Zum Opernabend am 21. November 1963 in München

    

     Süddeutsche Zeitung, München, 22. November 1963     

    

Das Münchner Opernfest beginnt

Feierliche Eröffnung des Nationaltheaters mit der "Frau ohne Schatten"

[...]

Freilich, die vier Stimmen, die sich zu jenem Quartettfinale vereinigten, mögen den Entschluß, die Oper damit enden zu lassen, rechtfertigen. Man wird kaum eine zweite Bühne finden, die eine vergleichbare Besetzung der Hauptpartien anzubieten hat, sie an Glanz und Pracht der Stimmen gar überbieten könnte. Ingrid Bjoner ist eine hinreißend schöne Kaiserin, zart und scheu unter den Menschen, wunderbar im Aufschwung zu den lyrischen Sternenbahnen ihres Melos und packend in der Dramatik des inneren Kampfes um die Erlösung des versteinerten Gatten, dessen großen ariosen Monologen im ersten und vierten Bild Jess Thomas tenorales Feuer von ungemeiner Leuchtkraft gab. (Richard Strauss, der für kantilenenschwelgende Tenöre nicht viel übrig hatte, hat hier seine - neben dem Bacchus der "Ariadne" - üppigste Tenorpartie geschrieben.)

Ideal das Färberpaar im voluminösen Einklang der Stimmen und im Gegensatz der Charaktere - Inge Borkh als die getriebene, launenhafte und doch so leidenschaftlich ihr wahres Selbst suchende Frau, ein subtiles Seelenporträt bei aller Kraft und Entschiedenheit der Konturen, und Dietrich Fischer-Dieskau als Barak, unvergleichlich in der Identität von Wesen und Ausdruck, von Gestalt und Gesang in der kantabelsten aller Straussschen Baritonpartien; wie hier ein simpler Charakter mit höchster Kunst glaubhaft verlebendigt wird, bleibt bewundernswert. Martha Mödls nach anfänglicher leichter Nervosität ins Grandiose wachsende Amme stand als hexenhaftes Zwitterwesen zwischen geister- und Menschenkindern, gleichermaßen überzeugend im Ausdruck hündischer Demut wie elementarer Wildheit; ihre deutliche Wortdeklamation ist bei dieser rezitativischen Partie voll affektiver Dramatik besonders zu rühmen.

Erste Kräfte auch in den episodären Aufgaben: Hans Hotter als Bote Keikobads, Georg Paskuda als das Jünglingsphantom in der Färberstube, Gerda Sommerschuh mit der Stimme des Falken und Hertha Töpper als "Stimme von oben" - sie wahrten den Rang der Aufführung ebenso wie Carl Hoppe, Max Proebstl und Pau Kuen als Baraks zeternde oder jubelnde Brüder und Hans-Bruno Ernst, Raimund Grumbach und nochmals Carl Hoppe in dem mendelssohnisch wohlklingenden Gesang der Wächter am Schluß des ersten Akts. Die Ensembles der Dienerinnen und der klagenden Kinderstimmen klangen transparent und fein abgestuft.

[...]

K. H. Ruppel

   

     Abendzeitung, München, 22. November 1963     

   

Der gestrige Ehrenabend im Nationaltheater

Märchen-Strauss für die Gäste

[...]

Was die Wahl des Werkes betriff, das am Ehrenabend für die Gäste der Staatsregierung gegeben wurde, so konnte sie kaum besser getroffen werden als mit "Die Frau ohne Schatten" von Richard Strauss. Nicht etwa nur deshalb, weil im kommenden Jahr der hundertste Geburtstag von Strauss zu feiern sein wird, dessen treuester Paladin Intendant Rudolf Hartmann ist, und schon gar nicht, weil "Die Frau ohne Schatten" eine besonders leicht verständliche Oper wäre. Doch stellt sie in ihrer Mischung von hochgeistiger Phantastik, Märchen und Drama, von Stilen und musikalischem Raffinement einen Abschluß, eine letzte Möglichkeit der Gattung Oper dar.

[...]

