Zum Liederabend am 18. April 1964 in Bielefeld

Freie Presse, Bielefeld, 20. April 1964  

Reine Schönheit des Gesanges

Die Dioskuren der Musikwelt, Fischer-Dieskau und Weißenborn, in der Oetkerhalle

Dietrich Fischer-Dieskau, der für das Fach des lyrischen Baritons bereits symbolisch wurde, und Günther Weißenborn, das Sinnbild eines idealen Liedbegleiters, brachten den Liederzyklus "Die schöne Magelone" von Johannes Brahms in der Oetkerhalle zu Gehör. Wieder einmal siegte das Phänomen eines Mannes, der durch seine Stimme Millionen beglückt. Fischer-Dieskau identifizierte sich mit dem klaren, kraftvollen Menschentum des rätselhaft zwischen den Zeiten stehenden großen Komponisten und schöpfte dessen empfindsame Romantik voll aus.

Abkehr von der Außenwelt, Keuschheit und innerer Adel walten im Brahmsschen Liederfrühling, der durch die Liebe zu einem jungen Mädchen inspiriert wurde. "Die wundersame Liebesgeschichte der schönen Magelone und des Grafen Peter aus der Provence" vertonte Brahms in den Jahren 1861 bis 1869 für den Baritonisten Julius Stockhausen.

Das Geheimnis der Stimme von Fischer-Dieskau ist weder allein mit dem technischen Können, noch mit der Pracht des Timbres zu erklären. Sein Gesang ist schlechthin vollendeter Ausdruck einer alles beherrschenden Gefühlswelt. Dieser geheimnisvollen Welt der Töne konnten auch die Besucher am Samstagabend nicht widerstehen.

Der Meister der Sprachbehandlung spann weite glatte Melodiebögen, je nach Ausdrucksnuance färbte er Timbre und Vokale und machte sich den Rhythmus untertan. Das weltabgewandte Gesicht zeugte von der tiefen Versenkung in die Intentionen eines längst gestorbenen genialen Komponisten. Der Sänger spielte auf der Tastatur der Dynamik virtuos, wobei die "mezza voce" zur Offenbarung des Abends wurde. Der nicht zu beschreibende Wohlklang des konzentrierten Pianos glitzerte brillantengleich. Wer könnte "Ruhe Süßliebchen im Schatten" oder "Sind es Schmerzen, sind es Freuden" so schnell vergessen?

Der "klassische" Liedbegleiter Günther Weißenborn erweckte Bewunderung. Trotz seiner stark eigengeprägten musikantischen Persönlichkeit, die voll Temperament ist, paßte er sich mit feinnervigem Gefühl dem Sänger so an, dass beider Vortrag aus einem Guß kam. Dabei nützte Weißenborn die solistischen Möglichkeiten des Klaviers geschickt und unaufdringlich aus.

Nimmt es wunder, wenn das Auditorium nicht wich, ehe die dritte Zugabe der anscheinend nimmermüden Künstler verhallt war?

-ff


Westfälische Zeitung, 20. April 1964     

   

Der große Liedersänger Fischer-Dieskau

Aufführung des Brahms-Zyklus "Die schöne Magelone" – ein künstlerisches Ereignis

    

Das Konzert am Samstagabend mit Dietrich Fischer-Dieskau war ein künstlerisches Ereignis von einer so starken Erlebniskraft, daß es als eine der leuchtendsten Sternstunden im Konzertleben allen unvergessen bleiben wird, die an diesem Liederabend in der Oetkerhalle teilhaben konnten.

Der Name des weltberühmten Berliner Kammersängers hat heute eine ungeheure Zugkraft. Man hat ihn oft als Nachfahren von Schlusnus designiert. Aber das scheint wohl kaum die erschöpfende Sicht zu sein. Er ist eine so ausgeprägte Sängerpersönlichkeit, daß überhaupt keine Vergleiche, weder stimmlich noch gestalterisch, stichhaltig sein können. Jedoch ein großes Glück ist es für die Musikwelt, daß der Künstler zu rechter Zeit, noch sehr jung an Jahren, sich mit aller Hingabe dem Liedgesang verschwor, trotz damals beginnenden Opernglanzes und Weltruhmes und nicht, wie die meisten Sänger, den umgekehrten Weg beschritt, den Liedgesang gewissermaßen als "opernsängerische Altersbestätigung" zu entdecken.

