Zur Oper am 29. Juli 1965 in München

Süddeutsche Zeitung, 29. Juli 1965  

Goldschmied mit Dolch im Gewande

Hindemiths "Cardillac" als Festspiel-Premiere / 1927 in München aufgeführt

Als dritte Festspiel-Premiere wird heute im Nationaltheater Paul Hindemiths Oper "Cardillac" aufgeführt. Die Neuinszenierung von Staatsintendant Rudolf Hartmann stellt zugleich eine posthume Huldigung der Bayerischen Staatsoper an den Komponisten dar, der in diesem Jahr seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert hätte. Dietrich Fischer-Dieskau übernahm die Titelpartie des besessenen, dämonischen Goldschmieds Cardillac. Die Tochter wird von Leonore Kirchstein (Köln) gesungen, die nach ihren bisherigen Münchner Gastspielen un erstmals auch in einer Münchner Premiere mitwirkt. Ihr Partner, der junge Offizier, ist Georg Paskuda. Hertha Töpper tritt als verführerische Dame auf, Richard Holm als ihr Kavalier. Karl Christian Kohn singt den Goldhändler, Hans Günter Nöcker den Führer der Prévôté. Bühnenbilder und Kostüme entwarf Ekkehard Grübler (Kassel). Einstudierung der Chöre: Wolfgang Baumgart.

Generalmusikdirektor Joseph Keilberth, der den Cardillac dirigiert, war nicht nur eng mit Paul Hindemith befreundet, sondern gilt laut Statistik auch als der aktivste "Hindemithianer" unter den Dirigenten. (Er wird unter anderem am 16. November das Hindemith-Festkonzert in der Berliner Philharmonie dirigieren). Rudolf Hartmanns Kontakt mit dem Komponisten geht bereits auf das Jahr 1927 zurück, als er den Cardillac. ein Jahr nach seiner Dresdner Uraufführung, in Nürnberg inszenierte. Ebenfalls 1927 ist der Cardillac zum ersten und einzigen Male in München inszeniert worden – unter Karl Elmendorff und Max Hofmüller, mit Erik Wildhagen in der Titelpartie.

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Düstere Rolle für Fischer-Dieskau

Dietrich Fischer-Dieskau habe es außerordentlich gereizt, die dämonische Rolle des Goldschmieds (erstmals) zu gestalten – "Cardillacs ungeheure Selbstüberschätzung und Besessenheit, die ihn bis zur Bewußtseinsspaltung treibt, in der er nicht einmal mehr den Mord als Unrecht anzusehen vermag" erläutert Hartmann. Die übersteigerte Rechtfertigung vor dem Volk am Schluß sei im Grunde eine Rechtfertigung des manisch Getriebenen vor dem Jenseits. "Nichts konnte für ihn mehr existieren als sein Werk – und die Umwelt, selbst seine Tochter nahm er nur noch wie durch eine Glasscheibe wahr". Mit dieser düsteren Rolle übernimmt Dietrich Fischer-Dieskau nun an der Bayerischen Staatsoper seine dritte, speziell für München einstudierte große Partie – nach dem Mandryka in der "Arabella" und dem Dichter Gregor Mitterhofer in Henzes "Elegie für junge Liebende".

Charlotte Nennecke

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Süddeutsche Zeitung, 31. Juli 1965     

    

Münchner Festspiele

Cardillacs triumphale Wiederkehr

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Daß Rudolf Hartmann dem Komponisten noch die erste "Cardillac"-Fassung abtrotzen konnte, wurde zur Voraussetzung für eine exzeptionelle Aufführung. Was als posthume Ehrung zum 70. Geburtstag Hindemiths geplant war, steigerte sich zu einer verklärenden Apotheose des Einunddreißigjährigen, an der ein jeder auf der Bühne wie im Orchester seinen Anteil hatte. Man wurde an Hartmanns unvergeßliche "Wozzeck"-Inszenierung erinnert: dort wie hier die gleiche Prägnanz des Stilwillens, die gleiche Fähigkeit, ein ursprünglich nur aus seiner Entstehungszeit verständliches Werk in die Überzeitlichkeit hinaufzuheben, in der sich erst sein Schicksal erfüllt. In den hervorragend geführten Massenszenen war genau soviel "Expressionismus" zu finden, wie die Sache es erforderte, während die Personalregie eher auf impressionistische Gruppierungen und ein permanentes Unterspielen ausgerichtet war. Die hervorragenden Bühnenbilder Ekkehard Grüblers arbeiteten auch dort mit Farben, wo die Musik nur schwarz-weiße Linien strichelt und überzeugten vor allem auch durch ihre hoffmanneske Komponente. Joseph Keilberth nahm der Partitur über weite Strecken die einstige Aggressivität - und das mit vollem Recht, weil Parolen von Gestern im Duktus des Gestern heute immer etwas Rührendes - oder etwas Fatales - an sich haben. Stets war er mehr auf den Gold-Klang als auf brutale Härten bedacht; unter seinen Händen wurde die Cardillac-Musik eine meisterhafte Filigranarbeit des Kontrapunktikers Hindemith. So dirigierte Keilberth das Werk wie einen Klassiker, was heute das einzig Sinnvolle ist. Das Staatsorchester einschließlich der präzisen Bühnenmusik schlug sich bravourös.

