Zum Konzert am 5. Mai 1963 in Berlin

Die Welt, 6. Mai 1963

Raffinierte Stilisierungskunst

Boris Blachers "Großinquisitor" im SFB mit Dietrich Fischer-Dieskau

"Warum bist Du gekommen, uns zu stören?" wirft der spanische Großinquisitor dem wiedererschienenen Christus entgegen, "morgen werde ich Dich verbrennen." Der gefangene, gerichtete Christus schweigt und küßt den Priester "sanft auf die blutlosen neunzigjährigen Lippen". Der Inquisitor, durch diese Geste übermenschlicher Demut und Größe bezwungen, läßt den Gottessohn frei: "Geh und kehre nicht zurück, kehre nie wieder, niemals..."

Die unerhörte Dostojewskische Vision von dem Konflikt zwischen Christenlehre und menschlicher Natur, symbolisiert in dem Zusammenprall des Heilands mit seiner ihm entwachsenen Kirche, hat Boris Blacher zu einem seiner wohl bedeutendsten Werke inspiriert. Er hatte den "Großinquisitor" schon während des letzten Krieges komponiert; die Textfassung stammt von dem Dirigenten Leo Borchard. 1947 hat Johannes Schüler das Oratorium in einem Staatsopernkonzert uraufgeführt.

Dem Chor hat Blacher überwiegend die Erzählerrolle zugewiesen, einer Solostimme die Worte des Großinquisitors. Was an der Musik so beeindruckt, ist vor allem Blachers raffinierte Stilisierungskunst. Er akzentuiert fast ausschließlich die geistigen Höhepunkte, gravierende Ereignisse des äußeren Handlungsablaufes dagegen, zum Beispiel den Auftritt des Inquisitors, behandelt er oft geradezu prätentiös beiläufig. So schließt er jegliche Allerweltsdramatik aus und hält das literarisch-musikalische Geschehen auf der angemessenen spirituellen Ebene. Innerhalb einer solchen Konzeption wirken auch drastisch elementare Mittel der Komposition wie stereotype, etwa synkopierte Rhythmik oder der strahlende Dur-Schluß eines Jubelchores sublimiert.

Gerade einer insgesamt so überhöhten, ja artifiziellen Musik waren Dietrich Fischer-Dieskau, der die ausgedehnten Partien des Inquisitors sang, und der Chor der St. Hedwigs-Kathedrale glänzende Interpreten. Christoph von Dohnanyi leitete die Aufführung – in einem Konzert des Radio-Symphonie-Orchesters im Sender Freies Berlin – sicher und temperamentvoll.

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M-r

   

     Tagesspiegel, Berlin, 7. Mai 1963     

   

Ein Oratorium nach Dostojewski

Boris Blachers "Großinquisitor" im Radio-Symphonie-Konzert

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Die Erzählung ist eine Reihe geschlossener, scharf charakterisierter Chorsätze. Die Ankunft des Erlösers, den das Volk ahnend erkennt, ist in zartes mystisches Kolorit getaucht. Die Heilung des Blinden, die Erweckung des toten Kindes geben Anlaß zu enthusiastischer Steigerung, die durch das Dazwischentreten des Großinquisitors unterbrochen wird; eine skurrile Marschmusik begleitet die Gefangennahme des Heilands, mit der Unterwerfung des Volkes unter die Macht des Priesters schließt der erste Teil des Oratoriums. Der zweite Teil wird beherrscht von der rezitativischen Rede des Großinquisitors, in die der Chor steigernd eingreift; die Versuchungen des "furchtbaren und klugen Geistes" sind effektvolle Vokalgemälde, denen ein von Bläsern und Schlaginstrumenten emporgetriebener Orchesterpart satanische Brillanz gibt. Die Reprise des Anfangschores rundet das Werk zyklisch ab, das Ende ist ein diminuierendes Ausschwingen der Rhythmen, dem Ganzen durchgehend das feste Gerüst gebend. [...]

Dem Dirigenten Christoph von Dohnanyi standen im Sendesaal des Funkhauses das Radio-Symphonie-Orchester, der St.-Hedwigs-Kathedralchor und als überragender, jede Nuance von Geisteshochmut und Menschenverachtung, von Fanatismus und Grausamkeit zum Klingen bringender Sänger des Großinquisitors Dietrich Fischer-Dieskau zur Verfügung. Dohnanyi faßt die reichen Klangmittel mit sicherer Hand zusammen und brachte eine technisch und stilistisch durchgeformte Aufführung zustande.

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Oe

   

     Berliner Morgenpost, 7. Mai 1963     

   

Modern bis klassisch

Konzert im Sendesaal

    

Boris Blachers Oratorium "Der Großinquisitor" (nach einer Episode aus Dostojewskijs Roman "Die Brüder Karamasow" von Leo Borchard frei bearbeitet) stand auf dem Programm des Radio-Symphonie-Orchesters im Großen Sendesaal des SFB-Funkhauses. Gegenstand der Partitur, die Blacher vor mehr als 20 Jahren vollendet hatte, ist ein angenommenes Glaubensgericht in Sevilla, wie es noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Spanien und Portugal üblich war.

