Zum Liederabend am 21. August 1963 in München

    

     Süddeutsche Zeitung, 23. August 1963     

    

Heute Beginn der Liederkonzerte/Seit 1957 mit großem Erfolg auf dem Programm

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Heute abend wird nun der festliche Liederreigen im Alten Residenztheater von Erika Köth eröffnet. Morgen vormittag um 11 Uhr steht Hermann Prey an derselben Stelle. Dann folgen während der nächsten zwei Wochen Dietrich Fischer-Dieskau, Hetha Töpper und Fritz Wunderlich.

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Das Stichwort gab Fischer-Dieskau

Der Anfang dieser Festspiel-Liedertradition wurzelt in einem Gespräch zwischen dem Intendanten (Prof. Rudolf Hatmann - Anm.: UB) und Dietrich Fischer-Dieskau. Bekanntlich beruht Fischer-Dieskaus Weltgeltung in erster Linie auf seinen Liedinterpretationen, während der Künstler als Opernsänger erst viel später in Erscheinung trat. Er brachte Hartmann die Idee nahe, auch dem Lied innerhalb der Festspiele einen Platz einzuräumen. Nicht nur deshalb, weil sein erstes Festspiel-Liederkonzert bald darauf ein riesiger Erfolg wurde, setzte Hartmann sich seither für diese Idee ein. "Ich bin ja überhaupt ein leidenschaftlicher Verfechter des Gedankens, daß ein Bühnensänger, wenn er die nötige Gestaltungskraft hat, sich gar nicht oft genug dem Lied widmen kann", ergänzte er.

Während also Fischer-Dieskau damals für die Münchner Festspiele programmatisch Neuland eroberte, tut er dies am 21. August im Herkulessaal mit seinem eigenen Programm. München erlebt den Sänger heuer erstmals mit ausschließlich modernen und modernsten Werken, großenteils Erstaufführungen. Fischer-Dieskau sieht es, wie er sagt, als "absolut notwendig" an, sich mit den künstlerischen Strömungen dieser Zeit auseinanderzusetzen. Die Lieder von Fortner, Blacher, Reimann, Berg und Busoni hat er bereits für die Berliner Festwochen 1962 erarbeitet. Auch jetzt begleitet ihn der Komponist Aribert Reimann am Flügel. Zu ihm wie auch zu Blacher besteht ein künstlerisch-persönlicher Kontakt. Der Sänger, dessen Neigung und Zeit etwa zu gleichen Teilen dem Lied und der Oper gehören, reist gegenwärtig zwischen Salzburg (Figaros Hochzeit), Luzern (Kreuzstabkantate in den Festwochen) und München (Liederabend und Arabella) hin und her.

Charlotte Nennecke

 

  

     Süddeutsche Zeitung, 23. August 1963     

  

Der Sänger als Prophet

Dietrich Fischer-Dieskau singt zeitgenössische Lieder

Der Liederabend, den Dietrich Fischer-Dieskau vor einem mit großer Leidenschaft und Wachheit zuhörenden Auditorium im Münchner Herkulessaal gab, stand in jeder Weise jenseits des Gewohnten und Gewöhnlichen. Fischer-Dieskau setzte seine Autorität für Werke ein, die kaum je auf Konzertprogrammen erscheinen. Er sang nicht nur gemäßigt Modernes, sondern auch Extremes.

Das Konzert war frei von aller Gönnerhaftigkeit, die so peinlich leicht entsteht, wenn ein bedeutender Mann unpopuläre Kompositionen gewissermaßen an seinem Ruhme teilnehmen läßt, wenn er Verborgenes in der Sonne seiner Autorität zu einem kurzen Scheinleben erweckt - stets mit dem Unterton: "Ich könnte auch das Telephonbuch singen, ohne daß jemand protestierte!" Nein: Fischer-Dieskau trat hinter den Werken zurück, indem er sich mit fühlbarer Gespanntheit für sie einsetzte. Nur im ersten Lied der Fortner-Hölderlin-Gruppe, das für mein Empfinden um eine Spur zu theatralisch herauskam, merkte man noch den Sieggewohnten, der über seine Stimme, seine Affekte und die Anteilnahme des Publikums gebietet. Bereits "Hyperions Schicksalslied" und die "Abbitte" waren dann reine, unwiderlegliche Darstellungen moderner Kunstwerke. Souverän und vermittels hochintelligenter Deklamation dargeboten, standen die Werke selbst im Zentrum. So wurde man dazu gebracht, nicht mehr über Fischer-Dieskaus selbstverständliche Kunst, sondern über das Schicksal des modernen Liedes nachzudenken. Nur am Rande sei bemerkt, daß die "Modernen" den Stärken des Sängers besonders entgegenkommen. Sie verlangen genaue und intonationssichere Deklamation ebenso wie die Kraft zum expressiven Ausbruch. Die melodische Mitte des seiner selbst selig-gewissen, ruhigen Belcanto lassen sie meist ausgespart.