Daß Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelpartie ein Ereignis werden würde, war von vornherein zu erwarten. Um ihn ist Einsamkeit. Ihm glaubt man ohne weiteres die Heiligkeit, nicht die Absurdität des Cardillac-Wahnes nach der "notwend’gen Rückkehr des Geschaffenen zu dem, der es schuf". Jener Augenblick, da der König die Werkstatt des Goldschmiedes verlassen hat, ohne etwas zu kaufen und Cardillac sich jäh darüber klar wird, daß er ihn andernfalls genauso gemordet hätte wie alle anderen, die eines seiner Werke mit sich nahmen, bleibt ebenso unvergeßlich wie die Dramatik seiner Stimme, die dennoch niemals ihr Clairobscur verlor. Und als Cardillac die Verse sang: "Aus den Werken saug ich meine Kraft und meine Kraft geb ich den Werken hin", da schien Fischer-Dieskau seine Autobiographie zu singen.

Um ihn gruppierte sich ein Ensemble ohne Fehl. Die tiefste - und das heißt die größte Reverenz gebührt ohne Zweifel Hertha Töpper, die heute, stimmlich wie darstellerisch, zu einem Gipfel sondergleichen gelangt ist. Hervorragendes leistete Georg Paskuda, der im Fach des Charaktertenors weit mehr überzeugt als in mancher seiner lyrischen Partien. Ihm gelang es, durch außergewöhnliche Intensität, den nicht allzu dankbar gesetzten ariosen Linien Hindemiths Inhalt und Bedeutung, vor allem aber auch das Air der musikalischen Selbstverständlichkeit zu geben. Richard Holm und dem stimmlich glänzend disponierten Karl Christian Kohn gelang das gleiche. Die gute, alte Tradition, nach welcher der Münchner Oper so manche bedeutende Kraft aus dem nachbarlichen Augsburg zuwächst, scheint Leonore Kirschstein fortzusetzen. Sie steht offensichtlich am Beginn einer großen Karriere, auch wenn ihrer Stimme noch die persönliche Färbung fehlt. Noch singt sie "nur" schön, voll und rein. Doch eben dies kam der Partie der Cardillac-Tochter zugute. In einer knappen, aber des Akzents bedürftigen Rolle Hans Günter Nöcker: Welches andere Opernhaus hat ein solches Ensemble - und auch einen solchen Chor (unter Wolfgang Baumgart) - aufzubieten? Nicht immer hat die Bayerische Staatsoper von ihren Mitteln so sinnvoll Gebrauch gemacht wie an diesem denkwürdigen Abend, da Hindemiths "Cardillac", das Revolutionsstück von einst, dem Repertoire zugeführt wurde.

Walter Panofsky

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     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. August 1965     

   

Fischer-Dieskau als Cardillac

Hindemith-Premiere bei den Münchner Opernfestwochen

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Münchens neue Inszenierung im Rahmen der Festspiele 1965 geht auf die Urfassung zurück. Sie ist von Rudolf Hartmann in einen vielschichtigen und farbigen Rahmen etwas unheimlicher Dekors von Ekkehard Grübler gestellt worden. Chöre und individuelle Szenen sind mit souveränem Können geführt und bis in die letzte Einzelheit aus Klang und Rhythmus entwickelt. Es ist eine Regieleistung von wohltuender Klarheit und Richtigkeit, frei von Gag und selbstgefälliger Zutat, dem Werk dienend und nichts anderem. Joseph Keilberth erfüllt dirigierend das Gesetz der Musik, indem er ihre Kinetik, Zeitmaße, dynamischen Kurven nachvollzieht, genau wie es Hindemith selbst als Dirigent wollte und in guten Momenten zustande brachte. Orchester und Chor, solistische Instrumente und Stimmen folgen diesem zweifach fixierten und in beiden Dimensionen überzeugenden Aufführungsstil.

Der Glücksfall ist die Besetzung der Titelpartie mit Dietrich Fischer-Dieskau. Der große, denkende Sänger und Schauspieler hat der Galerie seiner Bühnengestalten eine der fesselndsten hinzugefügt. Das Doppelspiel ist in jeder Gebärde spürbar: in dem etwas zu raschen Schritt, beim kurzen Auftritt in der Volksmenge. In den suchenden, bohrenden, bastelnden, liebkosenden Bewegungen am Werktisch vor dem Geschmeide. In den ersten, leicht verhaltenen Tönen des Monologs von Sonne und Gold. Im Aufblitzen des Schreckens, wenn der König auftritt, wenn der Offizier außer der achtlos gewährten Hand der Tochter noch eine Kette begehrt. Im nervösen Spiel der Hände, die den Goldhändler nach seinem Geheimnis fragen. Die Riesenpartie erfordert vom Sänger ein hohes Maß an Ökonomie. Fischer-Dieskau baut sie auf der Konstante eines verhaltenen pathetischen Tons zwischen Sprache und Gesang auf, steigert sie in Arie und Deklamation, fügt rezitativische Ruhepunkte ein und spart den Gipfel für die Bekenntnisszene auf, die zum machtvollen Ausbruch dramatischer Energien wird. Eine Meisterleistung, ebenbürtig dem Mathis, dem Busonischen Faust, dem Verdischen Macbeth.

Daneben Hertha Töpper als sensitiv singende und begehrenswert aussehende Dame, Richard Holm als knapp charakterisierender Kavalier, Karl Christian Kohn als expressionistisch typisierter Goldhändler, Leonore Kirschstein und Georg Paskuda als liebendes, in dämonische Schicksale verstricktes Paar, Hans Günther Nöcker als stimmgewaltiger Offizier. Ein glänzendes Ensemble, im Geist eines Werkes geführt, dessen ungeminderte Wirksamkeit sich in lebhaftem Schlußbeifall bestätigte.

