Zum Liederabend am 29. September 1965 in Berlin
Der Tagesspiegel, 1. Oktober 1965
Der Lyriker Beethoven
Liederabend Dietrich Fischer-Dieskaus in der Philharmonie
In der Geschichte des Liedes steht Beethoven noch an der Schwelle der Blütezeit, die die uferlos strömende Produktivität Franz Schuberts vollends heraufführte; dennoch sind die besten der siebenundsechzig Gesänge, die von ihm überliefert sind, ein Wert, der den Vergleich mit dem späteren Überfluß aushält. Auch Beethoven hat durch das Lied den Kontakt mit der großen Dichtung gesucht, er hat überdies, wo immer er Beiläufiges, Zufälliges komponierte, die gültige lyrische Form aus der Kraft der autonomen Musik erschaffen; so stehen neben Vertonungen Gellerts, Bürgers, Matthissons, Goethes gleichwertig die Gesänge "An die Hoffnung" und "An die ferne Geliebte", denen vergessene Tagespoeten die Texte geliefert haben. Der Lyriker Beethoven ist, mißt man ihn nicht an spielerischen Gelegenheitsarbeiten, sondern an zentralen, bedeutenden Stücken, mit dem Symphoniker identisch in der Kraft und Größe des Gefühls; eine männliche Herbheit ist der Grundton, Religiöses und Gedankliches drängt sich ein, und selbst der Liederkreis "An die ferne Geliebte", der die Intimität und den schwärmerischen Gefühlskult der Romantik vorzubereiten scheint, geht in seinem leidüberwindenden Lebensenthusiasmus weit über die dunklen Sehnsuchtsgesänge der Nachfolger hinaus.
Diese Kraft und Größe der Beethovenschen Lyrik war es, die Dietrich Fischer-Dieskau in seinem Beethoven-Abend in der Philharmonie überwältigend zur Geltung brachte; durch die Wirkungsgewalt seines majestätischen, den Raum füllenden Baritons, durch die Souveränität seiner künstlerischen Persönlichkeit, die der Botschaft herrischer, durch Leid gestählter Humanität gewachsen ist; nicht zuletzt auch durch die klärende, analysierende Bewußtheit seines Vortrages, die das Leiseste und Geheimste evident macht und in ihm die Wurzeln der großen, strahlenden Affekte bloßlegt. Wie Dietrich Fischer-Dieskau die Kantate "An die Hoffnung" interpretiert, die wohl das Herzstück der Beethovenschen Liedwelt ist, das ist so völlig konform mit der Idee des Werkes, das steht so einsam über allem, was täglich als Liedgesang geboten wird, wie einst Furtwänglers Interpretationen der Beethovenschen Symphonien über dem Orchesterkonzert des Alltags standen. Das italianisierende Melos erklingt in lyrischem Legato, in schöner, vollkommener Kantabilität. Wie dagegen die expressiven Momente der Tiedgeschen Dichtung akzentuiert werden, wie im Rezitativ die Frage "Ob ein Gott sei" zaghaft, verhalten gestellt wird, wie die "versunkenen Urnen" der Erinnerung und die geahnte Sonne der Sehnsucht visionär beschworen werden, wie diese romantischen Exzesse gebändigt und in die klassische Kantatenform eingeordnet werden, das ist die Leistung eines Sängers, der sich nicht mit dem Kult seines Stimmaterials begnügt, sondern sich der ursprünglichen, verkündenden Aufgabe seines Berufes in jedem Augenblick bewußt ist. Die geistliche Strenge der Gellert-Lieder wird mit epigrammatischer Prägnanz formuliert; die schwankenden und schweifenden Stimmungen des Liederkreises "An die ferne Geliebte" werden über die zart emphatische Widmung "Nimm sie hin denn, diese Lieder" bis zum begeisterten, gläubigen Schluß gesteigert. Nach der Pause folgen der fromm-didaktische, mit naiver Überzeugungskraft vorgetragene "Wachtelschlag" und die arios-schwärmerische "Adelaide". Eine Gruppe von Goethe-Liedern, mit vielfältigen, von der lyrischen Kantilene bis zum buffonesken Parlando reichenden sängerischen Mitteln interpretiert, steht am Ende; die tränenschwere "Wonne der Wehmut" und Mephistos groteskes Flohlied sind die Extreme. Gerald Moore war ein gefügiger, sich feinfühlig unterordnender Begleiter. Der Abend war bedeutsam, weil er dem weltweit ausgreifenden Programm der Festwochen einen inneren Schwerpunkt gab: das Erlebnis Beethovens, ein Eigentum europäischer Musik, das uns über dem Streben in die Ferne verlorenzugehen droht.
Oe