Silbern klang Ingrid Bjoner's mit nachtwandlerischer Sicherheit in höchste Höhen geführter Sopran (Kaiserin). Mit berückender stimmlicher Fülle und großartiger dramatischer Ausdruckskraft stattete Inge Borkh die Färberin aus. Die zauberkundige Amme Martha Mödls war in jeder Phase von jener dramatischen Unbedingtheit, die das Wesen dieser hervorragenden Künstlerin auszeichnet. Das Liedhafte der Partie des Barak prädestiniert Dietrich Fischer-Dieskau in unübertrefflicher Weise für diese Rolle. Strahlend singt Jess Thomas den Kaiser; stimm- und ausdrucksgewaltiger Geisterbote ist Hans Hotter; in Charakteristik schwelgen die Färberbrüder Carl Hoppe, Paul Kuen und Max Proebstl. Georg Paskudas kraftvoller Jünglingsgesang und Ingeborg Hallsteins Tempelwächter beschließen dieses Fest der Stimmen.

Joseph Keilberths Ideal eines weichen, schönheitsgesättigten Strauss-Klanges wird in diesem Haus zur Wirklichkeit. Mit überlegenem Kunstverstand brachte er die üppige Farbenpracht der Partitur zu herrlichem Leuchten.

Die von Begeisterung getragene und mit Begeisterung aufgenommene Aufführung war die Weihe der Stunde und der Pracht des neuen Hauses würdig.

Antonio Mingotti

   

     Münchner Merkur, 23./24. November 1963     

   

Eröffnungswochen im Nationaltheater

Frau ohne Schatten

    

Die große Premiere ist mit allen Anzeichen festlichen Glanzes vorübergegangen. Es war gelungen, die Atmosphäre des Außergewöhnlichen zu schaffen; über dem Hause lag jene eigentümlich knisternde Stimmung gespanntester Erwartung, der Schlußbeifall war stark und heftig; und viele machte schon die Tatsache des Dabeigewesenseins glücklich.

Seit Monaten hatte die "Frau ohne Schatten" ihre Schatten vorausgeworfen. Man wollte mit der Eröffnung Richard Strauss, Münchens größten Sohn, ehren, man wollte aber auch die "Meistersinger", die deutsche Festoper schlechthin, nicht missen. So kam es zu der berühmten Patentlösung einer Doppel-Eröffnung: einmal Strauss nur für geladene Gäste, einmal die "Meistersinger" als erste öffentliche Vorstellung.

Aber damit nicht genug der Schwierigkeiten. Unter den Strauss-Werken fiel das festlichste, der "Rosenkavalier", aus, da er eben erst im Prinzregententheater, und zwar bereits im Hinblick auf die Möglichkeit der Übernahme ins Nationaltheater, neu einstudiert wurde. "Ariadne" gehört ihres intimen Charakters wegen ins Cuvilliés-Theater, "Salome" und "Elektra" sind als Einakter für festliche Anlässe nicht beliebt.

So fiel die Wahl auf die "Frau ohne Schatten"; und auch hier wurde von Anfang an mit Bedenken nicht gespart. Man machte geltend, dies Werk sei nicht bühnenwirksam, der Text zu symbolgeladen, zu kompliziert, um von einem zwar festlichen, aber nicht in jedem Fall fachmännischen Publikum verstanden zu werden.

Läuterung der Sündigen, Prüfungen, Trennung und Wunder schwebten Hofmannsthal vor, als er für Strauss das Libretto schrieb. Was Goethe plante, aber nicht zu Ende führte, da er keinen geeigneten Komponisten fand: eine Fortsetzung der "Zauberflöte", das ungefähr schwebte Hofmannsthal auch beim Szenarium der "Frau ohne Schatten" vor.

Das Resultat jedoch war, daß wir den vielbelächelten Schikaneder nie so bewunderten wie jetzt, da wir die "Frau ohne Schatten" haben. Ihm gelang mit der naiven Ungebrochenheit des instinktsicheren Theatermenschen, was Hofmannsthal versagt blieb: die Sinnfälligkeit des Geschehens.

