische Realisierung abgelehnt wurde, und das Konzert des Westdeutschen Rundfunks am vorletzten Tag der Biennale mit der Uraufführung der Cantata "Novae de infinito laudes" nach Texten Giordano Brunos von Hans Werner Henze. (Zwei Tage nach der Uraufführung in Venedig hat die deutsche Erstaufführung im Kölner Funkhaus in gleicher Besetzung stattgefunden.)
Diese Aufführung hat nicht nur dem Festival noch einmal den so notwendigen Auftrieb gegeben – trotz eines nicht zu großen Publikums – sie hat auch namentlich unter den anwesenden Vertretern der Neuen Musik die Diskussion darüber neu entfacht, wo die Neue Musik nun eigentlich stehe, was unter Verpflichtung gegenüber der Tradition und andererseits gegenüber einer neuen Materialauffassung zu verstehen sei, und sie hat letztlich dem Festival ein internationales Aufgebot an Künstlern eingebracht, das an Glanz der Namen nichts zu wünschen übrig ließ: Elisabeth Söderström, Kerstin Meyer, Peter Pears und Dietrich Fischer-Dieskau waren die Solisten des Vokalquartettes, die Einstudierung des Kölner Rundfunkchores durch Herbert Schernus fand so ungeteilte Bewunderung wie die instrumentale Leistung des Kölner Funkorchesters, sie alle unter der ingeniösen, wenn auch im Dirigentischen nicht gerade überwältigenden Leitung des Komponisten.
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Henze hat für seine 1961/62 entstandene Cantata aus den theologisch-philosophischen Schriften des "Ketzers" und Pantheisten Giordano Bruno sechs Stellen ausgewählt, die sich sowohl den emotionellen wie den deskriptiven Möglichkeiten der Vertonung erschließen. Diese Texte sind von einer großen bildhaften Kraft: in der Beschreibung der Himmelskörper, der vier Elemente oder des Sonnenaufganges. Aber auch die beiden aufeinanderfolgenden Sätze, die von philosophischen Erkenntnissen handeln, vom steten Umbruch und vom steten Übergang (Henze gab diesem Satz den Titel "Die Freude liegt in der Bewegung"), müssen den Musiker zur Versinnbildlichung durch Struktur und Rhythmus reizen. Diese Cantata zum Lob der Unendlichkeit ist kein liturgisches Werk, sowenig wie etwa Strawinskys "Psalmensymphonie", aber ein religiöses, das den bei Henze noch ungewohnten Ton hymnischer Begeisterung aufklingen läßt: in dem ehrwürdigen Adagio des ersten Teiles, in dem die flammenden Himmelskörper als Botschafter der Majestät Gottes erscheinen, oder in dem mächtig crescendierenden Lobgesang auf die Götter, in dem die Cantata endet.
Auch für dieses Werk ist Henzes besondere Art der Verbindung von Konstruktivem – das heißt, einer freien Verwendung vorgeordneten Tonmaterials – mit dem im weitesten Sinn Musikalisch-Kantablen, in das man auch den Instrumentalpart einbeziehen möchte, symptomatisch. Die Klangfarben sind auffallend und charakterisiert durch das Fehlen von Klarinetten, Geigen und Bratschen wie durch die pronocierte Verwendung von Harfe, Gitarre, Englisch-Horn und Baß-Tuba in je zweifacher Besetzung. Vokal- und Instrumentalstimmen sind häufig zu einem Gewebe solistisch geprägten Klangbildes verbunden. Doch sind es nicht etwa nur Stimmführung und Orchesterpalette, die in ihrer Eigenart diese rund 50 Minuten Musik als Henzes bisher geschlossenste und stilistisch einheitlichste Partitur erscheinen lassen. So variabel und phantasievoll Henze stets mit seinem Material umgeht – hier hat er in der kontrapunktischen Durchführung, in dem Konnex von melodischem Duktus und rhythmischer Gliederung eine Meisterschaft erreicht, die ihm das Kriterium der unmittelbar eintretenden übergeordneten Einheit sichert.
Eine andere Frage allerdings ist es, wie diese Einheit stilistisch zu verstehen ist. Zweifellos gehen hier Henzes Absichten, traditionelle Bezüge herzustellen, nicht nur um Dezennien, sondern um Jahrhunderte zurück. Vielleicht hat er sich auch bei diesem Werk, das im Auftrag der "London Philharmonic Society" geschrieben ist, besonders dem Konservativen verpflichtet gefühlt. Den Vorwurf des Traditionalisten um jeden Preis wird Henze so gering achten wie beispielsweise manche seiner Widersacher aus dem Lager der jüngsten Generation den Vorwurf des Neuen um des Neuen willen. Aber immer deutlicher macht sich im Schaffen Henzes der Hang zu einem sehr bewußten Resümieren bemerkbar. Sollte der Komponist auf dieser Tendenz beharren, liefe es auf eine gewaltige Kraftprobe hinaus: ob die Kraft subjektiver Anverwandlung so groß ist, manches oder vieles zuvor Geschriebene und Bewahrte überflüssig zu machen. Auch nach der Cantata dürften wir über den Ausgang kaum Mutmaßungen anstellen, aber daß die Gedanken dahin führen, beweist, welcher Kategorie des Schöpferischen Henze heute zustrebt.
Ernst Thomas