Zum Konzert am 12. Oktober 1965 in Berlin

Die Welt, 13. Oktober 1965

Zwischen Schöpfung und Selbstdeutung

Hans Werner Henze dirigierte eigene Werke in der Berliner Philharmonie

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Völlig unerfindlich blieb, was Henze – der doch gewiß um neue Einfälle nicht verlegen ist – dazu veranlaßt haben mochte, seine Funkoper nach Kafkas Novelle "Der Landarzt" neu zu bearbeiten. "Keine konzertante Aufführung", so schrieben wir 1951 unter dem Eindruck der ersten Begegnung mit der Tonbandaufnahme, "könnte einen Eindruck der Absichten vermitteln, die der Komponist hier mit Hilfe von zwei Hallräumen, rückwärtslaufenden Tonbändern u.a.m. realisiert..."

Die Stimme des Landarztes, die sich mir da, wo er über sich selber reflektiert, über die nach Rhythmus und Tonhöhen fixierten Deklamationen hinaus ins Melodische weitet, wurde damals dramatisch kontrastiert von den Gegenstimmen der anderen Kontrahenten. Sie fehlen jetzt in der Bearbeitung für den Konzertsaal, und es fehlt vor allem die akustische Mehrdimensionalität, auf der die surrealistische Tiefenwirkung, die magische Transparenz der ersten Fassung beruhte.

Dietrich Fischer-Dieskau versuchte unter äußerstem Einsatz seiner fast unerschöpflichen Mittel als Sänger und Darsteller die Atmosphäre wiederherzustellen. Aber die suggestive Wirkung blieb aus. Henze neigt, so müssen wir befürchten, heute zu einer Selbstüberschätzung, die nicht nur seinem Ehrgeiz als Dirigent, sondern auch seiner schöpferischen Potenz gefährlich werden kann.

Heinz Joachim

Der Tagesspiegel, 14. Oktober 1965     

   

Ahnungen und Symbole

Hans Werner Henze und die Philharmoniker

    

Hans Werner Henze sprach als Dirigent eines Philharmoniker-Konzertes mit eigenen Werken das musikalische Schlußwort der Berliner Festwochen 1965; drei Kompositionen vermittelten verschiedenartige Aspekte seiner vielschichtigen Persönlichkeit.

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"Ein Landarzt", Monodram für Bariton und Orchester nach einer Novelle Franz Kafkas, ist schon im Jahre 1951 als Funkoper komponiert und vor Jahresfrist neu überarbeitet worden. Der Titel Monodram bezeichnet die Eigenart des Werkes. Ein Sänger rezitiert den ungekürzten Text der Kafkaschen Novelle; seine Erzählung, scheinbar ein freies, "unendliches" Rezitativ, ist als Folge von vierzehn musikalischen Nummern gegliedert; ein ruhender Akkordklang ist die Keimzelle des musikalischen Geschehens, das teils als diskrete Begleitung, teils als feinfädiger, komplizierter thematischer Organismus die Singstimme untermalt. Auch die Komposition kann den Sinn der dunklen, mit Traumsymbolen spielenden Erzählung nicht deuten; sie kann aber die dichterische Vision verstärken, kann dem Bericht des Arztes, der von Zauberpferden zu seinem Patienten, einem an einer mystischen Wunde siechenden Kinde, getragen wird, ohne ihm helfen zu können, packende, gespenstische Gegenwärtigkeit geben. Das gelang dem Vortrag Dietrich Fischer-Dieskaus, der alle befremdenden und erschreckenden Nuancen des Textes in bewußter, intuitiv präzisierender Deklamation zur Geltung brachte – eine Beschwörung makabrer Ahnungen und Symbole, die auch zum Gesamtbild der modernen Kunst, und damit zum Programm der Berliner Festwochen gehört.

Oe

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