Überdies erging es der Ehe Strauss-Hofmannsthal so ähnlich wie der Ehe des Färberpaares in ihrer Oper. Sie verstanden sich nicht recht; die dem Unwirklichen und Irrationalen zugewandte Seele Hofmannsthals verträgt sich nicht mit der dem Irdischen verhafteten Seele Straussens, die symbolhaft stilisierte Welt des Dichters paßt nicht zu dem Wirklichkeitssinn des Komponisten.

So schwankt denn die "Frau ohne Schatten" zwischen Tiefsinn und Stofflichkeit, koppelt leichtgesponnenes dichterisches Symbol mit musikalisch handfester Untermalung, ist Zauberoper, Ausstattungsstück und Allegorie, aber ohne die fast noch barocke Universalität Mozart/Schikaneders – wahrlich kein leichtes Stück für Regisseur und Bühnenbildner.

Wie Rudolf Hartmann und Helmut Jürgens die Schwierigkeiten gemeistert haben, ist bewundernswert – die Aufführung hat keine Schattenseiten. Jürgens schuf hier eine seiner sublimsten und beziehungsreichsten Szenerien; ein Märchenreich der Phantasie tut sich auf, eine farbige Wunderwelt aus Tausendundeiner Nacht.

Die Terrasse über den kaiserlichen Gärten in geheimnisvoll fahlem Morgenlicht, das orientalisch bizarre Färberhaus, eingehüllt in ein warmes Braun-Rot, Symbol dumpfer Erdgebundenheit, dann wieder kostbare Spiegel im fürstlichen Traumpalast, das herrliche Schlafgemach der Kaiserin mit einem riesenhaften Quasi-Gobelin im Stil indischer Miniaturen, unmittelbar darauf die metallisch schimmernden, düsteren Grabstätten im Inneren des Berges – blitzschnell folgt ein märchenhaft gaukelndes Bild dem anderen bis zur sonnenstrahlenden Landschaft im Geisterreich des Schlußbildes, wo Strauss nur so schwelgt in üppigem, knalligem Wohlklang.

Auch die Lichtregie zaubert mit. Sie umgibt den Geisterboten mit adlerhaft gespreiztem Flügel wie einen mächtigen Dschin aus Tausendundeiner Nacht, läßt einen blutroten Falken durch den Raum schwirren, hilft mildtätig, wenn Menschen und Geister unabhängig von Zeit und Raum auftreten (nur auf die "blinkend durch die Luft" fliegenden Fischlein müssen wir verzichten). Wer die Phantasmagorie liebt und verzaubert werden will, er kommt bei Jürgens/Hartmann auf seine Kosten.

In der Führung der Personen beweist Hartmann wieder seine eminente Strauss-Kenntnis. Trotz ihrer Buntheit ist die "Frau ohne Schatten" ja handlungsarm und trotz Anlehnung an Schikaneder und Raimund nicht bühnenwirksam. Manche Szenen bestehen überhaupt nur aus einem einzigen Monolog, und die Geister und Menschen bleiben Symbolträger, gewinnen kein Theaterblut.

Aber was an Handlungsmomenten im Stück auffindbar ist, wird von Hartmann intensiviert und klar herausgearbeitet. Dabei wahrt er immer den großen Bogen, verliert sich nicht an unwichtige Details und respektiert den weitgehend statischen Charakter der vielen monologischen Partien. Hervorragend gelingt es ihm, die Kaiserin, die im Färberhaus eine fast stumme Rolle spielen muß, immer präsent, das Spiel immer auf sie bezogen sein zu lassen.

Geradezu virtuos ist das Problem der Schatten gelöst. Hier sind alle Register moderner Beleuchtungshexerei gezogen. Die Kaiserin wirft wirklich keinen Schatten (oder fast keinen); und der dramatische Moment, in dem sie ihn gewinnt, wird für den Zuschauer auch optisch zum Höhepunkt.

Wie für die beiden Ehepaare bedeutet die Oper auch für die Sänger – allein drei dramatische Soprane werden verlangt – eine Oper der Prüfungen. Sie ist mit ersten, allerersten Kräften besetzt.