H. H. Stuckenschmidt

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     Münchner Merkur, Datum unbekannt     

    

Münchner Festspiele: Rudolf Hartmann inszeniert Hindemiths "Cardillac"

Der Goldschmied ist der Mörder

    

Mit seinem "Cardillac" hat der junge Paul Hindemith zwar nicht - wie kurz zuvor Alban Berg mit seinem "Wozzeck" - leicht entzündlichen Sprengstoff auf der traditionsgebundenen Opernbühne angehäuft, wohl aber einen mächtigen, rauhbehauenen Gesteinsblock ins Spielfeld gerollt, der Unfallgefahr verkündet. Die Situation ist tatsächlich bedrohlich, denn diesem Werk fehlt als entscheidender Sicherheitsfaktor das Element des Menschlichen. Die Figur des Cardillac ist ein personifiziertes Abstraktum, Projektion einer Vorstellung vom Künstler, die aus der Vielschichtigkeit künstlerischen Wesens nur einen einzigen Punkt anvisiert: die besessene Hingabe des schöpferischen Menschen an sein Werk.

Ferdinand Lion hat diese Idee in seinem Libretto nach E.T.A. Hoffmanns Meisternovelle "Das Fräulein von Scuderi" aufs äußerste zugespitzt. Cardillac der Goldschmied, ist nicht nur ein von seiner Arbeit Besessener, der ein Werk nach dem anderen schaffen muß, sondern selber ein vom Dämon Heimgesuchter, der sich mit den von ihm geschaffenen Kostbarkeiten so weit identifiziert, daß er ohne sie nicht leben kann und zwangsläufig zum Mörder werden muß, um sie wieder in seinen Besitz zu bringen. Nichts bindet diesen Cardillac an die Umwelt; deshalb muß diesem Sinnbild menschlicher Kontaktlosigkeit auch alles als völlig wesenlos erscheinen, was um ihn herum geschieht.

Cardillac ist von Anfang bis Ende der gleiche, keiner seelischen Wandlung unterworfen. Da der Stoff also keine Entwicklungsmöglichkeiten bietet, kann die Oper nur ein einziges Motiv umkreisen, und der beherrschenden Zentralfigur lediglich streng konturierte und knapp gefaßte Episodenszenen beiordnen. So folgt hier in scheinbarer Realität Bild auf Bild, zentriert auf den ideologischen Kern, verstärkend und vergrößernd, doch ohne ein wirkliches Geschehen zu aktivieren.

Unter solchen Voraussetzungen hat der Komponist völlig freie Hand. Er ist weder gebunden an den Text noch an eine fortlaufende Handlung, enthoben allen Forderungen nach psychologischer Verdeutlichung. Der junge Hindemith hat energisch zugegriffen und eine Musik geschrieben, die sich in absoluten musikalischen Formen bewegt. Arie, Duett, Ensembles wechseln einander ab, Kontrapunkt und Polyphonie triumphieren. Hindemith hat hier die Schwelle zum Neobarock überschritten, den konzertanten Stil wieder aufgegriffen, konzessionslos selbst in den instrumental geführten Singstimmen.

Diese Musik gibt sich widerborstig, nicht nur in den geschärften Dissonanzen des dominierenden Bläserklanges. Sie läuft eigenwillig dahin, rücksichtslos ihren eigenen Gesetzen folgend - und nicht denen der Szene. Trotzdem mangelt es ihr keineswegs an der nötigen dramatischen Spannung. Ganz im Gegenteil: in packender Steigerung ballt sich hier stufenweise eine dramatische Intensität zusammen, die in dem grandiosen Schlußakt schließlich das Ausmaß unwiderstehlicher Gewalt annimmt.

Rudolf Hartmann hat mit seiner Neuinszenierung genau ins Schwarze getroffen. Jede Szene hat das richtige Profil, ist in ihrer distanzierten Wesenlosigkeit weder durch verbrämende Stilisierung noch durch Annäherungsversuche an eine real-emotionelle Verdeutlichung getrübt. Ekkehard Grübler hat mit seinen schwarzgrauen, zuweilen von düster glosendem Rot überhöhten Bühnenbildern und Kostümen faszinierend eine unwirkliche Welt heraufbeschworen: die breite Häuserfront mit ihrer Unzahl blind starrender Fenster - ein eindrucksvollerer Hintergrund für die mit wenigen charakteristischen Requisiten ausstaffierten Szenen läßt sich schwerlich denken.

Was die Inszenierung so sicher präpariert hat, wurde von einem exzellenten Solistenensemble zu vollkommener und einheitlicher Darstellung gebracht. Dietrich Fischer-Dieskau war der Titelheld. Man braucht bei diesem Namen kaum noch hinzuzufügen, daß nun auch dieser Cardillac seine ureigene Rolle geworden ist, in der ihm so bald niemand gleichkommen wird. Ein Dämon von unbezwinglicher Willenskraft stand auf der Bühne - imponierend durch die Sicherheit seines verinnerlichten Spiels, Bewunderung auslösend durch die Meisterschaft seines Gesanges.