Aber Fischer-Dieskau hatte sich nicht nur einigen schwierigen, als "undankbar" geltenden Werken ausgesetzt, sondern auch einem Begleiter, der keineswegs vor dem Weltruhm des Stars ängstlich erzitterte. Am Flügel saß der junge Komponist Aribert Reimann. Er spielte mit einer Übersicht, einer eindringlichen Vertrautheit und einer belebenden Musikalität, wie sie oft vornehmlich dann gegeben ist, wenn Komponisten oder Dirigenten "begleiten". Da Reimann überdies eine treffliche, solide Technik besitzt - an deren Grenzen er während des Abends nicht einmal geriet -, waren die Voraussetzungen exzeptionell.

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Busonis ohne schlagende melodische Einfälle sehr geschickt rezitierende Goethe-Lieder, voller Kunstverstand und Witz, eigneten sich gut dazu, das Konzert verbindlich zu beschließen. Viel Beifall eines Publikums, das gewiß wahrlich "dazugelernt" hatte. Der Sänger und sein Partner verzichteten klugerweise darauf, wohlproportionierte Programm durch gefällige Zugaben zu zerstören.

Joachim Kaiser

 

    

     Münchner Merkur, 23. August 1963     

    

FESTLICHER SOMMER MÜNCHEN 1963

Fischer-Dieskau lockt sein Publikum in Neuland

Einige wenige, wenn auch nur schmal gesetzte moderne Akzente können dem an sich beachtlich großen Aktionsradius der Festspielwochen nur dienlich sein und ihre Breitenwirkung wesentlich erhöhen. Besonders dann, wenn ein Künstler vom Range Dietrich Fischer-Dieskaus die Initiative ergreift, um ein größeres Publikum - das sich nicht aus passionierten Nachtstudio-Hörern und Experten einschlägiger Festivals zusammensetzt - in Bezirke zu locken, die gemeinhin leider nicht gerade freiwillig betreten werden.

Zweifellos drängte sich im ausverkauften Herkulessaal die Mehrzahl der Besucher in erster Linie herbei, um den großen Sänger zu bewundern, ganz gleich, was er singen würde. Erstaunlich aber, - und das war wohl das bemerkenswerteste Ergebnis des Abends - wie dieses Publikum seine Aufmerksamkeit nicht ausschließlich dem Interpreten zuwandte, sondern sich unbefangen und offensichtlich ohne Vorurteil von Neuer Musik in Bann schlagen ließ und höchst spontan darauf reagierte. Eindeutig bewies das der auffallend starke Beifall für den jungen Komponisten Aribert Reimann, als er nach seiner Liedgruppe im Alleingang auf dem Podium erschien.

Selbstverständlich hatte Fischer-Dieskau die programmatische Gewichtsverteilung vorsichtig und mit Bedacht in allmählicher Steigerung angelegt. Wolfgang Fortners 1933 geschriebenen Hölderlin-Gesänge als Auftakt konnten kaum Kontaktschwierigkeiten bereiten. In seiner gelockerten Tonalität gibt das heute schon etwas verblaßt wirkende Frühwerk keinerlei Rätsel auf und läßt nur andeutungsweise den erst viel später entwickelten spezifischen Stil des Komponisten erahnen.

Einen Schritt weiter im Neuland führte die Erstaufführung von Boris Blachers Drei Psalmen aus dem Jahre 1943. Ebenfalls auf tonaler Basis fesseln diese Gesänge durch das reibungsvolle Widerspiel einer kühl expressiven, deklamatorisch herb umrissenen Gesangsführung und einer streng rhythmisierten Begleitung, die in ihren wellenförmigen Wiederholungen die Hauptstimme gleichsam zu unterlaufen scheint. Danach fiel der Sprung in die nahe Gegenwart nicht mehr sonderlich schwer.

Aribert Reimanns Fünf Lieder nach CELAN.........???????, 1900 komponiert, präsentierten sich als hervorragend strukturierte Gebilde von außerordentlicher Intensität. Ausdrucksvoll komprimiert und geschmeidig bewegt sich der Gesangspart in großen Intervallräumen; dazu ein raffiniert ausgesparter Klaviersatz, der in seiner merkwürdigen - an steingraue Farbtöne erinnernden - Beschaffenheit genau den um symbolträchtige Worte kreisenden Gehalt des poetischen Vorwurfs betrifft.