Eine Amme von unheimlicher Größe stellt Martha Mödl dar. Mit dramatischer Schärfe kommen ihre dämonischen und düsteren Gesänge, stiftet sie Unfrieden und verlockt sie – ein weiblicher Mephisto – zu falschem Begehren.

Nicht weniger überzeugend die beiden Frauen, die, die ihren Schatten gewinnt, und die ihn wiedergewinnt. Mit viel Hingabe und starkem Impuls spielt Ingrid Bjoner die Kaiserin, strahlend ihre Erscheinung, ihr leichtfüßig schwebender erster Auftritt erinnert daran, daß sie einmal ein elbisches Elementarwesen, eine Gazelle war; und, um mit der Amme zu sprechen, durch ihre Stimme "wandelt das Licht". Sie findet den Ton für die Sehnsucht, die Zerknirschung, für den leidenschaftlichen Aufschrei der Gewissensqual und die Beseligung, nimmt die verwegenen Höhen mit Elan und setzt dramatische Lichter auf.

Inge Borkh erfaßt als Färbersfrau den Unmut der Unverstandenen mit der metallischen Strahlkraft ihres Soprans. Die kühle Härte gegen Barak und die kokette Geziertheit gegenüber dem Wunschbild lösen sich schließlich in den echten Ton der Liebe.

Dietrich Fischer-Dieskau wird ganz eins mit der dumpfen, starken, schlichten Menschlichkeit des Färbers, der erfahren muß, wie überirdische Mächte in sein Dasein eingreifen und ihn zu zerstören suchen. Er färbt seine Stimme zu der eines gutmütigen Bären, mächtig und gefühlswarm. Bei ihm und der Färberin liegt der eigentliche Schwerpunkt der Handlung, so sehr sich auch Strauss und Hofmannsthal dagegen verwahrten.

Denn die Rolle des Marmorkaisers bleibt schemenhaft, er hat im wesentlichen nur schön zu singen. Mit heldisch strahlender, noch ganz unversteinter Stimme singt Jess Thomas seine schöne, schmerzliche Zwiesprache mit dem Falken. Obwohl ihm jede Aktion verwehrt ist, hat er darstellerische Überzeugungskraft allein schon durch die intensive Gespanntheit. Wenn er auf steinernem Thron sitzt, glaubt man der Kaiserin den Schrecken, so beklemmend weiß er das Versteinte durch seine Haltung auszudrücken.

Auch für die Seconde partie sind, Zeichen einer wirklichen Festaufführung, große Namen aufgeboten: Hertha Töpper, Ingeborg Hallstein, Hans Hotter, Georg Paskuda. Carl Hoppe, Max Proebstl und Paul Kuen vertreten als Einäugiger, Einarmiger und Buckliger mit Prägnanz das groteske Element; und mit frappierender Realistik singt Gerda Sommerschuh den Falken.

Mit dem ernsten, düsteren Ton des Keikobad-Themas ist der Hörer in die unheimliche Stimmung der Anfangsszene versetzt. Joseph Keilberth dirigiert mit ruhiger Selbstsicherheit und bemerkenswerter Einfühlung in den spezifischen "Frau-ohne-Schatten"-Stil. Er schwelgt in glitzernden Lichtern und saftigem Celloklang, schleudert aber auch, wo Strauss, namentlich im dritten Akt, alle Register der großen Orchestermaschinerie zieht, die vollen Orchesterwogen ins neue Theater.

Zum Schluß von Straussens umfangreichster Partitur kommt mit den "Stimmen der Ungeborenen" zu den vielen Bezügen der "Frau ohne Schatten" noch einer zu

"Faust II". Keilberth hat diesen "Chorus mysticus" kurzerhand gestrichen.

Am lang anhaltenden Beifall spürte man die große Freude über das neue alte Nationaltheater und über die hervorragende Aufführung.