Die Früchte sind jetzt im Zenit der Kunst unendlich reich. Fischer-Dieskau verkörpert heute mit seinem ganzen Sein und Wesen durch seine vollkommen ausgereifte und technisch bis ins letzte gefeilte Baritonstimme die Kunst des Liedgesanges zu höchster Vollendung und steht damit als Sängerphänomen ebenbürtig neben den größten seiner Vorgänger bis hin zu dem vielleicht bedeutendsten Liedgestalter aller Zeiten, Julius Stockhausen, für den es Brahms wagen konnte, seine höchst anspruchsvollen "Magelonen-Romanzen" zu schreiben. Es wird auch heute nur wenige Sänger geben, die es sich zutrauen können, diese Gesänge, die kaum volkstümlich sind und sich dem Bereich des Laien weitgehend entziehen, so zu gestalten, daß sie dem Hörer erlebnishaft nahegebracht werden.

[...]

Fischer-Dieskau setzte das Instrument seiner Stimme in einer unwahrscheinlichen Konzentrationsleistung – er sang ohne Textkonzept – ein, um die lebendige, reiche Welt dieser Romanzen gestalterisch bis in alle Tiefen auszuleuchten. Zwischen dem getragenen Pianissimo von wunderbarer Kantilene und einem gewaltigen Forte von federndem Stahl und mitreißender Urkraft bewegte sich das baritonale Stimmwunder des Künstlers in traumhafter Unfehlbarkeit und haargenauer Intonation mit allen Künsten eines gefeilten Sprechgesanges, um Kampf und Liebe, Sehnsucht und Zweifel, Wonne und Leid in der Differenzierung feinster Seelenschwingungen zu gestalten.

Unvergleichlich gelang die "Tristan"-Stelle aus dem Gesang III "Bleib ich ihr ferne, sterb ich gerne" oder der strahlende Jubelruf "Nur lieben heißt leben" (V). Fischer-Dieskau verzauberte die Umwelt, als er versonnen sang "Rausche weiter fort, tiefer Strom der Zeit" (VI), oder ganz zart und schwebend das bekannte "Süßliebchen" (IX). Prachtvoll gelang das kämpferisch hochgemute Stück VIII "Wir müssen uns trennen, geliebtes Saitenspiel" mit dem Höhepunkt "Der tapfere Schwimmer bleibt obenauf" und der stahlhart in den Raum gestoßenen Frage "Wem fehlt es an Mut?".

Die Erschütterung der klagenden Lieder ging dem wissenden Hörer ergreifend ans Herz: "Mein Blick wird sich nie mehr erheitern, den Stern meiner Liebe zu sehen" oder "Fern muß ich mein Elend tragen, heimlich bricht das Herz mir ab" (XII). Die schicksalsgeschmiedete, begnadete Gestaltungskraft Fischer-Dieskaus offenbarte hier mit letzter Klarheit gleichsam den tiefsten Sinn alles menschlichen Leides.

Dem ebenbürtigen Begleiter und Könner am Flügel, Professor Günther Weißenborn, Mitgestalter dieses wunderbaren Zyklus in Brahms’ Fußstapfen, der bei der Uraufführung Stockhausen selbst begleitete, sei in Kürze doch mit aller Anerkennung und Bewunderung gedacht.

Die Begeisterung der Hörer brandete am Schluß in nicht endenwollenden Ovationen zum Podium empor; Fischer-Dieskau dankte mit einer Reihe weiterer Brahms-Lieder wie dem innigen "Ich ruhe still im hohen, grünen Gras" oder dem im Dreitakt sich wiegenden "Blauer Himmel, blaue Wogen". "Warum denn warten Tag und Nacht?" fand Antwort in "Wie bist du meine Königin..." mit dem das ganze Konzert einbeziehenden Strophenschlußwort "Wonnevoll".

M. Hü.

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