Zum Konzert am 25. März 1965 in Berlin

Der Tagesspiegel, Berlin, 27. März 1965

Lobpreisung der Welt

Hans Werner Henze mit dem Philharmonischen Orchester

Ein Abend neuer Musik, ein Abend künstlerischen Glanzes, äußerlich dokumentiert durch ein Aufgebot prominenter Sänger, innerlich bestätigt durch die geistige Vitalität und klangliche Leuchtkraft einer Musik, die sich über Doktrin und Methodik hinwegsetzt und unmittelbar den Weg zum Ohr des Hörers findet, die dennoch geladen ist mit der erregenden, ungelösten Problematik der Zeit: Hans Werner Henze, dem Komponisten und Dirigenten, war das dritte Konzert der diesjährigen Reihe "Musik des zwanzigsten Jahrhunderts" in der Philharmonie eingeräumt, und er machte es zu einer Stunde der erlesenen Sensationen, die hoch über den schon zum Alltag gewordenen Demonstrationen schülerhafter Experimentatoren stand.

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"Novae de infinito laudes" ist der Titel der im Jahre 1961 entstandenen Komposition, die den zweiten Teil des Abends ausfüllte und die in Hans Werner Henzes Schaffen zweifellos den Rang eines Bekenntniswerkes einnimmt. Kein Dichter, sondern ein Denker hat dem Komponisten den Text gegeben: Giordano Bruno, der Philosoph der italienischen Spätrenaissance, der Vertreter einer pantheistischen, auf die Erkenntnisse der neuen Wissenschaft gegründeten Naturreligion, der für die Geltung seiner Lehre den Feuertod des Ketzers auf sich nahm. Henze hat Stellen aus Giordano Brunos Schriften zu einer sechsteiligen Kantate zusammengestellt: die Himmelskörper, die Elemente, Wandlung und Bewegung, Nacht und Tag, die einzige, ursprüngliche absolute Ursache, die Einheit, werden gefeiert. Solostimmen, Chor und ein aus Messing- und Holzbläsern, Violoncellli und Kontrabässen, Lauten, Harfen und Schlaginstrumenten bestehendes Orchester sind beteiligt; die musikalische Form ist durch hymnische und naturalistische, ursprüngliche und traditionelle Elemente, durch die Praktiken der Variation und der Mutation vielfältig bestimmt. Es ergibt sich eine Lobpreisung der Welt, die mit Haydns Schöpfungs-Oratorium die Naivität der Naturbegeisterung, mit Mahlers "Lid von der Erde" die Subjektivität des Weltgefühls gemeinsam hat. Aber was Henze besingt, ist eine Schöpfung ohne Schöpfer, ist ein Kosmos, in dem die Erde zu einem Partikel zusammenschrumpft. Der Komponist findet feierliche Töne für die Vision des unermeßlichen, ätherischen, geordnet kreisenden Alls, übermütige Formulierungen für die Freude am Wechsel – das Tenorlied "Il piacere e nel movimento" hat eine seltsame Affinität zum "Lied des Trunkenen im Frühling" -, er findet, fast entgegen seiner makrokosmischen Konzeption, eine Überfülle musikalischer Symbole für den Mikrokosmos der irdischen Tierwelt, für die Schafe und Rinder, Pferde und Sauen, Tiger, Löwen und Füchse, für Hähne, Kuckucke, Zikaden und Frösche, die sich zu einer orgiastischen Symphonie des Weltlobs zusammentun. Das Ganze ist eine weltliche Liturgie ohne die traditionellen Formeln der geistlichen Polyphonie, durch einen radikalen schöpferischen Willen der musikalischen Materie abgewonnen – und der Beifall der Hörer zeigte, daß auch hier etwas gesehen, geformt und gesagt ist, das des Einverständnisses des Zeitgenossen sicher ist.

Das Solistenquartett, der vitale Sopran Elisabeth Söderströms, der charakteristische Alt Kerstin Meyers, der lyrisch durchschlagende Tenor John van Kesterens, der bewußt interpretierende Bariton Dietrich Fischer-Dieskaus verbanden sich über alle individuelle Verschiedenheit zum ausgewogenen Quartett, der verstärkte RIAS-Kammerchor vollbrachte Wunder an Intonation und sängerischem Elan, die philharmonischen Musiker waren der ungewöhnlichen, die Violinen aussparenden Orchesterbesetzung gewachsen; der Komponist und Dirigent Hans Werner Henze, einhellig applaudiert und oftmals gerufen, durfte den Abend als entscheidenden Erfolg buchen.

Werner Oehlmann

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