Helmut Schmidt-Garre

   

     vermutlich Berliner Morgenpost, Datum unbekannt     

   

Eröffnungsvorstellung in München mit der Strauss-Oper
"Die Frau ohne Schatten"

Sternstunde des deutschen Operntheaters

   

Mit der ersten Aufführung im Nationaltheater München, der Oper "Die Frau ohne Schatten" von Richard Strauss, die ausschließlich vor geladenen Gästen der bayerischen Staatsregierung stattfand, hat Professor Rudolf Hartmann bereits ein Aufführungsniveau geschaffen, das sich mit dem der beiden europäischen Opernmetropolen Wien und Mailand die Waage halten dürfte. Eine vollkommenere Besetzung, als sie bei dieser ersten Aufführung im neuen-alten Nationaltheater vereinigt war, ist kaum denkbar. Hartmanns Neuinszenierung gestaltete sich zu einer Sternstunde des deutschen Operntheaters.

Die Neuinszenierung von "Frau ohne Schatten" hat wie jede erste Premiere in einem neuen Haus ganz bewußt etwas von einer symbolhaften Dokumentation an sich. Der Münchner Komponist Richard Strauss, dem zu seinem 100. Geburtstag in München nicht weniger als zwölf Werke im Frühjahr 1964 von der Bayerischen Staatsoper gewidmet sind, ist das "Lieblingskind" des Münchner Staatsintendanten. Rudolf Hartmann hat den Ehrgeiz, aus München ein "Strauss-Bayreuth" zu machen. Seine Inszenierung, in der er den ganzen technischen Apparat des Nationaltheaters virtuos einsetzte, ist der beste Beweis dafür, daß in München ein Äquivalent zu der Festspielstadt Bayreuth entsteht.

Daß die Oper "Frau ohne Schatten" wenig in den Spielplänen der Theater erschien, liegt nicht allein an den Schwierigkeiten der Aufführungspraxis, die sich auf die Besetzung der Partien und des Orchesters beziehen. Viel schwerer wiegt die wirre Handlung des höchst poetischen Librettos von Hugo von Hofmannsthal. Der Dichter will das tragische Schicksal weiblicher Unfruchtbarkeit zeigen, das sich in zwei kinderlosen Frauen, der Kaiserin und der Frau des Färbers Barak, manifestiert.

In seiner Oper "Frau ohne Schatten" schlägt Strauss eine Brücke zwischen "Elektra"-Stil und dem kammermusikalischen "Ariadne"-Orchester. Darin sind auch die reichen Entfaltungsmöglichkeiten des Dirigenten und seines Orchesters begründet. Der musikalische Leiter der Staatsoper, Joseph Keilberth, deutete die Partitur mit feinstem Fingerspitzengefühl sowohl für ihre dramatischen Effekte als auch für ihre großen lyrischen Melodienbögen aus. Das Orchester der Bayerischen Staatsoper fühlte unüberhörbar die Meisterhand, von der es geführt wurde und entfaltete Klangwunder an Leuchtkraft und Transparenz.

Wie Keilberths musikalische Leitung die letzten Schönheiten der Partitur zugleich enthüllt und diskret umhüllt, so macht Rudolf Hartmanns Regie Zusammenhänge klar, deckt verborgene Charakterzüge der Personen auf. Der Regisseur sieht sich in dieser Oper, die man nicht zu Unrecht den "Musik-Faust zweiter Teil" genannt hat, der schwierigsten Aufgabe gegenüber. Unter seiner Hand weitet sich die Märchenfabel zu einem Gleichnis. Hartmanns Regie, die ganz aus dem Geiste der Partitur den Klang der Musik in das Sichtbare der Szene umsetzt, findet ihren Höhepunkt in der Gestaltung der letzten drei Bilder des dritten Aktes.

