Zum Konzert am 9. Mai 1965 in Berlin

Der Tagesspiegel, Berlin, 11. Mai 1965

"Wohin" – Frage als Ausklang

Ein Oratorium von Heinz Friedrich Hartig – Abschluß des Heinrich-Schütz-Festes

Das Schlußwort des Heinrich-Schütz-Festes war einem weltlichen Musiker zugeteilt – wenn man einen Künstler so bezeichnen soll, der die Verlorenheit der modernen Welt mit weltlich-modernen Klangmitteln darstellt, um ihr die Forderung der "Rückkehr zu Gott" als überhöhende Schlußwendung gegenüberzustellen. Heinz Friedrich Hartigs Oratorium "Wohin" für Soli, zwei Chöre und Orchester, als Kompositionsauftrag des RIAS entstanden, wurde in der Philharmonie uraufgeführt, und es erfüllte die Funktion eines Ausklangs, der Kirche und Welt, Glauben und Skepsis in eine produktive Beziehung setzt.

Heinz Friedrich Hartig hat den Text seines Oratoriums aus der Bibel und aus neueren Dichtern, Grabbe, Nietzsche, Rilke, Schneider, Barlach, Benn zusammengestellt; die Vereinsamung des Menschen und die Gewißheit der göttlichen Wiederkehr – "wir sind umzingelt, wir werden fallen in deine Macht" – sind das Thema. Seine Komposition schöpft die Spannungen aus, die sich zwischen gottferner Verzweiflung und hoffnungsvollem Glauben ergeben. Sie konzentriert sich in kleinen Formen, die zu Gruppen zusammengestellt werden; die große Linie ergibt sich aus der Disposition des Details. Zwei Chöre, ein Sing- und ein Sprechchor, stellen das Bekenntnis des Nihilismus an den Anfang: "Alles ist leer, alles ist gleich, alles war." Der Solobariton singt in expressiver Kantilene von der Traurigkeit der Menschen. Ein mystisch-verhaltenes, von zarten Bläserstimmen durchzogenes Duett von Sopran und Bariton ist ein Bekenntnis zur Erde und zum Leben. Der Chor stellt das alte Dogma auf: "Gott schuf den Menschen." Aber die Stimme des Menschen, der Solobariton, revoltiert mit Worten des Hasses und der Dunkelheit. Der Chor, in syllabische, zwischen den Stimmen aufgeteilte, von leeren Vokalisen des Solosoprans begleitete Deklamation aufgespalten, fragt: "Verlorenes Ich, wo endest du?" Der Solobaß leitet eine Episode des Aufruhrs ein, die der Chor mit wilden, unartikulierten Rufen zur Orgie steigert; einzelne, fragende Silben in ein brodelndes Meer von Schlagzeugrhythmen geworfen, sind Ausdruck letzter Hilflosigkeit, die von elektronischen Klängen, von Verzerrungen und Übersteigerungen dämonisch überspielt wird; dieser Einbruch des technischen Klanges in die humane Musik ist bis zum Verhauchen in chorischen, tonbandverfremdeten Seufzern von erschütternder Wirkung.

Der zweite Teil des Oratoriums ist von vornherein auf gläubige, versöhnliche Stimmung gestellt. Eine Passacaglia, vom Englischhorn angestimmt, von allen vokalen und instrumentalen Stimmen weitergeführt, leitet in den Bereich der geformten Musik und damit in den Bereich der göttlichen Ordnung zurück. Die Vision einer neuen Erde, wie sie die Offenbarung des Johannes gibt, steht am Schluß: ein frei ausschwingendes, glühendes, klanggewaltiges Finale, das dem Nihilismus des Wortes das unartikulierte, berauschende "Ja" der Musik entgegensetzt.

Die Aufführung unter der überlegenen, sicher präzisierenden Leitung Peter Ronnefelds, unter Mitwirkung des RIAS-Kammerchors, des Chors der Musikhochschule und des Radio-Symphonie-Orchesters gab ein anschauliches, überzeugendes Bild des Werkes, Dietrich Fischer-Dieskau sang die aufrührerischen und gläubigen, dramatischen und lyrischen Episoden seines Parts mit beschwörender Inbrunst, Annabelle Bernard und Gerd Feldhoff assistierten als versöhnende und dämonisch trübende Stimmen.

Oe

zurück zur Übersicht 1965
zurück zur Übersicht Kalendarium