Die von der abseitigen Natur des Cardillac "Leidbetroffenen" mögen sich mit einer Pauschalwürdigung höchsten Lobes zufriedengeben. Trefflicher können die einzelnen Partien kaum gesungen noch gespielt werden als an diesem Abend mit Hertha Töpper, Leonore Kirschstein, Georg Paskuda, Richard Holm, Karl Christian Kohn und Hans Günter Nöcker.

Ebenso mitreißend waren auch die außergewöhnlichen Leistungen der von Wolfgang Baumgart einstudierten Chöre. Joseph Keilberth exponierte mit aller Energie und Wucht das Brisante dieser Musik und umriß plastisch ihre holzschnittartigen Konturen - ein wenig allerdings auf Kosten der kammermusikalischen Feinheiten, wie beispielsweise im Flötenduett des zweiten Bildes.

Mit stürmischen Ovationen reagierte das Festspielpublikum auf diese in allen Teilen faszinierende Aufführung.

Helmut Lohmüller


    

     tz, München, Datum unbekannt     

    

Urfassung des "Cardillac" im Nationaltheater

Hindemith-Premiere bei den Münchner Opernfestspielen

     

Was man in Salzburg mit dem "Boris Godunow" nicht wagte, hat man in München mit Hindemiths "Cardillac" gewagt, man hat ihn im Original, nicht in der zweiten, konventionelleren Fassung gespielt und diese inspirierte Partitur, die dem Expressionismus ihrer Entstehungszeit in äußerster Konsequenz ein formal strenges Neobarock konfrontiert, hat nichts von ihrer provozierenden Leidenschaftlichkeit eingebüßt. Hindemith, der von dieser Festspielaufführung noch wußte - die anläßlich seines 70. Geburtstages geplant war und die er nun leider nicht mehr miterleben durfte - wollte lange Zeit seine zweite Fassung durchsetzen, ließ sich dann aber von Rudolf Hartmann und Joseph Keilberth doch davon überzeugen, daß die erste Konzeption die ursprünglichere, faszinierendere ist. Der Stoff ist der Novelle "Das Fräulein von Scuderi" von E.T.A. Hoffmann entnommen und wurde von Ferdinand Lion in ein Libretto von knapper und sehr konzentrierter Handlung gefaßt. Im Mittelpunkt steht der Goldschmied "Cardillac", der sich von seinen Schöpfungen nicht trennen kann, der im Paris des 17. Jahrhunderts lebte und jeden Käufer seiner Erzeugnisse ermordete, um wieder in den Besitz des jeweiligen Stückes zu gelangen. Diese Story hat das Reißerische eines Krimis an sich, aber dank der literarischen und dichterischen Potenz eines E.T.A. Hoffmann ist daraus eben kein spannender Knüller, sondern eine psychologische Studie geworden, wie das ähnlich - nur noch viel wesentlicher - in Dostojewskijs "Raskolnikoff" der Fall ist. Hindemith sah jedoch weniger die psychologischen Verstrickungen, als vielmehr das Symbolhafte der Gestalt "Cardillacs", das Recht des schöpferischen Menschen auf ein besessenes Umklammern des erschaffenen Eigentums. -

"Cardillac" wurde 1926 in Dresden uraufgeführt und bereits 1927 in München nachgespielt. Seither gab es in München keine Neuinszenierung dieses Werkes und es verleiht den Münchner Opernfestspielen 1965 einen besonderen Akzent, daß nun im neuerbauten Nationaltheater diese Oper wieder über die Bühne ging. Neben Orffs "Lamenti" und Kreneks "Karl V." ist dies ein direkter Beitrag der Musica viva innerhalb der Festspiele, eine Tatsache, die der Intendanz der Bayerischen Staatsoper nachdrücklich zu danken ist. Rudolf Hartmann inszenierte vor den düsteren Prospekten Ekkehard Grüblers mit starkem, dramatischem Elan. Es gelang ihm, in den relativ kurzen Bildern, zu suggestiven Wirkungen vorzustoßen und das Geschehen plastisch herauszumeißeln. Freilich hatte er in Dietrich Fischer-Dieskau einen Darsteller der Titelpartie, der heute in dieser Rolle unübertroffen sein dürfte. Sein Spiel ist ebenso fesselnd, wie der bis ins letzte Detail charakterisierte Einsatz seiner grandiosen stimmlichen Mittel. Aber auch alle übrigen Mitwirkenden, von Leonore Kirschstein (Tochter) und Georg Paskuda (Offizier), über Karl Christian Kohn (Goldhändler) und Richard Holm (Kavalier), bis zu Hertha Töpper (Dame) und Hans Günter Nöcker (Führer der Prévote) hatten Festspielformat. Eine besondere Anerkennung verdient noch der glänzend disponierte Staatsopernchor (Einstudierung: Wolfgang Baumgart), und Joseph Keilberth dirigierte mit so viel dramatischer Verve und hinreißender Spiritualität, daß es eine reine Freude war. Endlose Ovationen belohnten diese denkwürdige Aufführung. -

Karl-Robert Danler


    

     Abendzeitung, München, 29. Juli 1965     

   

Heute "Cardillac"-Premiere im Nationaltheater

Mord im Schlafzimmer

  

"Cardillac", Paul Hindemiths 1926 uraufgeführte Oper, wird nach über dreißig Jahren erstmals wieder in München gespielt. In Rudolf Hartmanns Festwochen-Neuinszenierung – mit Joseph Keilberth am Pult – singen: Dietrich Fischer-Dieskau (Cardillac), Leonore Kirschstein, Georg Paskuda, Karl Christian Kohn, Richard Holm, Hertha Töpper und Hans Günter Nöcker. Bühnenbild: Ekkehard Grübler.