Auf der Bühne wirkte ein Ensemble erlesener Stimmen. Inge Borkh als Frau des Färbers Barak bestach mit gleißenden Tönen in der Höhe. Ihre Stimme ist das Instrument einer ungewöhnlichen Gestaltungskraft, das ihr, in der Schönheit unterschiedlich im Ausdruck immer gehorcht. Eine Glanzleistung war Dietrich Fischer-Dieskaus Barak, der in dieser Aufführung einen Grad von Virtuosität und Intensität erreichte, der in seiner Vollkommenheit unübertrefflich erscheint. Jess Thomas verfügte in der Partie des Kaisers über sehr sanfte und lyrische Register. Glanz und Wärme, Überlegenheit in der musikalischen Erfassung und Gestaltung, Innigkeit und zugleich überlegtes Espressivo strahlte Ingrid Bjoner als Kaiserin aus. Martha Mödl als Amme offenbarte sich wieder einmal mehr als eine Sängerin, die in Spiel und Stimme die Strahlkraft einer hervorragenden Persönlichkeit besitzt. Die Bühnenbilder des kurz vor der Eröffnung verstorbenen Helmut Jürgens bezogen ihre Wirkungen aus der Kontrastierung traumhafter Mystik und naturalistischer Gegenständlichkeit.

Der Beifall am Schluß der Aufführung war schier endlos und steigerte sich zu Ovationen, als sich Keilberth und Hartmann vor dem Vorhang zeigten.

Jürgen Serke

   

     Die Welt, 22. November 1963     

   

Münchner Nationaltheater wiedereröffnet

Verwirrende Symbolwelt

Richard Strauss’ "Die Frau ohne Schatten" als erste Inszenierung

    

Die Münchner haben ihr Nationaltheater wieder. Und die Welt, in der Kultur, Musik und gesellschaftliche Würde zählen, ist um ein schönes, ein strahlendes, festliches Opernhaus reicher geworden. Der verzauberte Glanz des wiedererstandenen Bauwerks mit seiner machtvollen klassizistischen Fassade und dem eleganten Schwung seines fünfrangigen Innenraums gab dem ganzen Festtag Atmosphäre.

Auch solche, die für einen modernen Theaterbau plädiert hatten, ohne vielleicht daran zu denken, daß daraus in München ein hinkender Kompromiß geworden wäre, verstummten jetzt vor diesem "Triumph der Restauration". Den Kostenaufwand von nahezu 65 Millionen rechtfertigte Ministerpräsident Goppel beim eröffnenden Festakt damit, daß gerade eine Zeit wie die unsere Punkte und Orte brauche, die hinaushelfen aus der Enge.

Nach dem Symbol der Schlüsselübergabe vom Vormittag als Startzeichen für den eigentlichen Opernbetrieb, der freilich selber von den zitierten Nöten nicht verschont bleibt, konfrontierte man am Abend die Ehrengäste mit der verwirrenden Symbolwelt der "Frau ohne Schatten". Sieben Jahre lang hatte Hofmannsthal seine "Stollen ins Dunkle" dieses schwierigen Stoffes gebohrt, Strauss hatte mit Geduld gewartet und dann die fertiggestellten Texte mit der geläufigen Meisterschaft, über die er nach "Rosenkavalier", "Ariadne" und Alpensymphonie verfügte, in Klang eingebettet.

Was dabei entstand, ist sicherlich eines der bedeutendsten Dokumente für den Geist, für den Stil und die jeweils persönliche Mitgift in der Zusammenarbeit zwischen Dichter und Komponist. Aber es bedurfte schon des ganzen Strauss-Enthusiasmus von seiten des neuen Hausherrn, Rudolf Hartmann, und seines Chefdirigenten Joseph Keilberth (vielleicht auch der heimlichen Lust an musikalischer Nötigung der operngewohnten Prominenz), ausgerechnet aus diesem Werk eine Eröffnungsoper zu machen.

Denn die "Frau ohne Schatten" bietet keine Schauseiten dar, sie ist weder kulinarisch noch üppig, noch pathetisch und erhebend, schon gar nicht heiter und vergnüglich. Und die von Hofmannsthal bemühte Parallele zur "Zauberflöte" hat höchstens darin recht, daß in beiden Fällen Märchenmotive und der Gegensatz zwischen Menschen- und Geisterwelt das dramaturgische Konzept bestimmen.

