Zum Konzert am 8. März 1967 in Berlin


Tagesspiegel, Berlin, 10. März 1967  

Symphonie vom Abschied

Keilberth dirigierte Mahlers "Lied von der Erde"

Es gibt zwei Epochen der europäischen Kultur, in denen das Chinesische die westlichen Ästheten faszinierte. Das Rokoko ist die erste, jene Zeit der Chinoiserien, die am Chinesischen das Pittoreske erkannte, ihre Schlösser damit schmückte, den Chinesen als putzig und nippesfigürlich empfand. Nach einem Intervall, in dem China dem europäischen Geist wenig galt, entdeckte die Spätromantik es neu. Jetzt aber unter ganz anderen Gesichtspunkten: man sah nun fernöstliche Innerlichkeit in der alten chinesischen Lyrik, fand in den Gedichten des Li Tai Pe seelische Schichten angesprochen, die der Gegenwart adäquat erschienen, schwermütige und tiefsinnige Empfindungen, den Ewigkeitsgedanken.

In Gustav Mahlers "Lied von der Erde" nach Hans Bethges "Chinesischer Flöte" ist diese neue Sicht durch die des Rokoko gebrochen: In den Gesängen "Von der Jugend" und "Von der Schönheit" überwiegen die artifiziellen Züge, der "Pavillon aus grünem und aus weißem Porzellan", in dem Freunde, schön gekleidet, trinken und plaudern, wird von Mahler "durchs umgekehrte Opernglas" (Adorno) gesehen, der Abschiednehmende kann sich mit jenen preziösen Bildern nicht mehr identifizieren.

Dem stehen die dionysischen Gesänge des Tenors, "Das Trinklied vom Jammer der Erde" und "Der Trunkene im Frühling" mit ihrer beinahe expressionistischen Sprache gegenüber; "Das Taumeln des Trunkenen... läßt durch die Lücken zwischen Tönen und Akkorden den Tod ein"; hier und mehr noch beim "Abschied" ist der Komponist ganz er selbst: das Duett der Altstimme (des Baritons) mit der Soloflöte "Die Sonne scheidet hinter dem Gebirge", das symphonische, aus Englisch-Horn-Melismen aufsteigende Zwischenspiel vor der "erzählend und ohne Espressivo" vorzutragenden Stelle "Er stieg vom Pferd und reichte ihm den Trunk des Abschieds dar" bis hin zu dem letzten verschwebenden "Ewig" gehören zum Schönsten, was die Partitur bereithält.

Joseph Keilberth musizierte das Werk mit den Philharmonikern nach bester deutscher Tradition, mit subtilem Klangempfinden und Engagement, vielleicht ein wenig zu gradlinig, direkt, unraffiniert. Die Interpretation der beiden Solisten – Dietrich Fischer-Dieskau und Ernst Haefliger – nämlich ging gerade auf die Spannung zwischen Pittoreskem und Innerlichem ein, aus der das Werk für uns Heutige seinen besonderen Reiz gewinnt: da hörte man Nuancen zwischen Distanzierung, Verfremdung und Identifizierung, Zwischentöne, die über den konzertanten Anspruch hinausgingen. Das Werk büßt, besetzt man die Altpartie mit einem Bariton – was Mahler genehmigt hat – eine klangliche Dimension ein. Die Ausnahme, die diese Regel bestätigt, heißt Fischer-Dieskau. Man kann sich kaum vorstellen, daß irgendeine Altistin der Welt die Partie so schön sänge wie er, mit solcher Wärme und Intelligenz.

S. M.


  

     Telegraf, Berlin, 10. März 1967     

  

Das Lied von der Erde

     

Die Stadt Wien hat in dem knappen Zeitraum ihrer diesjährigen Festwochen das sinfonische Gesamtwerk Gustav Mahlers konzentriert – Beweis genug, welche große Beachtung Mahler seit der Jahrhundertfeier seines Geburtstages im Jahre 1960 geschenkt wird. Über den Wert seiner Symphonien ist das Für und Wider der Meinungen immer noch in Bewegung und wird es wohl auch bleiben; zu dicht liegt das Geniale neben dem Fatalen. Eins seiner Werke aber ist schon lange aus jedem Zwielicht herausgetreten: Das Lied von der Erde.

Es ist ein helldunkles Lied, dem Wien Schuberts ebenso zugehörig wie dem Hofmannsthals, erfüllt von Fin-de-siècle-Stimmung und vielleicht ihr gültigster und schönster Ausdruck, ein Sang an die Schönheit dieser Welt, die gerade darum so tief empfunden und genossen wird, weil sie vergänglich ist. Wir haben diese sechs Orchesterlieder auf Texte aus Hans Bethges "Chinesischer Flöte" bisher stets im Wechsel von Tenor- und Altstimme gehört, und wer vor mehr als anderthalb Jahrzehnten zugegen war, als Gertrud Pitzinger die Altpartie sang, wird ihr am Schluß mehrfach wiederholtes "Ewig", in dem alles Verzaubertsein und zugleich alle Fassungslosigkeit vor dem unfaßlichen Begriff mitschwang, nicht vergessen haben und vergessen können. Keilberth hatte die andere, von Mahler zur Auswahl gestellte Möglichkeit, die Besetzung mit einem Bariton, gewählt, Und sie lag nahe, wenn man einen Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau zur Verfügung hat. Die Schönheit seiner Stimme, seine hohe Musikalität, die Weite seines Ausdrucksbereichs prädestinieren ihn für diese Partie. Nur das "Ewig" versank bei ihm so tief im geflüsterten Pianissimo, daß es nicht mehr gegenwärtig war.

Keilberth nahm für das "Trinklied vom Jammer der Erde" ein betont breites Tempo, was unbedingt richtig ist. So konnte Ernst Haefliger sich mit wahrhaft großartiger Kraft darein versenken. Zum ersten Male lag über dem dreimal wiederholten Vers "Dunkel ist das Leben wie der Tod" nicht der leichte Schatten melodischer Banalität, der in früheren Aufführungen nicht weichen wollte. Haefligers schwer bewegliches Naturell rang sich aber auch den plaudernden Ton und die verspielte Grazie des Liedes vom prozellanenen Pavillon erfolgreich ab.

Den Philharmonikern bietet Mahler die Fülle exquisiter Aufgaben. Die Solovioline, das Solocello, die Flöte, besonders aber die von Steins mit schimmernd zartem Ton geblasene Oboe dankten sie ihm. Ein großer Abend des Philharmonischen Orchesters.

K. W.

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