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"Als Standardwerk der zwanziger Jahre hat "Cardillac" ähnliche musikgeschichtliche Bedeutung für die moderne Oper wie Alban Bergs "Wozzeck", sagt Intendant Hartmann. Er habe bei der Neuinszenierung an Hindemiths 70. Geburtstag im November dieses Jahres gedacht und werde aus diesem Anlaß im Herbst auch "Mathis der Maler" wieder in den Spielplan aufnehmen. Daß die Gelegenheit, eine Festwochenpremiere mit Fischer-Dieskau herauszubringen, bei der "Cardillac"-Wahl auch eine Rolle gespielt hat, gibt Rudolf Hartmann natürlich zu. Fischer-Dieskau allerdings wird zunächst nur die beiden Vorstellungen heute und am 10. August singen, zwei weitere im November. Zugleich mit ihm studierte Leonardo Wolovsky die Partie, der sie bei den übrigen Aufführungen übernehmen wird.

Hindemiths "knappe Musik" hält, wie Professor Hartmann sagt, den Regisseur zu szenischer Strenge an, zur Stilisierung besonders in den Chorszenen. Hartmann hat "Cardillac" schon einmal inszeniert, kurz nach der Dresdner Uraufführung in Nürnberg. Der jetzigen Premiere liegt ebenfalls die erste und nicht die von Hindemith 1952 bearbeitete Fassung zugrunde.

Nur wenig hat Ferdinand Lions nachexpressionistisches Textbuch mit der Cardillac-Geschichte in E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Das Fräulein von Scuderie" gemein: Das alte Titelfräulein wurde ganz gestrichen, von den anderen Personen sind lediglich Cardillac und seine Tochter übernommen. Er, der berühmte Pariser Goldschmied zur Zeit des Sonnenkönigs, ist bei Hoffmann wie bei Lion ein Negativ-Held, dessen Untaten nur aus einem psychologischen Komplex zu verstehen sind. Cardillac schmiedet bei Tag und mordet bei Nacht. Was er geschaffen hat, will er für immer besitzen, also müssen die lästigen Käufer der kostbaren Schmuckstücke beiseite geräumt werden. Nichts gilt ihm "hinwehendes Leben" (Lion), "er war das Opfer eines heiligen Wahns".

Die Oper spart nicht mit spannenden Effekten, mit Mord bei offener Bühne und einer Bettszene, die die ehrbaren Verfechter "sauberer" Kunst unruhig machen sollte. Aber wer, auf samtenen Opernsessel sitzend denkt schon an so was?

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Dietrich Fischer-Dieskau, der insgesamt viermal bei den Münchner Festspielen singt – zweimal Mandryka, zweimal Cardillac – und sich in Salzburg zu vier Macbeth-Aufführungen und einem Beethoven-Liederabend verpflichtet hat, wird in Berlin weitere Opernpartien studieren. Zu den Berliner Festwochen inszeniert Gustav Rudolf Sellner "La Traviata" mit Hilde Güden in der Titelrolle und Fischer-Dieskau als Germont. Als konzertante Uraufführung kommt Henzes einstige Funkoper "Der Landarzt" heraus, mit den Berliner Philharmonikern unter des Komponisten Leitung. Henze hat alle Partien für Bariton umgeschrieben, eine Ein-Mann-Fassung also, die Fischer-Dieskau singen wird.

Mit Renata Tebaldi, Nicolai Ghiaurov, Carlo Bergonzi und Grace Bumbry hat Fischer-Dieskau kürzlich in London Verdis "Don Carlos" für Decca aufgenommen; Georg Solti dirigierte. Vorher noch gab er im englischen Aldebourgh einen Liederabend mit Svjatoslav Richter, Brahms‘ "Schöne Magelone", und sang neue, von Benjamin Britten für ihn komponierte Lieder, die Britten begleitete.

kth

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     Die Welt, 3. August 1965     

    

Der Künstler von der Masse gerichtet

Paul Hindemiths Oper "Cardillac" wurde zum Höhepunkt der Münchner Festspiele 1965

    

Es ist als ein Glücksfall zu betrachten, daß sich die Bayerische Staatsoper noch von Hindemith das Recht zur Aufführung des originalen "Cardillac" aus dem Jahre 1926 erbitten konnte. Denn einmal ist diese ursprüngliche Fassung stärker, holzschnitthafter, antibürgerlicher als die verbreiternde, opernhafte Revision von 1952, die auf dem Niveau gesteigerten Könnens rettungslos der Konvention zutreibt. Zum andern aber dürfte – auch absolut gesehen – der Urcardillac mit seiner eindrucksvollen Gleichung zwischen dem Fortgang szenischer Dramatik und der Statik musikalischer Formen zu den wichtigsten Stationen des modernen Musiktheaters gehören.

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Natürlich hat die Auflehnung gegen die Romantik, gegen Psychologisierung und Durchkomponieren heute einiges von einer bewußt verkündeten Trennschärfe verloren. Man hört in der immer wieder aufbrechenden Polyphonie, in der Selbstbehauptung durch Kontrapunkt, auch den Nachhall einer sinfonischen Fortspinnungstechnik. Man sieht in den kantigen Bildern der verruchten Mordaffäre, die Ferdinand Lions geballt expressionistischer Text beschreibt, auch das Widerspiel von hoffmanneskem Halbdunkel und pathetisch überhöhtem Künstlerschicksal.