Aber gerade die pralle Theaterlust Schikaneders fehlte Hofmannsthal. Und die literarische Qualität seines Textes mag eher beim Lesen als beim Hören ein Vorzug sein. Strauss hat zwar Rücksicht auf die Verständlichkeit genommen, sein farbenreiches Orchester gedämpft und besonders wichtige Stellen sogar melodramatisch behandelt, aber im ganzen versteht seine Musik doch eher, reale Vorgänge für bare Münze zu halten, als das verschlüsselte, vielschichtige Geschehen aufzudröseln, überschaubar zu machen.

In diesem Sinne war die Inszenierung von Rudolf Hartmann sehr straussisch. Denn die Vorgänge im Färberhaus hatten das deutlichste Profil, die größte Standfestigkeit in Aktion und Bild. Aber freilich, wenn der gefühlverklemmten Färbersfrau die Lockungen eines besseren Lebens vorgeführt werden sollen, dann spielt nur die Verwandlungmaschinerie der Bühne, deren technische Einrichtung im Gegensatz zur architektonischen Rekonstruktion mit dem modernsten und raffiniertesten Komfort ausgestattet wurde; jedoch es wird nicht gezaubert.

Diese irreale Zone beschwören – mit einer einzigen Entgleisung beim Schlußbild, bei dem die straussische Süße der Apotheose zu wörtlich genommen wurde – die zugleich abstrahierenden und imaginativen Bühnenbilder von Helmut Jürgens. Die erinnern etwas schmerzlich an die künstlerische Intensität und Potenz dieses wandlungsfähigen Mannes, der in den Vorbereitungswochen einem Herzschlag erlag.

Schon Strauss hatte zu der Gestalt des Färbers Barak die meiste persönliche Sympathie, Hartmann folgte ihm darin, und Fischer-Dieskau entsprach in Stimme und Statur wohl beider Idealvorstellung. Die größeren seelischen Komplikationen hat allerdings die Färbersfrau zu bewältigen, deren stimmliche Ausdruckskraft bei Inge Borkh das an Plastik ersetzte, was ihr die Regie schuldig blieb.

Es wurde überhaupt sehr gut gesungen bei diesem Eröffnungsabend. Die Bayerische Staatsoper bewies durchaus eindrucksvoll, daß man nicht nur für den Bau, sondern auch bei denen, die ihm künstlerische Lebendigkeit geben, nicht an Aufwand gespart hatte. Ingrid Bjoners Sopran hatte Spannkraft für Koloratur und Dramatik in der Partie der Kaiserin, Jess Thomas, dessen Stimme sich immer mehr rundet und zu schönem Timbre verfestigt, konnte als Kaiser ariose Lyrik entfalten.

Um zwischen diesem hervorragend besetzten Solistenquartett die komplizierten dramaturgischen Querverbindungen einfädeln und spannen zu können, fehlte es Martha Mödl vielleicht an mephistophelischer Wendigkeit, dennoch taten ihre Alttöne dem geheimnisvollen Gehabe der Amme gut.

Es war ein würdiger, großer, in der Disposition etwas unverständlicher Abend, an dem sich alle unter der moderierend temperamentvollen Leitung Joseph Keilberths dafür einsetzten, den Ruhm des großen Münchner Komponisten auch an der Schwelle einer baulich und künstlerisch neuen Ära zu festigen und zu mehren.

Ulrich Dibelius

     

     tz, München, ? 1. Dezember 1963     

    

Münchens neuerstandene Oper

Richard Strauss zur intimen Eröffnung

   

