Zur Oper am 5. Oktober 1963 in Berlin

Berliner Tagesspiegel, Datum unbekannt

Ein neuer Macbeth

Umbesetzung in der Deutschen Oper

Macbeth – in der Verdi-Aufführung der Deutschen Oper – ist nun Dietrich Fischer-Dieskau, und er ist es wirklich; kein Sänger, der heroische Kantilenen singt, sondern ein Riese, Geschöpf einer wilden, gewalttätigen Welt, einer dunklen, von Aberglauben und Gespensterfurcht beherrschten Epoche; schwerfällig, geduckt unter der Last seiner mächtigen Gedanken und Wünsche, Held und Verbrecher, reuelos an die Schwermut der Sünde verloren. Mit den ersten, rezitativischen Worten auf der Heide "Nie war ein Tag so stürmisch" ist der Charakter da, im dunklen Vibrato der Stimme, die alle Nuancen vom heiseren Flüstern der Angst bis zum Ausbruch mörderischer Grausamkeit hergibt; alles, Vision und Leidenschaft, Traum und Tat ist unter das Gesetz der Verdischen Kantabilität gestellt, das Inferno der Gefühle geht auf in den Strom der Melodie. In der Lady Marion Lipperts hat dieser Macbeth die ihm gemäße Partnerin. In dem hellen, großen, etwas scharf intonierenden Sopran der Sängerin schwingt die Eiseskälte, die das Wesen dieser Frau ist, in den herausgeschleuderten Koloraturen wird ihr dämonischer Wille Musik. Die Spannung, die zwischen ihr, der Antreiberin, und dem schwankenden Manne besteht, ist in jedem Augenblicke spürbar; noch mehr, in der Beziehung der beiden ist etwas von dem Gebannt- und Verfallensein, vom Schicksalszwang einer urtümlichen, schreckensreichen Welt – etwas von der wahren Macbeth-Atmosphäre, die die Inszenierung sonst so gründlich vermissen läßt.

Oe.

   

     Berliner Morgenpost, 8. Oktober 1963     

   

Höhepunkte mit Verdi und Wagner

Fischer-Dieskau sang den Macbeth

   

Soweit der "Macbeth" in der Deutschen Oper zu retten ist, rettet ihn Dietrich Fischer-Dieskau, der seine Grippe überstanden hat und nun die Titelgestalt verkörpert.

Alles, was Dooley dem Königsmörder an Charakter und Profil schuldig blieb, ist plötzlich zum Greifen deutlich da. Dieser Macbeth schwankt zwischen Angst und trotziger Vermessenheit, beim Bankett flackert Wahnsinn in seinen weitaufgerissenen Augen, und warum er seinen blutigen Taten nicht gewachsen ist, das macht er in der letzten Arie offenbar.

Fischer-Dieskau singt sie mit unerschöpflichen Reserven und jenem wunderbaren Verdi-Belcanto, wie man ihn seit seinem Marquis Posa unvergessen im Ohr hat; und plötzlich weiß man, was an der Seele dieses Macbeth nagt und sie lähmt: Die Einsamkeit des Kinderlosen, der obendrein weder Freunde noch Ehre besitzt. Die Bravo-Rufe in dem endlosen Beifall nach dieser erschütternden Szene waren vollauf motiviert.

Als Lady von hoher, königlicher Erscheinung steht jetzt Marion Lippert auf der Szene. Sie ist dramatischer, vitaler als ihre Vorgängerin, spielt sozusagen mehr Shakespeare als Verdi. Ihr großer, koloraturgewandter Sopran wirkt in der Mittellage manchmal etwas rissig.

Rolf Björling, dessen wohlgebildeter Tenor für das große Haus zu klein ist, singt nun den Macduff.

r. b.

   

     Der Kurier, 8. Oktober 1963     

   

Wenn Fischer-Dieskau singt, ist Premiere

   

Die Neuinszenierung des "Macbeth" in der Deutschen Oper wäre von der Presse vermutlich besser zensuriert worden, hätte nicht eine Indisposition Dietrich Fischer-Dieskaus in der Premiere die zweite Besetzung der Hauptrolle zur ersten gemacht. William Dooleys ansehnliche Leistung vermochte doch nicht das Interesse auf das Wesentliche der dramatischen Vorgänge zu konzentrieren. Fischer-Dieskau machte nun die dritte Aufführung zur eigentlichen Premiere.

Er setzt seine künstlerischen Mittel ohne Überbetonungen ein. Das Entscheidende ist wohl die reichere Farbenskala seiner Stimme im Arioso und in den rezitativischen Akzenten. Obwohl er breite lyrische Kantilenen gibt, ist es nicht der Wohlklang allein, der die Sinne befriedigt, sondern eine inkommensurable psychische Kraft, die tönend den Hörer erregt und bannt. Er erfüllt die Wünsche Verdis nach Wahrhaftigkeit der Darstellung mit dem eigenen Affekt des nachschöpferischen Augenblicks, der von Anfang an spürbar ist und bis zum Schluß nicht ermattet. Hier ist eine Shakespeare-Gestalt auf der Musikbühne gegenwärtig geworden, wie sie sich der Komponist erträumte.

Seine Partnerin ist Marion Lippert, bewundernswert in allem Gesanglichen, der bravourösen Koloratur, dem Volumen und Umfang der Stimme, im übrigen befangen in den Gesten und Attitüden der Primadonna. Für die Rolle des Macduff reicht Rolf Björling vorläufig nicht aus.

Mario Rossi ließ sich an diesem Abend in einigen Ensembles – die am Schluß der Bankettszene – zu leidenschaftlicherem Aufschwung hinreißen. Alles andere war leider beim alten.

Vorschlag zur Güte: Da Schottland eine stürmische Gegend, sollte man im ersten Bild die Windmaschine ein wenig betätigen, denn bei solcher Flaute klingen die Hexenchöre zu sehr à la Offenbach. Das lächerliche Bild der Banquomörder sollte nach Vorschrift der Partitur revidiert werden.

Walther Kaempfer



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