Zum Konzert am 14. September 1964 in Berlin

Tagesspiegel, Berlin, 17. September 1964  

Musik als Bekenntnis

Dietrich Fischer-Dieskau, die Philharmoniker und Paul Klecki

Wenn es eine Aufgabe der Musik ist, die Leiden der Menschheit auszusprechen – das Konzert des Philharmonischen Orchesters, das von dem Dirigenten Paul Klecki und dem Sänger Dietrich Fischer-Dieskau gestaltet wurde, erfüllte diese Aufgabe und gab den Festwochen einen ernsten und tiefen Grundklang. [...]

Die Lieder, die Dietrich Fischer-Dieskau ausgewählt hatte, hielten den Grundton des Weltschmerzes fest. Goethes Harfnergesänge in Hugo Wolfs Vertonung wurden zu ergreifenden Bekenntnissen der Einsamkeit. Ergebung und Demut, Schuldgefühl und Auflehnung wurden in gewaltigen Monologen wie quälende Dämonen beschworen, die Anrufung der himmlischen Mächte hatte antik-tragischen Klang. Gustav Mahlers "Lieder eines fahrenden Gesellen" sind mehr als Reminiszenz einer Jugendliebe; sie enthalten im Keime die ganze Fülle von Weltfreude und Weltleid, die sich in den zehn Symphonien in ungeheueren Klangvisionen entfaltet. Daß es Dietrich Fischer-Dieskau gelingt, diese Fülle in den schlichten, volksliedhaften Melodien aufzuspüren und lebendig zu machen, ist das Einzigartige seiner Leistung; jede Regung, Verzweiflung, Todessehnsucht und Traumglück, ist mit fast schmerzhafter Schärfe ausgeprägt, und doch bleibt die melodische Naivität des Liedes erhalten – die Leistung eines Sängers, dem Singen nicht sinnenhafter Selbstgenuß der Stimme ist, sondern Ausdruck, Erfüllung der alten, dem Künstler gewährten Menschensehnsucht "zu sagen, wie ich leide".

Paul Klecki, der die Lieder feinfühlig und diskret begleitete, schloß den Abend mit einem "Konzert für Orchester" von Witold Lutoslawski, einem führenden Vertreter der modernen polnischen Musik. [...]

Oe.

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