Als am Vormittag des 21. November Hans Knappertsbusch anläßlich des Festaktes der Bayerischen Staatsregierung im wiederaufgebauten Nationaltheater den Taktstock zu Beethovens "Die Weihe des Hauses" hob, Ministerpräsident Alfons Goppel die Festansprache hielt, Staatsintendant Rudolf Hartmann aus den Händen des bayerischen Kultusministers Theodor Maunz den Schlüssel überreicht bekam und Robert Heger Chöre aus dem "Messias" von Georg Friedrich Händel dirigierte, fanden die Festwochen zur Wiedereröffnung eines der bedeutendsten Opernhäuser der Welt ihren feierlichen Anfang. Mit gutem Grund hat Rudolf Hartmann "Die Frau ohne Schatten" an den Beginn der Festvorstellungen gestellt. Nicht nur, daß Richard Strauss gerade dem Nationaltheater (sein Vater war hier schon erster Hornist und Orchestervorstand) als Komponist und Dirigent zeitlebens eng verbunden war, auch der Regisseur Hartmann ist ein Strauss-Spezialist par excellence, und die "Frau ohne Schatten" darf wohl überhaupt als die genialste Partitur dieses Meisters gelten. Der "Rosenkavalier" war kaum beendet, als Hugo von Hofmannsthal ein neues Libretto für Richard Strauss schaffen sollte. Hofmannsthals Notiz von 1911 ist gleichzeitig die kürzeste und beste Skizzierung der Handlung: "Die Kaiserin, einer Fee Tochter, ist kinderlos. Man verschafft ihr das fremde Kind. Schließlich gibt sie es der rechten Mutter zurück (Wer sich überwindet ….). Das zweite Paar (zu Kaiser und Kaiserin) sind Arlekin und Smeraldine. Sie will schön bleiben. Er täppisch und gut. Sie gibt ihr Kind her, einer als Fischhändlerin verkleideten, bösen Fee; der Schatten als Zugabe." Strauss machte sich sogleich an die Arbeit, und wenn man ihm oft eine gewisse Äußerlichkeit vorwarf (bisweilen zu Recht), hier, in diesem Opus, lotet er in die tiefsten Tiefen, aus denen er jemals schöpfte. Seine unerreichte Kunst der Instrumentierung wird Mittel zum Zweck, alles ist abgestimmt auf das Schicksal der Frau des Färbers und wenn hier, im Gegensatz zum "Rosenkavalier" oder zur "Arabella", plötzlich wieder Wagnerklänge an unser Ohr dringen, so hat das seinen Grund im Symbolhaften und Mystischen des Stoffes. Helmut Jürgens stieß in seinen Bühnenbildern mit ungewöhnlicher, stark beeindruckender Intensität in den visionären Bereich dieser Oper vor, und die Brücke vor einem von lichtem Blau bis zu verklärtem Rosa schimmernden Strahlenkranz wird uns eine unauslöschbar Erinnerung bleiben. Rudolf Hartmann versuchte die naturalistischen Szenen (so etwa im Hause des Färbers) übergangslos mit den Darstellungen des Geisterreiches zu verbinden, und es gelang ihm dabei, jeder Peinlichkeit und jeder Sentimentalisierung zu entgehen. Sogleich konnte auch die supermoderne, bühnentechnische Einrichtung unaufdringlich aktiviert werden. Zu einem Genuß ohnegleichen wurde das stimmliche Format der Aufführung. Ingrid Bjoner hat sich in der Partie der "Kaiserin" in die Weltklasse einer Rysanek emporgesungen. Jess Thomas verband als "Kaiser" Metall und Schmelz seines prachtvollen Tenors zu beglückendem Ausdruck. Martha Mödl (Amme) erfüllte, ebenso wie Inge Borkh (Frau des Färbers), ihre Rolle mit überschäumender Vitalität. Dietrich Fischer-Dieskau gab dem "Färber" die ganze Ausstrahlung eines der größten lebenden Sänger-Darstellers deutscher Zunge, und Ingeborg Hallstein (Hüter der Schwelle), Hans Hotter (Geisterbote) und alle übrigen Mitwirkenden sorgten für eine beispielhafte Ensembleleistung. Souverän der Aufführung war jedoch zweifellos Joseph Keilberth am Dirigierpult, der das Bayerische Staatsorchester in einer nicht mehr zu übertreffenden Weise zum Erblühen brachte (und auch von der Akustik des neuen Hauses restlos überzeugen konnte). Der triumphale Erfolg dieser ersten Inszenierung ist ein gutes Omen, und es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß sich die hohen Wünsche und Ansprüche – die man mit Recht und Nachdruck an die Adresse der Bayerischen Staatsoper richtet – voll und ganz erfüllen werden!

Karl-Robert Danler

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