Die Darstellung der Erscheinung des Herrn obliegt dem Chor, die Anklage durch den 90jährigen Großinquisitor vertritt eine durchkomponierte Baritonstimme.

Blacher hält die Auseinandersetzung, die mit der Überwindung des Großinquisitors durch die Liebe und Barmherzigkeit des Herrn endet, musikalisch in der Schwebe. Eine bei Blacher heute kaum noch anzutreffende Lyrik verbreitet sich in gut singbaren Tonreihen von reizvoller melodischer Eigenart. Der von Karl Forster einstudierte Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale intonierte unter der Leitung Christoph von Dohnanyis sauber und klangrein. Dietrich Fischer-Dieskau gestaltete die Baritonpartie mit einer Souveränität, als ob er auf den Großinquisitor abonniert sei.

Dankbarer Beifall belohnte die Mitwirkenden und den anwesenden Komponisten.

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H. F.

   

     Der Abend, Berlin, 6. Mai 1963     

    

Christus in Sevilla

Endlich wieder: Blachers "Großinquisitor"

Oratorium im Sendesaal

    

Sechzehn Jahre sind schon ein Prüfstein für ein zeitgenössisches Oratorium. Boris Blachers "Großinquisitor" (Text von Leo Borchard nach Dostojewski) erlebte gestern im SFB-Sendesaal seine erste Berliner Wiederaufführung seit, ja wahrhaftig, seit 1947. Der Dirigent Christoph von Dohnanyi führte das Werk mit den Radio-Symphonikern zu einem eindrucksvollen Erfolg, an dem Dietrich Fischer-Dieskau und der St. Hedwigs-Kathedralchor maßgebenden Anteil hatten.

Das reichlich einstündige, moderne Oratorium stellt dem auf Erden zurückgekehrten Christus im imaginären Sevilla des 16. Jahrhunderts den Kardinal-Großinquisitor gegenüber, der ihn der verehrungsvollen Menge entzieht, indem er ihn einkerkern läßt.

Im ersten Teil dominiert der erzählende Chor. Das Zwiegespräch in der Zelle, das den zweiten Teil füllt, ist in Wahrheit ein sich ereifernder Monolog des greisen Kardinals, denn der Gottessohn bleibt stumm. Vor der verzeihenden Schlußgeste Christi muß der Kirchenfürst jedoch kapitulieren.

Blachers Musik zu dieser bildhaften Szene folgt sehr genau den Worten und erreicht suggestive Wirkungen. Der künstlerische Nachhall ist womöglich noch stärker als damals, weil der Komponist heute nicht mehr so "voll" schreibt, sondern sich als Klangasket gebärdet. Fischer-Dieskaus deklamatorische Meisterschaft gibt dem Großinquisitor mit halber Stimme eindringliches geistiges Format.

Dohnanyi dirigierte zur Abrundung des Konzertes mit dem unverbrauchten Elan der Jugend Beethovens 7. Sinfonie. Das Orchester scheint mit ihm zu sympathisieren.

W. S.

    

     Tele, Berlin, 7. Mai 1963     

    

Erregendes Blacher-Oratorium

   

Das neue Abonnementskonzert des Radio-Symphonie-Orchesters im Haus des Rundfunks brachte zunächst die Wiederbegegnung mit Boris Blachers Oratorium "Der Großinquisitor"; es entstand während des Krieges und gelangte 1947 zum erstenmal zur Aufführung. Ihm liegt die erregende Erzählung aus Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" zugrunde. Christus erscheint in Sevilla, tut Wunder, aber der Großinquisitor läßt ihn verhaften. Im Kerker spricht er zu Jesus, anklägerisch und verteidigend zugleich. Die verzeihende Haltung Christi veranlaßt ihn, die Kerkertür zu öffnen. "Geh und kehre nicht zurück!" Aus dem Geschehen der literarischen Grundlage ergibt sich eine ungewöhnliche Form; der Chor beherrscht den ersten Teil, der zweite gibt im wesentlichen die Rede des Großinquisitors.

Blacher, der auch hier schon sehr konzentriert, wenn auch stilistisch etwas vielfältiger als in späteren Werken disponiert, hat die Atmosphäre geradezu beklemmend scharf getroffen. Es spricht für diese Partitur, daß sich der Eindruck bei öfterem Hören verstärkt. Dietrich Fischer-Dieskau fand für den Großinquisitor die rechte deklamatorische Formung: hinter der Verhaltenheit des Gestaltens stand seelische Aufgewühltheit. Dem Hedwigschor boten die motettischen Sätze keine Probleme. Das Orchester folgte aufmerksam dem sorgsam und profilierend dirigierenden Christoph von Dohnanyi.

[...]

K. R.

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