Zum Konzert am 11. April 1964 in Düsseldorf

Rheinische Post, Düsseldorf, 13. April 1964   

Fischer-Dieskaus Lied der Erde

Keilberth und die Bamberger Symphoniker am Rhein

Kürzlich gastierte die Warschauer National-Philharmonie in einem städtischen "Meisterkonzert" in Düsseldorf. Es war ein Meisterkonzert. Jetzt bestritten in der wiederum überfüllten Rheinhalle die Bamberger Symphoniker unter Joseph Keilberth das 10. "Meisterkonzert". Hier störte einen der Name, denn ein Meisterkonzert war es nur bedingt. Die Bamberger Symphoniker sind seit Jahren überschätzt. Orchester mindestens dieses Ranges musizieren in jedem Sinfoniekonzert in fast jeder Großstadt Westdeutschlands. Die Bamberger Symphoniker sind ein gutes, aber kein erstes Orchester. Sie haben eine gesunde, deftige Spielkultur, sind im einzelnen nicht sehr differenziert, und in den Bläsern gibt es manchen Patzer. Keilberth unterstreicht als Dirigent noch das unreflektierte, munter bajuwarische Musizieren. Eine gewisse Grobheit ist bei allem Musikantischen daher nicht zu überhören. So setzte die "Achte" Beethovens zunächst bezeugend ein, verlor aber schon im ersten Satz an Spannung und Genauigkeit. Mit Grazie dagegen erklang das Allegro scherzando. Menuett und Schlußallegro waren "Allerwelts-Achte".

Man war dankbar, daß die Bamberger mit ihrem Programm einmal wohltuend von üblichen Programmen reisender Orchester abwichen. Sie brachten Mahlers "Lied von der Erde" mit. Und wieder einmal erwies sich, daß die kostbar funkelnde Fin-de-siècle-Kunst Mahlers Musik ist, die ihre letzte, ja eigentliche Dimension erst in einer entsprechend kostbar kultivierten Interpretation erhält. Mahlers Partituren sind keine Musik für den Konzertalltag. Das gilt auch für den poetischen Zauber vom "Lied von der Erde", die seltene Sinfonie nach altchinesischen Gedichten. Einen Mozart zum Beispiel kann man gut oder schlecht musizieren, es bleibt Mozart, Mahler aber wird erst Mahler, wenn man sich dem Interpretationsrang eines Bruno Walter oder Mengelberg zumindest annähert. Wer das im Ohr hat, hat den Maßstab. Und dem wurden die Bamberger, wurde auch Keilberth nicht gerecht. Die bei allem orchestralen Aufwand zarte, melancholische Partitur erklang allzu handfest, oft auch zu laut (auf Kosten der Sänger und Mahlers). Das Lyrische wurde vom Orchester dramatisiert. Grob gesagt: Man war näher bei Bruckner oder Strauss als bei Schönberg, Alban Berg oder Webern, in deren Nachbarschaft bei aller Verschiedenheit Mahler steht.

Das Meisterkonzert begann und erfüllte sich mit Fischer-Dieskaus Gesang (man hatte die Tenor-Bariton-Fassung gewählt). Wie singt dieser begnadete Sänger vom Leid der Welt, von der herbstlichen Einsamkeit, von der Schönheit, dem Alleinsein, von Liebe und Freunden, trifft den traurig-schönen Atem der ewigen Erde! Er sang sehr, sehr ernst, ganz in sich versunken. Er betörte durch ein gehauchtes Piano, durch gelegentliches Aufstrahlen seines herrlichen Baritons. Er traf die Hörer durch die Stille seiner unwiderstehlich schönen Kantilene. Er traf Mahler. Neben dieser hinreißenden Leistung hatte es Fritz Wunderlich trotz seines edlen, schlanken Tenors nicht ganz leicht, zu bestehen. Doch sein kultivierter Gesang "Von der Jugend" und dem "Trunkenen im Frühling" war auch Mahler. Die vom eigentlichen Ereignis des Abends betroffenen Hörer grüßten Fischer-Dieskau mit Ovationen.

Paul Müller


Düsseldorfer Nachrichten, 13. April 1964     

   

Mahlers Klangkosmos als Ausklang und Ausblick

"Lied von der Erde" im 10. städtischen Meisterkonzert

[...]

Im zehnten Meisterkonzert wurde Mahlers "Lied von der Erde" aufgeführt. Interpreten waren der Dirigent Joseph Keilberth sowie die Sänger Fritz Wunderlich (Tenor) und Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton). Es spielten die Bamberger Symphoniker. Keilberth ist ein Musiker des breiten, behäbigen Flusses und gelegentlich auch der Gemütlichkeit. Er dehnt die Formen gern und bekommt auf diese Weise die Hand frei, um jede melodische Floskel liebevoll auszubreiten, um alles überdeutlich zu sagen und den Klang so plastisch wie nur irgend möglich herauszumodellieren. Obwohl Mahler mit den konträren Proportionen des Klangs nicht gerade zimperlich umgesprungen ist und eine Auflichtung seines vollen Satzes angemessen sein könnte, macht ihm die Methode, die Keilberth pflegt, dennoch den Garaus. Die lange Musik, in der so vieles Unsagbare mitschwingt, wird überdehnt und die Kraft ihres Kerns geschwächt. So lassen auch die weitflächigen Mahlerschen Spannungen nach, das klingende Feld wird weiter und weiter, es verliert sich. So ist Keilberths Interpretation bei aller liebevollen, respekterheischenden Versenkung nicht die beste für Mahler. Fritz Wunderlichs Tenor durchspannte mit hellem Timbre und scharfer Charakterisierung den verzückten Lebens- und Todesjubilus Mahlers. Fischer-Dieskau merkte man an, wie er sich mit dieser Welt identifiziert. Er leistete die überwältigende Aufgabe mit absoluter Schlichtheit in vokaler Gebärde und im Wort-Ton-Ausdruck und erreichte höchste Vergeistigung dieses klingenden Kosmos.

Daß die Bamberger Symphoniker gelegentlich überschätzt werden, zeigte ihre Bewältigung des Mahler-Werkes, die generell befriedigen konnte, im Detail jedoch manchen Wunsch offenließ. Da gibt es instrumentale Wendungen, Bläser-Soli, Streicher-Tutti, die man sich runder und glänzender im Klang, präziser im Ansatz und intensiver in der Ausstrahlung wünscht. Die vorangegangene achte Symphonie von Beethoven wurde in jeder Hinsicht sauber und intelligent geboten. Keilberth nimmt ihr allerdings die heitere Souveränität, das Draufgängerische, das feurig Stürmende. Erdhafte Schwere und joviale Behäbigkeit sind kein Ersatz.

Der Beifall in der vollbesetzten Rheinhalle erreichte nach Mahler das Ausmaß von Ovationen, vor allem für die beiden Sänger.

Gs.

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