Zum Konzert am 12. November 1965 in Köln

Kölner Rundschau, 15. November 1965  

Eine Vision vom Krieg

Hartmanns Giraudoux-Gesänge im Funkkonzert

Als vor zwei Jahren Karl Amadeus Hartmann starb, verlor München den Initiator seiner Musica-Viva-Konzerte. Hartmann war nie ein avantgardistischer Komponist, aber er hat der Avantgarde Raum gegeben. Er war bei Hermann Scherchen und Anton Webern in die Schule gegangen, vertrat aber eine ausdrucksgesättigte, farbenprächtige Klangsprache.

Seine Gesangsszene zu Worten aus dem Schauspiel "Sodom und Gomorrha" von Jean Giraudoux hat Hartmann nicht mehr hören können. Sie wurde ein Jahr nach seinem Tod vom Hessischen Rundfunk uraufgeführt. Nun stand sie im Mittelpunkt des dritten Sinfoniekonzerts des Westdeutschen Rundfunks in Köln.

"Wir alle haben Reiche stürzen sehen, und gerade die festesten, und gerade diejenigen, die am raschesten wuchsen und deren Dauer am sichersten verbürgt schien. Reiche, die eine Zierde dieser Erde und ihrer Geschöpfe waren", schrieb Giraudoux 1943, und die nun Klang gewordene Kriegsvision gipfelt in den Worten: "Und in dem Sturm und Wogenprall, in diesem Krieg aller Kriege, bleibt nichts als Bankrott und Schande, das vor Hunger verzerrte Gesicht eines Kindes, der Schrei einer Wahnsinnigen und der Tod."

Dietrich Fischer-Dieskau war der ideale Interpret dieser melodramatisch ausladenden

Gesangsszene, in welcher die tiefe Skepsis des französischen Schriftstellers nun zu einer leidenschaftlichen, ja wuchtigen Anklage wird. Dem großen Aufgebot an Instrumenten entspricht die massive, oft scharf dissonante Klangwirkung dieses melancholischen und mahnenden Schwanengesangs.

Joseph Keilberth zeichnete die Untergangsstimmung bis ins Detail großartig nach. Mit diesem programmatisch gebundenen Werk, mit Hindemiths Orchestersuite "Nobilissima Visione" zu Beginn des Konzerts und den Mozart-Variationen von Max Reger zum Abschluß wurde er gefeiert wie lange kein Dirigent mehr im großen Sendesaal des Kölner Funkhauses.

Das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, muß man indes hinzufügen, spielte auch brillanter, aufmerksamer und engagierter denn je. Es war durchaus kein "zugkräftiges" Programm. Immerhin waren es drei Stücke des 20. Jahrhunderts, drei Stücke Neuer Musik, allerdings keine provozierenden Klangkaskaden, sondern wirkungsvolle, zum Teil thematisch gebundene Stücke von packender Gewalt.

M. R.

Kölner Stadtanzeiger, 16. November 1965     

    

Keilberths neues Reger-Bild

Zum dritten Sinfonie-Konzert des WDR

   

Es war ein Abend, der allen Beteiligten unvergeßlich bleiben wird: Joseph Keilberth dirigierte im Rahmen des dritten Sinfoniekonzerts des Kölner Rundfunksinfonieorchesters Max Regers Variationen und Fuge über ein Thema von Mozart, und diese Darstellung war so überzeugend und phantasievoll-plastisch, daß der Beifall des begeisterten Publikums in einem Akt spontanen Begreifens auf den Dirigenten nur so herniederprasselte.

[...]

Die Aufführung war der Ausklang eines auch in den vorangegangenen Nummern ungewöhnlichen Abends. Mag man Karl Amadeus Hartmanns Gesangsszene zu Worten aus "Sodom und Gomorrha" von Jean Giraudoux musikalisch überspannt und thematisch tendenziös nennen, zumal sie mit Mitteln arbeitet, die unserer Zeit nicht mehr gemäß sind, so war doch die Aufführung mit Dietrich Fischer-Dieskau als Solobaritonist von einer seltenen und gleichzeitig ergreifenden Geschlossenheit, die die Absicht des Komponisten eindringlich verwirklichte. Die Gesangspartie ist sehr dankbar, Fischer-Dieskau konnte alle Register seines herrlichen Organs ziehen, konnte dramatisch und lyrisch sein, eine gewaltige Arie vortragen und sich doch in den Dienst der Sache stellen. [...]

ky

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