Zum Liederabend am 25. Oktober 1965 in Köln
Kölner Stadtanzeiger, 27. Oktober 1965
Wie eine Improvisation
Dietrich Fischer-Dieskau begeistert gefeiert
"Karten gesucht" stand auf handgeschriebenen Plakaten, mit denen sich ganz Gewitzte am Gürzenich plaziert hatten. Sie suchten vergeblich. Denn das zweite Meisterkonzert mit Fischer-Dieskau war seit Monaten ausverkauft. Am Saal-Eingang raufte man sich um die Programme. Über allem lag eine fieberhafte, erwartungsvolle Unruhe wie über einem Kirmesplatz. Sie paßte wenig zu dem tiefernsten Beethoven-Programm, das der Sänger seinem Publikum später bot.
Völlig kunstlos wie eine Improvisation entfaltete sich Fischer-Dieskaus Vortrag. Und man spürte wieder das Geheimnis seiner begnadeten Gesangskunst: Ganz natürlich zu sein, das Gefühl strömen zu lassen, ohne zu verraten, wie sehr er es unter Kontrolle hat. Denn erst aus der "handwerklichen" Treue im Kleinen, der peinlich gewissenhaften Wahrung aller Vorschriften von Tempo und Agogik gewinnt er jene Beredtheit der Artikulation, die uns unmittelbar ans Herz greift.
Man höre etwa, wie mühelos er in den sechs geistlichen Gellert-Liedern den längsten Melodie-Bogen formt und die Wiederholung der Endzeilen in "Vom Tode" durch wechselnde Einfärbung des Tones immer neu charakterisiert. Man höre weiter, wie er im "Bußlied", der "Wonne der Wehmut" und dem "Mailied" Dynamik und Ausdruck in die richtige Proportion zum musikalischen Geschehen setzt und manche langatmige Phrase der Goethe-Gesänge strafft. Gelegentlich schimmert ein Stückchen Opernpathos dabei auf, wie im "Wachtelschlag" und dem dritten Vers der "Adelaide".
Aber Beethovens lyrisches Hauptwerk, den sechsteiligen Zyklus "An die ferne Geliebte", erlebt man endlich einmal in jenem frischen, schwingenden Tempo, das der Meister vorschrieb. Zu feierlicher Majestät wachsen auch Stücke wie "Die Ehre Gottes" und "Gottes Macht und Vorsehung" auf, und hinter dem rein Musikalischen des Vortrags enthüllt sich das Ethos der Beethovenschen Gefühlswelt. Köstlich fein modelliert der Sänger das drastisch-derbe "Flohlied" zum Abschluß des offiziellen Programms. Versteht sich, daß ihn seine Verehrer nicht ohne Zugaben entließen. Günther Weißenborn bewährte sich in der poetischen Beseelung seines Spiels wiederum als einer der besten Liedbegleiter unserer Zeit.
Margo Schuchardt
Kölner Stadt-Rundschau, 28. Oktober 1965
Kölner Klatsch-Marsch für Fischer-Dieskau
Liedersänger im Gürzenich umjubelt
Wenn Dietrich Fischer-Dieskau singt, darf die Kritik getrost die Hände in den Schoß legen. Das Außergewöhnliche seiner Kunst bedarf kaum eines neuen Hinweises.
Es ist nicht nötig, Worte zum Lob eines Sängers zu suchen, dessen Name zu einem einmaligen Begriff geworden ist. Den Wohllaut der Stimme, das bezaubernde Timbre, den faszinierenden Ausdruck, die makellose Technik und die Lauterkeit der Gestaltung loben, heißt, sich auf Gemeinplätzen bewegen.
Mag die Klage um den Niedergang der Liedkunst berechtigt sein, wenn der Beitrag dieser Form des Musizierens in einer Großstadt statistisch verglichen wird, die Zahl der sich drängenden, begeisterten Zuhörer zeigt, daß nicht die Rede sein kann von einem mangelnden Interesse. Vielmehr scheint ein Unvermögen der Sänger ausschlaggebend zu sein. Beim Meisterkonzert von Fischer-Dieskau im Gürzenich blieben viele Kartenwünsche offen. Mit dem Schild "Student sucht Karte" standen einige Jungakademiker vor der Kasse wie sonst mit dem Schild "Student nach Frankfurt" an der Autobahnauffahrt.
Hatten die Musikfreunde ihre liebe Not, einen Platz zu bekommen, so hatte es der Sänger schwer, seinen Platz auf dem Podium wieder zu verlassen. Nicht nur, daß das Publikum nach der letzten offiziellen Nummer wie auf Kommando mit einer seltsamen Urgewalt nach vorne strömte. Es applaudierte dabei so beharrlich, teilweise im Klatschmarsch, daß Fischer-Dieskau fast noch eine halbe Stunde anhängen mußte. Es waren allerdings nicht viele Zugaben, mit denen der Sänger um den "Freispruch" vom Publikum kämpfte. Zeitlich gesehen ging der Gesang im Applaus unter.
Der riesige Andrang war erstaunlich. Denn das Programm verhieß durchaus keine Perlen und Paradestücke von Schubert, Schumann, Brahms, Wolf oder Strauss, sondern Stiefkinder der Liederabende: Beethoven. Beethoven hat fast 70 Lieder, darunter einige Zyklen, geschrieben. Aber nur wenige sind so berühmt wie die "Adelaide". Selbst der Zyklus "An die ferne Geliebte" ist nicht häufig zu hören. Er verdankt seine Popularität fast mehr literarischen Sentimentalitäten als musikalischen Aufführungen. "Neue Liebe, neues Leben" gehörte an diesem Abend noch zu den wenigen "Schlagern".
Ein Beethoven-Liederabend ist eine ganz große Seltenheit. Aber dort, wo viele Sänger schweigen, kann ein Künstler vom Rang eines Fischer-Dieskau das Urteil wenden. Er begann mit der Arietta "In questa tomba" und der Konzertarie "An die Hoffnung". An die sechs Gellert-Lieder schloß sich Jeitteles Zyklus an. Nach der Pause neben "Adelaide" und "Neue Liebe, neues Leben" "Der Wachtelschlag" sowie die Goethe-Lieder "Wonne der Wehmut", "Mailied", "Sehnsucht" und, als brillantes Paradestück für die unnachahmliche Charakterisierungskunst des Sängers und seines feinsinnigen Begleiters Günther Weißenborn, "Mephistos Flohlied".
M. R.