Der Stoff ist aus E.T.A. Hoffmanns Novelle "Das Fräulein von Scudéry" entwickelt, aus der Geschichte von dem berühmten Pariser Goldschmied Cardillac, der in die künstlerische Schönheit seiner Werke so vernarrt ist, daß er sie sich durch Mord an den Käufern wiederholt. Allerdings nimmt Lion dies zum zeittypischen Anlaß, die Besonderheit des Einzelnen gegen das Kollektivbewußtsein der Menge, hier des Volkes von Paris, abzusetzen. Die Masse ist es, die über Cardillacs Verbrechen richtet und auch gemeinsam das Todesurteil an ihm vollstreckt.

Gerade in der Regie dieser Chorauftritte bestehen sicherlich die Probleme der szenischen Darstellung. Rudolf Hartmann entschied sich unter vielen möglichen Lösungen – vielleicht in Erinnerung an seine Nürnberger Inszenierung von 1927 – für eine gleichsam historische Interpretation: Eine Gruppe von Käthe-Kollwitz-Figuren fordert Vergeltung für die begangenen Untaten.

Ekkehard Grübler hatte dazu ein ebenso begabtes wie beziehungsloses Gehänge aus hohlfenstrigen, schmutzigen Hinterhofwänden drapiert. Das alles beschwor Bilder von sozialem Notstand und Klassenkampf. Damit haben aber weder das Werk noch die agierenden Einwohner von Paris etwas zu tun. Das Volk will den Makel des Verbrecherischen, der auf ihm lastet, beseitigen. Es geht ihm also nicht um soziale Anerkennung, sondern um moralische Selbstreinigung, einen Akt bewußter Verantwortlichkeit, nicht passiver Entmachtung.

Wie wäre sonst auch der oratorische Chorschluß zu rechtfertigen, den Hindemith komponiert hat? Wie sonst ließe sich die zugebilligte Ausnahmestellung des Künstlers vertreten, deren asoziales Gebaren sogar durch eine Heiligsprechung des Schöpferischen quittiert wird? Dietrich Fischer-Dieskau konnte in der Titelrolle jedenfalls seine schauspielerischen Fähigkeiten zeigen und sich mit dem Nimbus von größerem Künstlertum umgeben, dem seine sängerische Leistung nicht immer ganz zu entsprechen wußte.

Was ein Legato ist, erfuhr man zum Beispiel an diesem Abend weniger durch ihn als durch Leonore Kirschstein (Cardillacs Tochter), deren schlanker, tragfähiger Sopran dem zweiten Akt Musikalität und Wärme, dem Quartett des dritten Aktes aber Leuchtkraft und Glanzlichter gab. Partner dabei waren außerdem noch der bemühte, aber durch die Rolle des Offiziers wohl überforderte Georg Paskuda und der stimmlich ausgezeichnet fundierende Karl Christian Kohn als Goldhändler.

Daß diese Sänger – dazu gehört auch das Liebespaar des ersten Aktes: Hertha Töpper und Richard Holm – nur Exponenten eines musikalisch en Gesamtgeschehens sind, machte Joseph Keilberth immer wieder deutlich. Er ließ den instrumentalen Habitus der "Cardillac"-Partitur, ihre Neigung zu kontrapunktischen Formbildern hervortreten, ohne doch das Gleichgewicht zwischen Bühne und Orchester zu stören. Mancher provokative Akzent von 1926 wurde dabei entschärft, manche Unisono-Linie in ihrer forcierten Statuarik gemildert. Aber der Bewegungsimpuls, eine gleichsam geläuterte, nun ihrer selbst sichere Gespanntheit des musikalischen Ausdrucks, blieb erhalten und war bewegend gegenwärtig.

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Ulrich Dibelius


   

     Der Tagesspiegel, Berlin, 31. Juli 1965     

   

Schicksal wird zur Künstlertragödie

Hindemiths "Cardillac" während der Münchner Festspiele im Nationaltheater

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Neuinszeniert vom Staatsintendanten, dirigiert vom Generalmusikdirektor hatte die Erstfassung des "Cardillac" von Paul Hindemith in der Bayerischen Staatsoper Premiere.

Wir haben das Glück, Zeitgenossen Dietrich Fischer-Dieskaus zu sein. Unschätzbar, was sein Interpretations-Genie vom Geist der verschiedensten Werke zu vermitteln imstande ist. Als Titelheld der Hindemithschen "Musizieroper" verdeutlichte er nachbildend vor allem dies: das Werk erstrebt die Erneuerung der Oper aus der reinen Musik und ihrem absoluten Formbestand, errichtet aber keine verfremdende Distanz zwischen der Partitur und dem dramatischen Geschehen. Wesensverwandt und in engster zeitlicher Nachbarschaft uraufgeführt mit Busonis "Dr. Faustus" und Alban Bergs "Wozzeck", ist es eine kühne Absage an den illustrativen Verismus, kein ästhetisches Auskosten eines Widerspruchs.

Als Hindemith seine Oper im Jahre 1926 in Dresden herausgebracht hatte, sprach man ihm von kompetenter Seite das Interesse am Theater ab. Er wolle eben nur Musik machen, und diese Musik sei im Gegensatz zu dem urromantischen Stoff des Librettos von kühler Sachlichkeit. Auch bewundernde Stimmen in späterer Zeit sprachen von diesem Kontrast und seinem speziellen gedanklichen Reiz.

