Zum Konzert am 9. Juni 1963 in Wien

Die Presse, Wien, 11. Juni 1963

Totenklage nach dem Krieg

Benjamin Brittens Requiem im Großen Konzerthaussaal

Die ideelle Basis, auf welcher Benjamin Brittens Requiem fußt, ist ebenso originell wie geistvoll. Das Motiv der Totenklage wird in diesem Werk mit dichterischen Betrachtungen über die Tragik eines gewaltsamen, durch die Mordwaffen des Krieges verursachten Todes gekoppelt. Uralte sakrale Formen, welche bisher den Epilog des gottgewollten und naturgegebenen Ablaufes alles menschlichen Lebens bildeten, vereinen sich hier mit pazifistisch gefärbten Betrachtungen über den Unfug des Sterbens zu einer Stilsynthese eigener Art.

Die gedanklichen Vorgänge dieser Totenmesse spielen sich sozusagen auf zweifacher Ebene ab. Transzendental ausgerichtete Betrachtungen, welche die bedingungslose Unterwerfung unter die Entschlüsse des göttlichen Willens beteuern, werden durch aufrührerische Reflektionen über deren scheinbar grausame Sinnlosigkeit unterbrochen. In die flehenden Gebete des Chores, Gott möge die armen Seelen der Verstorbenen des ewigen Lichtes teilhaftig werden lassen, mischen sich zynische, hysterische Ausrufe: "Kein lächerlich Getu, Gebet, Geläut für Menschen, die wie Ratten verreckten".

Diese Zweigeleisigkeit des Empfindens, die äußerlich ihren Ausdruck in der Aneinanderreihung des lateinischen Messetextes an Dichtungen des englischen Poeten Wilfred Owen findet, erklärt sich aus dem Entstehungsgrund des Werkes, das für die Einweihung der durch Bombenwürfe völlig vernichteten, 1962 aufgebauten Kathedrale von Coventry geschrieben wurde. Hier sei gleich vorweggenommen, daß die von Ludwig Landgraf und Dietrich Fischer-Dieskau getätigte Übersetzung des englischen Originaltextes kein sprachliches Meisterwerk darstellt. Verszeilen wie: "Er immer hängt, wo Feuer liegt und dort er auch sein Bein verlor" – könnten auch den seligen Wilhelm Busch zum Autor haben.

Benjamin Brittens Vertonung dieses seltsamen Textgemenges, das an Gott glaubt und ihn doch mit Vorwürfen überhäuft, zeigt die Handschrift des empfindsamen, überaus kultivierten geschmackssicheren Musikers, dem jedoch die Kraft für die Gestaltung des großen Themas abgeht. Er löst es in schwarzumränderte feuilletonistische Episoden auf, die, so paradox das angesichts des großen orchestralen und vokalen Apparates klingen mag, vielfach kammermusikalischen Duktus aufweisen. Die stärkste Wirkung vermittelt der Beginn. Ein profiliertes Synkopenthema der tieferen Streicherlagen wird, von stammelnden gregorianisch-stilisierten Ausrufen des Chores umrahmt, zu einem Phänomen bezaubernder Klanglichkeit. Im weiteren Verlauf verflacht die Inspiration des Komponisten. An ihre Stelle tritt eine vielfach konventionelle, wenn auch stets vornehme Behandlung des tönenden Stoffes, die wohl manchmal aufhorchen läßt, sich aber überwiegend als Leerlauf erweist.

Der Aufführung durch Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks im Großen Konzerthaussaal ist das beste Zeugnis auszustellen. Mit souveräner Sicherheit hielt Rafael Kubelik das prächtig singende und spielende Massenaufgebot, das durch die frischen Stimmen des Tölzer Knabenchors bestens ergänzt wurde, in Spannung. Weitere Glanzpunkte der bis ins letzte durchgefeilten Wiedergabe des interessanten Werkes bildeten der wie stets ausdrucksgesättigte Gesang Dietrich Fischer-Dieskaus, die kraftvolle, mit blendender Wortdeutlichkeit gepaarte Vortragskunst des Tenors George Maran und Margaret Tynes’ ätherischer Sopran.

Mi

    

     Kurier, Wien, 11, Juni 1963     

    

Ein Requiem, nur für die Zeit geschrieben

Sonntag im Konzerthaus: Erstaufführung von Brittens Kriegsrequiem unter Rafael Kubelik

    

Ein Requiem der Versöhnung, ein Werk der großen Gesinnung, geschrieben zur Einweihung der Kathedrale von Coventry, die im letzten Krieg mitsamt der sie umgebenden Stadt eingeäschert worden ist. Vom Wahnsinn des Krieges ist in diesem Requiem die Rede, von der Notwendigkeit, vor solchem Schrecken zu warnen, von der Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft, für die Einsicht die Voraussetzung geben soll: "Ich bin der Feind, den du getötet, Freund. Ich kenn’ im Dunkel dich; du warst mein Feind... Laß uns schlafen nun."

Brittens Landsmann Wilfred Owen hat die Verse der Zeitgeschichte geschrieben. Ansonsten wurde die lateinische Totenmesse vertont. Chor und Solosopran singen das Requiem, Tenor und Bariton befassen sich mit dem aktuellen Anlaß. Übrigens hieß der Bariton schon bei der Uraufführung Fischer-Dieskau. Die Geste der Versöhnung reichte noch bis ins rein musikalische Schlachtfeld der Interpreten. Das war 1962.