Was an Moderne noch übrig blieb, war einem Klassiker der Musik des 20. Jahrhunderts vorbehalten: Alban Berg mit seinen lyrisch sanften Liedern Opus 2. Damit fand der Abend eigentlich seinen Abschluß. Denn Ferruccio Busonis Vertonungen heiter-komischer Goethetexte gehören einer völlig anderen Sphäre an. So witzig und amüsant diese tonmalerischen Schilderungen von Zigeunerliebchen, Nachtgespenstern und elegant aufgeputzten Flöhen (Lied des Mephistopheles) auch sein mögen, - für Busoni sind diese Gelegenheitsarbeiten selbstverständlich in keiner Weise kennzeichnend.

Nach der vorausgegangenen weltentrückenden Meditationsübung hatte man hier allerdings das herrliche Vergnügen, Fischer-Dieskau unter der Devise "Hoppla, wir leben" in all seinem komödiantischen Charme bewundern zu können. So überzeugend er die ernsten Gesänge durchgestaltete - in den Fortner-Liedern störten zwar einige gefühlvolle Drücker - so hinreißend unwiderstehlich war auch diese köstliche Schlußapotheose, die eigentlich bereits unter die Rubrik "Zugaben" zu rechnen ist.

Weitere Zugeständnisse erübrigten sich daher und wurden auch nicht gewährt - trotz der Ovationen, die Fischer-Dieskau und seinem ganz vortrefflichen Begleiter Aribert Reimann von allen Seiten entgegenbrandeten.

Helmut Lohmüller

 

    

     Münchner Abendzeitung, 23. August 1963     

     

Auf dem Pfad ins Ungewisse

Fischer-Dieskau sang im Herkulessaal

Bei der weitausgreifenden Künstlerschaft Dietrich Fischer-Dieskaus ist es klar, daß er sich nicht damit begnügt, seiner Generation das Lied wieder erschlossen zu haben. Als Zeitgenosse der Komponisten unserer Tage fühlt er sich zur Interpretation ihrer Musik nicht nur verpflichtet, sondern offenbar auch gedrängt. Er unternahm es daher, innerhalb der Münchner Festspiele einen Liederabend zeitgenössischer Musik zu geben, bei dem allem Anschein nach ein großer Teil des Publikums mehr durch das Ansehen des Sängers als durch das Programm in den vollen Herkulessaal gelockt wurde. Fischer-Dieskaus Verdienst um die moderne Musik ist schon deshalb so groß, weil sie durch ihn eine unüberbietbare Wiedergabe erfährt.

Es gehört zu den interessantesten Fähigkeiten Fischer-Dieskaus, daß er bei der Wiedergabe moderner Musik das Persönliche seiner Stimme zurücktreten läßt und diese wie ein Instrument, gleichsam als Stimme an sich verwendet. Tatsächlich tritt auf diese Weise auch jenes Gefühl des Verlorenseins und eines wilden Vergnügens daran hervor, wie es die Kunst der Gegenwart auszudrücken scheint. Vier Hölderlin-Gesänge von Wolfgang Fortner zwangen den Komponisten immerhin zur großen poetischen Geste, zum seherischen Blick auf farbiges Dunkel und schimmerndes Licht, so daß von Fortners üblicher Härte und Bewegungsunruhe hier wenig zu spüren ist. In drei Psalmen ruft Boris Blacher in seiner sehr trockenen Weise den Herrn an.

Hierauf sang Fischer-Dieskau fünf Lieder Aribert Reimanns nach Gedichten von Paul Celan. In den Komponisten Reimann werden große Hoffnungen gesetzt. Ungeachtet seiner Jugend ist er in der modernen Equipe bereits ein bekannter Mann. Mit Gewißheit ließ sich nur feststellen, daß er ein ausgezeichneter Begleiter ist. Seine Lieder auf die äußerst dunklen Gedichte Celans sind monodischer Natur, mit wenigen eingeworfenen Klängen, die weder harmonisch noch seriell eine unmittelbare Orientierung gewähren. Hier scheint die Wirkung ganz von der Gestaltungskraft des Interpreten abzuhängen.

Vier Lieder von Alban Berg op. 2 zeigen ihn als hypersensitiven Expressionisten, der zwar nach dem Modernen schmachtet, aber immer noch Richard Strauss im Ohr hat. Zum Schluß brachte Fischer-Dieskau vier Goethe-Lieder von Ferruccio Busoni, dem unter den vielen Vätern der modernen Musik die älteste Legitimation zugesprochen werden muß. Aus diesen Liedern leuchtete die Intelligenz und der kaustische Humor Busonis erfrischend hervor. Die geistreich verteufelte Begleitung des Floh-Liedes aus dem "Faust" trug die Handschrift des eminenten Pianisten Busoni. Reimann las sie mit erstaunlicher Geschicklichkeit.

Antonio Mingotti

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