Fischer-Dieskaus heißblütige, expressive musikalische Darstellung zeigt, was das Studium der Partitur, besonders der die Ausdrucksnuancen minuziös differenzierenden Vortragsbezeichnungen bestätigt: daß diese Musik dramatische Wirkung im Sinne des Sujets erzielen will. Das kanonische Duett zweier Flöten malt eine rokokohafte Liebesszene, in einem Augenblick atemloser Spannung setzt die Musik ganz aus, die berühmte Passacaglia des letzten Aktes fungiert als Steigerungsform, ein Fugato gibt Gelegenheit, die Parallelität scheinbar beziehungslos nebeneinander stehender Äußerungen aufzudecken.

Auf die Novelle "Das Fräulein von Scudéry" von E.T.A. Hoffmann und Otto Ludwigs gleichnamige Schauspiel-Bearbeitung gegründet, enthält das atmosphärisch eigenartige, typisch expressionistische Libretto Ferdinand Lions große Formulierungen, unpoetische Deutlichkeiten und Plattheiten nebeneinander. In neuem Licht steht die Gestalt des Cardillac da. Als Schöpfung des Dichters Hoffmann war der Pariser Goldschmied, den ein Dämon zwang, alle seine Geschmeide nach dem Verkauf mordend zurückzuerjagen, ein skurriler Mensch, dessen "böser Stern" gar seine rational begreifbare Erklärung fand. Bei Lion-Hindemith ist er ein den bürgerlich-moralischen Maßstäben überhobenes Wesen – sein Schicksal wird zur Künstlertragödie. Man braucht wiederum nur Fischer-Dieskau anzusehen, um den Cardillac als romantisches Genie zu begreifen.

Rudolf Hartmanns Inszenierung gibt ihm den Rahmen. Die Volksmenge ballt sich zusammen und teilt sich zu antiphonalem Gesang im ersten Bild. "Paris seufzt unter der Fülle von Verbrechen." Verfallene Häuserfronten schweben über den Akteuren, der Himmel ist verfärbt von Blut: Ekkehard Grüblers dunkle Bühnenbilder malen Morbidität.

Wenn Cardillac-Fischer-Dieskau die Menge einsam, eilig durchschreitet, wissend, worüber sie sich erregt, ist der Höhepunkt des Bildes erreicht. Die Episode zwischen dem Kavalier und der Dame, jene heikle Pantomime im Schlafgemach, ist der Regie mißglückt. Hier wurden Deutlichkeiten mit Gelächter quittiert. In der Werkstatt des Goldschmieds bleibt Paris durch die hängenden Häuserfronten gegenwärtig. Die Tochter, ihr Bräutigam, ein Goldhändler, der König gar mit seinem stummen Gefolge sind Randfiguren von blasser Wirkung, Marionetten. Kontaktlos lebt Cardillac mit ihnen, seine Höflichkeit ist eine mühsam bewahrte Maske, die sofort fällt, wie Fischer-Dieskau die selige Anbetung des Goldes, plötzliches Stocken, Angst um den Verlust jedes Stückes, absolutes Desinteresse an der Umgebung, Lethargie nach qualvoller Beherrschung vorlebt, wie sein Blick den letzten Käufer abschätzt, mordet. Wenn er sich dann am Schluß, entdeckt, durch Täuschung eigentlich schon gerettet, dem Volk ausliefert und im stolzen Bewußtsein seiner Künstlerschaft sich zu seinen Taten bekennt, drängt sich die Erinnerung an den ebenfalls von Fischer-Dieskau kreierten Poeten Gregor Mittenhofer aus Henzes "Elegie" auf, der seinem Werk mit dem gleichen Selbstverständnis Menschen zum Opfer bringt. In Abweichung zum egoistischen Mittenhofer aber hat Cardillac als getriebenes Wesen die volle Sympathie des Publikums.

Die Kontrapunktik der Partitur wurde von Joseph Keilberth klar konturiert und zu wirkungsvollen Steigerungen gebracht. Im Sänger-Ensemble um Cardillac dominierte die Musikalität Georg Paskudas in der Tenorrolle des Offiziers, Leonore Kirschstein als Tochter gewann kaum Profil, Hertha Töpper schien uns stimmlich mit der Partie der Dame nicht gut bedient, Richard Holm (Kavalier), Karl Christian Kohn (Goldhändler), Hans Günter Nöcker (Führer der Prevote) waren in ihren kleinen Rollen erfolgreich. Beifallsstürme dankten allen Mitwirkenden und wurden zu Ovationen, wenn Fischer-Dieskau vor dem Vorhang erschien.

Sybill Mahlke


   

     Generalanzeiger, Bonn, 30. Juli 1965     

     

Entscheidung für die Urfassung

Hindemiths "Cardillac" bei den Münchner Festwochen

   

Minutenlange stürmische Ovationen konzentrierten sich am Ende der Festspielneuinszenierung von Paul Hindemiths Oper "Cardillac" im Münchener Nationaltheater auf Dietrich Fischer-Dieskau als Interpreten der Titelfigur. Erneut bewies der Sänger auch in dieser modernen Partie seine eminente Durchschlagskraft, die sich immer wieder zu vornehmlich oratorischen Höhepunkten steigerte, was schließlich der Aufführung als Ganzem ihren eigenwilligen einprägsamen Stempel aufdrückte.

