Zur Oper am 23. Mai 1965 in Berlin

Die Welt, Berlin, 28. Mai 1965

Starker Sog der Interpretation

Dietrich Fischer-Dieskaus Macbeth formt die Aufführung der Verdi-Oper

Die Festwochen-Premiere des "Macbeth" von Verdi in der Deutschen Oper Berlin hatte Dietrich Fischer-Dieskau vor anderthalb Jahren wegen Erkrankung absagen müssen. Erst einige Zeit später trat er in Sellners Inszenierung ein. Nun hat er eine neue Lady, Marion Lippert, an der Hand, in einigen Vorstellungen aufs neue die Titelpartie übernommen. Sein Auftritt wirkt Wunder: Er ordnet die Aufführung, ohne sie unterzuordnen. Sie hat plötzlich eine Mitte bekommen, um die alle Teile des Werks kreisen – ein gefährliches Zentrum allerdings, so stark ist der Sog, der Interpretation Fischer-Dieskaus.

Er singt die Partei nicht vom Blatt und bestückt sie mit Gesten. Er hat ihren Text abgehorcht und läßt sich von ihm die Emotionen zutragen, die wiederum auf Phrasierung und Gesangslinie einwirken. Nie wird sie gesprengt. Sie wird vom Wechsel der Klangfarben dramatisch ausgeleuchtet. Macbeths Charakter enthüllt sich im charaktervollen Gesang. Der aber wiederum reißt den Sänger hinüber in die zwingende schauspielerische Aktion. Ein Macbeth steht mit Fischer-Dieskau auf der Bühne, der geboren ist aus dem Geist der Musik.

Er findet in Marion Lipperts Lady Macbeth nur ein konventionelles Gegenspiel. Sie singt mit ihrer sorgfältig geführten, großen Stimme ihre Szenen dahin, ohne den Stachel ins Fleisch des Hörers zu treiben. Eine Schwester der Ariadne oder der heiligen Elisabeth ist sie, die nur – wenn auch höchst achtbar – andere Noten verwaltet. Sie wird nicht geschüttelt vom bösen Furor des Ehrgeizes. Sie geht, eine Operndame, durch das Werk und singt.

gtl

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