Zum Liederabend am 17. August 1964 in Salzburg

Salzburger Nachrichten, 19. August 1964

Tiefer Strom der Zeit

Dietrich Fischer-Dieskau sang Brahms: Romanzen aus "Die schöne Magelone" von Ludwig Tieck

"Ist es dir wohl schon je so recht traurig in die Seele gefallen, wie betrüblich es sei, daß das rauschende Rad der Zeit sich immer weiter drehe, und daß bald das zu unterst gekehrt wird, was ehemals hoch oben war?" – So setzt Ludwig Tiecks Vorrede ein, nach der er zu den Romanzen eines wunderlichen Traums ausholt, den ein provençalischer Minnesänger einst erfand als "Denkmal einer Liebe": für den Ritter Peter, der von seinen Eltern zog, in Turnieren geheimnisvoll unverwundet Sieg auf Sieg erfocht um den Preis der schönen Prinzessin Magelone, glücklich sie gewinnend und dennoch in Abenteuern noch hart geprüft, bis endlich die Treue beider Herzen Lohn bringt, die nimmer entschwindende, "die liebliche, selige, himmlische Lust", erhaben über Zweifel, über Wankelmut, gefeit vor Sturm und Tod. – Eine Idee von der spiegelgleichen Gemeinschaft der Seelen, wie sie in Johannes Brahms’ Leben und Kunst ihre wunderlich traumhafte, ihre wahre, tiefe und bis ans Ende dauernde Resonanz gefunden hat.

"Tiefer Strom der Zeit, wandelst bald aus morgen heut, gehst von Ort zu Ort..." Es ist vielerlei Wandel im Spiel, und die Zeit ist ein musikalisches Element sondergleichen. Die Musik kommt und lebt in den zählbaren Einheiten des großen wie des kleinen Ablaufs, zwischen Puls und Stundenglas ist ihr Metronom gerichtet; aber da führt noch ein anderes Wegmaß, das verborgene, dem die Zeitalter ihre Verknüpfung danken müssen. Wie faßt man es mit Namen? – Der Liedersänger Dietrich Fischer-Dieskau kennt dieses Wegmaß der Epochen, wie nur die Meister es gekannt haben; jene, die mit ihrem Werk die großen Bögen gespannt, die den unverlöschbaren Glanz der Wahrheit gemehrt haben. Dieser Sänger ist Künder des Ganzen; er errichtet über dem, was als Interpretation erwartet wird, das volle Bild einer Ordnung, getreu in jeder Eigenschaft des künstlerischen Stoffes und – im Entscheidenden –gegenwärtig wie der Schritt des Gehenden in seiner fernen Zeit, wie der Atem des Erlebens, die Farbe, der Schimmer, von dem das Auge erfüllt war zur Stunde des Wirkens. Ein historisierender Akt der Wiedergabe - ? Man würde den Zuhörer damit lächeln machen. Was diesen Gesang mit solcher Bedeutung auszeichnet, ist nicht eine Qualität der möglichst vollkommenen Nachahmung, eine Faksimile-Technik, sondern das Hineingehen ins Werk und unbedingte Sich-Einfinden im Gehäuse, in der engen und weiteren Welt eines schöpferischen Faktums. Daraus allein, aus dieser hingebenden Zeugenschaft des Behaftetseins mit dem Stoff, mit Ort und Zeit, und mehr noch – aus der Liebe, die die größte Verwandlerin ist, die selbst die Seele eines Werkes in die Gestalt zurückrufen kann – daraus stammt das oft genannte, in vielen Gesprächen erörterte Phänomen Fischer-Dieskau.