Brittens Musik bleibt leider hinter dem gesteckten Ziel weit zurück. Gewiß fesselt ein musikantischer Geist auch da mit packenden, rhythmischen Sequenzen, mit instrumentalen Effekten, mit brillantem Chorsatz. Allein, es ist schon verdächtig, daß Zeit und Raum bleibt, Einzelheiten zu registrieren, wo man durchgehend ergriffen sein sollte. Und noch mehr betrübt, daß der nicht kaptivierte Sinn auch durch das Ohr kaum entschädigt wird. Denn die Musik ist im Einfall flach, im Duktus konventionell und im Klanggewand bestürzend äußerlich. Dichte Stimmung, wie im Agnus Dei, bildet die Ausnahme, große Diskrepanz zwischen starker Gesinnung und schwacher Inspiration die Regel. Ein Requiem für die Zeit, nicht für die Ewigkeit.

Die Aufführung durch Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks unter der sorgfältigen animierten und animierenden Leitung von Rafael Kubelik hatte hohes Niveau. Der Chor, in dessen Mitte Margaret Tynes Brittens emotionellste Eingebungen mit vibrierendem Espressivo sang, war inklusive der Tölzer Knaben von bewundernswerter Disziplin. Dietrich Fischer-Dieskau gestaltete seinen Part mit gewohnter geistiger Sammlung. George Maran hatte den Tenorpart inne: halb als sterbender Schwan, halb als durchdringender Lohengrin.

Alle Ausführenden wurden herzlich gefeiert.

Herbert Schneiber

    

     Neues Österreich, 11. Juni 1963     

    

Distinguiertes Requiem von Britten

     

"War Requiem" nennt Benjamin Britten sein neuestes Werk; es wurde soeben im Konzerthaus von Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung Rafael Kubeliks zur österreichischen Erstaufführung gebracht. Britten schrieb dieses "Kriegsrequiem" für die 1962 erfolgte Einweihung der neuen Kathedrale von Coventry – die alte ist zusammen mit dem Großteil der Stadt im letzten Weltkrieg durch Bombenangriffe vernichtet worden. Das nahm der Komponist zum Anlaß, sein Requiem in ein Manifest gegen die Schrecken des Krieges zu verwandeln.

Das Manifest entstammt unverkennbar der Feder Brittens; es werden darin meist noble, distinguierte Töne angeschlagen, die sehr ehrlich und zu Herzen gehend gemeint sind, aber doch nur recht selten aufzurütteln vermögen. Brittens beachtlicher, hochgezüchteter Kunstgriff besteht in der Einblendung von Gedichten Wilfred Owens in den liturgischen Requiemtext. Die Verse Owens warnen symbolistisch vor dem Kriegswahnsinn und wirken – zumindest in der deutschen Übersetzung – ziemlich dick in der an sich rühmenswerten Tendenz. Jedenfalls erreicht Britten durch das Einblendungsverfahren zwei Erlebnisschichten, die entweder zueinander stark kontrastieren oder miteinander verzahnt werden.

Die Vertonung des lateinischen Requiemtextes ist meist homophon, psalmodierend, manchmal ein wenig dramatisiert und dann, etwa im Dies irae, erschrocken stammelnd gestaltet, manchmal aber auch polyphon. Den Kontrast hiezu bilden die Sologesänge des Tenors und des Baritons; ihnen sind die Verse Owens im stile concitato oder in Form von Accompagnato-recitativen anvertraut. Beide zuvor angeführten Erlebnisschichten treffen aufeinander im Agnus Dei in der Art einer Ciacona. Der dynamische Höhepunkt des durchwegs tonalen Werkes liegt im dicht gesteigerten Libera me mit der variierten Dies-irae-Reprise. Diese dramatisch dankbare Sequenz wird von Britten bei der ersten Verarbeitung durch Signaltrompeten eingeleitet und durch einen technisch heiklen, sehr bewegten Blechbläsersatz charakterisiert, der die erregten Choreinwürfe stützt.

Damit sind die wenigen eindrucksvollen Stellen des Werkes genannt, damit sind aber auch die Anleihen, die Britten bei Verdi gemacht hat, erwähnt. Im übrigen wird auch Orff strapaziert und Haydn, dessen Tempesta nicht viel anders klingt als jene bei Britten. Glocken ertönen in dieser oft allzu illustrativen Musik recht häufig, vermögen aber nicht, durchwegs den Eindruck einer intensiven oder gar packenden Requiemvertonung zu suggerieren; zumal sich nebst einigen überdehnten, ermüdenden Abschnitten besonders im Finale auch noch der süße Kitsch einschleicht, der zwar edel, aber desto langweiliger ist. Der Komponist versucht, das ganze Werk auf die Melodik zu stützen; diese Stützen sind jedoch schon in der Erfindung zu schwach, es zu halten.

Die Aufführung war erstklassig. Von den Solisten ist Dietrich Fischer-Dieskau vor George Maran (Tenor) und Margaret Tynes (Sopran) zu nennen. Das Orchester des Bayerischen Rundfunks bewies, daß es unter der durch und durch musikalischen Leitung Rafael Kubeliks längst zum führenden Ensemble Münchens aufgerückt ist. Der Münchener Rundfunkchor und der Tölzer Knabenchor waren mit Klangreinheit und Genauigkeit am Gelingen des Abends beteiligt.

Lothar Knessl

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