Zum Konzert am 9. April 1964 in Bonn

Generalanzeiger, Bonn, 11./12. April 1964     

Dunkel ist das Leben, ist der Tod

Gustav Mahlers "Lied von der Erde" in der Beethovenhalle

Mahler wollte das Werk ursprünglich "Das Lied vom Jammer der Erde" nennen. "Dunkel ist das Leben, ist der Tod", Li-Tai-Pes resignierender Refrain, war ihm wie natürlich zum Leitsatz des Ganzen geworden, Spiegel seines Bewußtseins vom nahen eigenen Ende, Ausdruck der persönlichen Not, des Abschiednehmens von Jugend, Schönheit und Freundschaft. Aber über das private Bekenntnis hinaus gelang ihm, dem mit seiner Zeit und der "Stimmung" seiner Epoche durch tausend sensible Fäden des Mit-Leidens verbundenen Künstler auch ein Werk, das wie in einem Brennspiegel noch einmal die geistige Situation einer innerlich zerrissenen, herbstlichen Kultur zusammenfaßte. So jedenfalls vermögen wir es heute am ehesten zu begreifen: als einen äußersten Gegenpol zur Ringstraßen-Monumentalität der meisten seiner früheren Sinfonien, bis in die Details der Faktur ("lineare Polyphonie") und der Klangkombinationen hinein Symptom der aufkommenden Beziehungslosigkeit und Verlassenheit des modernen Menschen, schwermütiger Abgesang auf alle Romantik, Endspiel.

An sich gehört diese "Liedsinfonie" auf Texte aus Hans Bethges "Chinesischer Flöte", von vielen Musikern und auch den meistern Mahler-Skeptikern als das unantastbare Werk des Komponisten und abgeklärtes Kunstwerk betrachtet, in dem Wollen und Vollbringen endlich ganz zur Deckung gekommen sind, zu den am wenigsten vernachlässigten Schöpfungen Mahlers. In den großen Musikzentren hat man es in den letzten Jahren hin und wieder hören können. Aber daß die Bamberger Symphoniker unter ihrem Chefdirigenten Joseph Keilberth und mit zwei der prominentesten deutschen Sängersolisten das Riesenwerk nun auch in bundesrepublikanischen Städten zur Aufführung bringen, wo – wie in Bonn – eigener Apparat und Mittel nicht hinreichen, um es zu bewältigen, ist als ein außerordentliches Phänomen zu werten. Hier erhält musikalische Reisetätigkeit Sinn: ein schwieriges, entlegenes, großes Werk mit einem erstklassigen "Apparat" sorgfältig einzustudieren, auf möglichste Perfektion hochzutreiben und gleichermaßen als zeitgenössische "Modellaufführung" einem möglichst großen Publikum zugänglich zu machen.

Doch ist Perfektion nicht das richtige Wort, um die zustande gekommene Aufführung, die Bonns Konzertpublikum in der Beethovenhalle in einem Sonderkonzert der Rabofskyschen "Pro-Musica"-Reihe erleben konnte, zu definieren. Keilberth ist sicherlich nicht von Natur Mahler-Interpret. Er geht auch an Mahler mit kritischem Ohr, mit der Sensibilität des modernen Musikers für diffizile Klangfarben, mit Sinn für architektonisches Gefüge und aber auch mit dem Gespür des Opernkapellmeisters für den raffenden, dramatischen Effekt heran. Er leuchtet die Partitur des "Lieds von der Erde" mit intensiver, etwas nervöser Sachlichkeit auf alle Feinheiten hin aus, aber er hat auch genügend zusammenfassende Kraft, um die Kontinuität des Klangablaufs wachzuhalten. Vielleicht ist ihm die gerade hier gestellte leidige Frage des Auseinanderlaufens von sinfonischer und dramatischer Musik noch nicht ganz ideal aufgegangen – aber Keilberth glaubt ganz offenbar an diese Musik, und das ist Voraussetzung jeder gerechten Darstellung.

Als Solisten standen Dietrich Fischer-Dieskau und Fritz Wunderlich zur Verfügung, zwei versierte Kenner der Partien und hervorragende Mahler-Sänger. Man kann darüber streiten, ob ein weiblicher Alt nicht doch dem Bariton vorzuziehen sei für die zärtlicheren, zarten Passagen der drei tief gesetzten Lieder, aber vor dem tiefen Ernst und der wunderbaren Gestaltungskraft von Fischer-Dieskau, vor der gleichsam gefrorenen Traurigkeit, mit der er den "Abschied" vorträgt, und der ungemeinen Nuancierungsfähigkeit seiner Stimme bleibt nur faszinierte Bewunderung. Fritz Wunderlich mußte alle heldischen Kräfte seines herrlichen Organs aufwenden, um sich gegen den ziemlich hart konstruierten Orchesterpart um die drei Tenorlieder durchzusetzen. Was ihm weitgehend gelang. Bonns Musikpublikum, das den Bundespräsidenten und seine Gattin unter sich wußte, war mit Recht begeistert von der Darbietung; großer, langer Applaus für die Sänger und den Dirigenten und das Orchester beschloß den Abend, der mit einer gestrafften, streng durchgeformten Aufführung der Achten Sinfonie Beethovens eröffnet worden war. Für die Rabofskykonzerte war er ohne Zweifel der Höhepunkt der Saison – und sicherlich auch eines der bedeutendsten Ereignisse dieses Bonner Konzertwinters.

H. G. Schürmann

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