Diese ganz und gar ungewohnte, auf sich ruhende Erscheinung, die manche verkennen, weil sie den Reichtum vom Anbeginn her, den Ursprung solchen Formats aus Gabe, aus Wissen und endlich aus liebevoll rastlosem Fleiß, irgendwie mit dem geblendeten Gesicht der allergewöhnlichsten Luxuria anschauen – was stellt uns das Beispiel dieser Liederabende Fischer-Dieskaus immer erneut vor Situationen, die der Beschreibung den Boden entziehen! Denn wer hört, ist unversehens mithineingenommen in das Zentrum des Hauses, darin die Musik wohnt. "Was sollen wir nun sprechen - ?" heißt das verzagte Wort in der "Zauberflöte". Was schreibt man? Hätte unsereiner, um des "kritischen Abstands" willen, mit einem Fuße draußenbleiben sollen? Ich habe es bei dem Sänger Fischer-Dieskau selten über viele Takte hin vermocht, diesmal duldete es der ganze Abend nicht einen Augenblick. Man unterschied ihn vielleicht am deutlichsten zunächst durch das Werk, durch die vollkommen dichte Geschlossenheit der fünfzehn Romanzen als einzigem Programm; daraus folgte das bildhaft bannende Gestaltwerden in der Art von Gesangsszenen, wechselvoll im Licht- und Wolkenzug der Stimmungen, aber stetig auf die Herzmitte des Liebeslieds bezogen; und in dieser Sphäre von höchst gespannter Verinnerlichung ereignete sich ein so absolutes musikalisches Gelingen, dass man nur schwanken konnte, was mehr zu bewundern war: eine vollendet fein geordnete, wortklare Vortragskultur, die dennoch schlichte Formung des Ausdrucks oder – über alldem – die Erfüllung durch das Naturell einer Stimme von solcher Schönheit und Lenksamkeit an Farbe und Bewegung, wie sie der Dichter für seine Romanzen nicht kostbarer erträumt haben konnte. In den Zugaben Brahms’scher Lieder, der "Feldeinsamkeit", "Wie bist du, meine Königin", "Warum denn warten von Tag zu Tag?" spiegelte sich ein Stern, dessen ungenannter Name Wehmut war.

Neben seinem Begleiter Gerald Moore, dem Ebenbürtigen, wurde Dietrich Fischer-Dieskau an diesem Salzburger Liederabend des 17. August gefeiert als ein König. Ein Fürst mit einer einsamen Burg zwischen den Gegenden von Armut und Luxus.

Max Kaindl-Hönig


Die Presse, Wien, 19. August 1964     

  

Der Held der Romanzen

Fischer-Dieskau sang Brahms im Mozarteum

   

Dietrich Fischer-Dieskau kam zu seinem Liederabend mit einem Nobelprogramm, das den gesamten Brahms-Zyklus der fünfzehn Romanzen von der "Schönen Magelone" umfaßte. Die Tieckschen Gedichte, die den Text der Kompositionen – fast könnte man sagen, das Libretto des Zyklus -, bilden, sind mit alldem, was sie an romantischem Überschwang bewegt, von außerordentlicher Weite des Gefühls- und Stimmungsausdrucks. Aus dem nebelhaften Geschehen des Romans vom Grafen Peter aus der Provence taucht eine phantastische Bilderreihe auf: wilde Ausbrüche der Empfindung, heroische Aufschwünge, Heimlichkeiten, Verstiegenheiten und süße Zärtlichkeiten. Dem Musiker bieten sich ringsum die dankbarsten Vorwürfe. Brahms findet für sie alle jeweils eine vollkommene musikalische Entsprechung, wobei es seinem Genie gelingt, die Vielfalt einheitlich zu binden, im Wechsel der Gefühle den einmal angeschlagenen Balladenton festzuhalten und damit einen geradlinigen Charakter abzubilden, einen Ritter ohne Furcht und Tadel, der tatenfroh auszieht, schwärmt und sich härmt, das Süßliebchen in den Schlaf singt und immer sich treu bleibt, im Sinne jener männlichen Festigkeit und Charakterstärke, die ja auch den Komponisten selbst kennzeichnet.

Und das eben ist auch Dietrich Fischer-Dieskau und seinem Vortrag nachzurühmen: daß die Vielfalt der Ausdrucksgebung sich einem höheren, organisch einordnenden Künstlerwillen fügt, daß der Held der Romanzen seine Physiognomie bewahrt, einerlei, ob er auf ritterliche Abenteuer auszieht oder in Liebesbanden Glück und Unglück erfährt. Der Naturtrieb der prächtigen Stimme des Sängers drängt ins Heroische, zum Theater, zur Oper, aber seine Singfertigkeit bändigt den Trieb und weiß seinem donnernden Bariton ein zärtliches, echtes und vornehmes Piano abzugewinnen, das besonders reizvoll wirkt, wenn es sich so ganz ohne Affektiertheit mitteilt. Was er singt und wie er es singt, ist immer interessant, immer persönlich und zumeist auch überzeugend, zumal im Zusammenspiel mit der feinfühligen pianistischen Assistenz, die Gerald Moore stellt und die in ihrer Weise Mannhaftigkeit im Brahmsschen Sinne bekundet.

Heinrich Kralik

       

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