Inszenator Rudolf Hartmann hatte sich zur ersten Fassung des 1926 uraufgeführten Werkes entschlossen, und er tat gut daran, die Wiederbegegnung mit diesem neben Alban Bergs "Wozzeck" zweiten Standardoeuvre des musikdramatischen Expressionismus in Deutschland in seiner Originalgestalt zu ermöglichen, denn eine zukünftige Kritik wird sich an dieser Stufe des Hindemithschen Opus zu orientieren haben und nicht an der "gefälligeren" Bearbeitung aus dem Jahre 1952. Es hat sich dann aber an dieser Stelle auch zu zeigen, ob der Komponist tatsächlich in der Lage war, Bühnenvorgänge, wie die, welche das Libretto nach E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Das Fräulein von Scudéry" von Ferdinand Lion vorschreibt, in Musik aufgehen zulassen.

Hindemiths kompositorischer Intellekt, der sich um die gleiche Zeit mit neuen Prinzipien des konzertanten Musizierens auseinandersetzte, wollte auch die Opernform solchem musikalischen Geschehen dienstbar machen. Aus diesem Grunde führt der Orchestersatz des "Cardillac" ein merkwürdiges Eigendasein, das in schillernder Virtuosität der instrumentalen, aber auch rhythmischen Handlung brilliert. Der artistischen Funktion dieser Musik steht die komplexe Psychologie der Handlung gegenüber, die in ihrem eher statischen Zuschnitt einer düsteren Bilderfolge im Milieu des Glöckners von Notre Dame gekennzeichnet ist.

Die Münchener Festspielpremiere bot solche Bilderfolge in symbolhaft stilisierter Szenerie Ekkehard Grüblers in überzeugender Form. Die Regie Hartmanns setzte das Bildhafte in knappen Bewegungen und Gesten fort und bezog vor allem den Chor entscheidend in die Rahmenakte des Geschehens um den Pariser Goldschmied, der seine Kunden ermordet, um wieder in den Besitz der ihnen verkauften Juwelen zu gelangen, ein. Dadurch wurde der oratorische Gesamtcharakter der Oper noch wesentlich verstärkt, der schließlich aber auch zu jener Distanz in erster Linie beiträgt, da wir im "Cardillac" mit Literatur und nicht mit wirklichem Leben konfrontiert werden.

Dieser Tatsache ungeachtet gestaltete sich die Aufführung im Nationaltheater zu einem Höhepunkt ersten Ranges. Neben der Leistung Fischer-Dieskaus war Joseph Keilberth der Spiritus rector, der mit dem Orchester der Bayerischen Staatsoper keine Wünsche offenließ. Leonore Kirschstein, Georg Paskuda und Karl Christian Kohn u.a. waren die gesanglichen Protagonisten, die für ein ausgeglichen hohes Niveau dieses Festspielabends mit betont eigener Note sorgten.

Wolfgang Stauch-v. Quitzow


    

     Süddeutsche Zeitung, 18. November 1969     

    

zum Erscheinen der Schallplattenaufnahme

Gerettetes Hauptwerk

Hindemiths "Cardillac" endlich auf Schallplatten

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Für Dietrich Fischer-Dieskau ist der Cardillac eine Rolle nach seinem Geschmack: ein interessanter Charakter, ein Besessener, pathetisch und pathologisch zugleich, die äußerste Übersteigerung des Kunstfanatismus. Fischer-Dieskau bietet die Figur, was ihr in Idealbesetzung zusteht.: Intelligenz, heldenbaritonales Volumen, Musikalität, Bravour der Nuance und die ganze Faszination eines Ausnahmefalles. Einen Bess'ren findst du nit. Das übrige Ensemble gibt sich Mühe und singt nach besten Kräften eben Oper. Donald Grobe erhebt sich einigermaßen über diese Routine, Leonore Kirschstein erreicht als Einzige die Nähe Fischer-Dieskaus. Ihre frische, klare und exakt geführte Sopranstimme klingt ein wenig unpersönlich in ihrer Akkuratesse; doch gerade das kommt der Rolle zupaß, muß sie sich doch weitgehend zu instrumental-linearer Führung bequemen, ehe sie zwischendurch Lyrik und Emphase verkünden darf.

Die Aufnahme folgt einer Produktion mit Symphonie-Orchester und Chor des Kölner Rundfunks. Das war eine Kompromißlösung, denn ursprünglich sollte Keilberth den "Cardillac" in der ungefähren Besetzung der Aufführung aus den Münchner Festspielen von 1965 erstellen. Immerhin liegt nun ein Schlüsselstück der Moderne auf zwei Langspielplatten vor (DG 139435/36; 50 DM). Das Einsteckalbum enthält den expressionistischen Text von Ferdinand Lion, im deutschen Original wie in Englisch und Französisch. Der Einführungstext ist kurz, aber hinreichend. Schade, daß man von der Gewohnheit abgewichen ist, der Aufnahme durch den üblichen Einführungspreis eine Starthilfe zu verschaffen. Das endlich gerettete Hauptwerk Paul Hindemiths hätte diese Unterstützung nötig gehabt, denn der "Cardillac" ist für den Zeitgenossen mehr eine Legende aus den zwanziger Jahren als ein Werk, das er gebührend kennt und schätzt.

Karl Schumann

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