Zum Liederabend am 26. Mai 1967 in Berlin


    

     Tagesspiegel, Berlin, 28. Mai 1967   

Wo er singt, werden Kassen gestürmt

     

Die Philharmonie ist gewiß nicht der geeignete Ort für die kammermusikalische Intimität von Schuberts Lied-Zyklus "Die schöne Müllerin". Aber Angebot und Nachfrage bestimmten den Ort: Wenn Dietrich Fischer-Dieskau singt, werden die Kassen gestürmt, um den populärsten und gefeiertsten aller Baritone zu hören.

Müßig, an dieser Stelle noch einmal allen unvergleichlichen Schmelz seiner Stimme und seiner Gesangskultur hervorzuheben. Sein musikalischer Instinkt, seine Intelligenz, seine mühelos beherrschte Technik ließen zu Recht ein Höchstmaß interpretatorischer Leistung erwarten, die gerade in diesem Lieder-Monodrama von Freud und Leid eines liebenden Müllers ein Maximum an Schlichtheit erfordert, wie sie nur ein Meister der Gesangskunst zu erreichen vermag. Dieses Höchstmaß gab es in der Piano-Lyrik. Leider hat sich Fischer-Dieskau aber in den bewegten Passagen ein gefühlsaufwallendes Vibrato zugelegt, das stilistisch wie technisch nicht zum Bild dieses Künstlers passen will.

Von gleichmäßiger Einfühlsamkeit und Zurückhaltung war Jörg Demus am Flügel. Der Beifall wogte stürmisch, wie zu erwarten war.

E. W.

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     Zeitung und Datum unbekannt     

    

Schauen mit Verstand

Dietrich Fischer-Dieskau sang Schubert

   

Dietrich Fischer-Dieskaus nachschöpferische Phantasie nähert sich Schubert ganz im romantischen Sinn als ein Schauen mit Verstand, seine unvergleichliche Kunst musikalischer Interpretation hat zutiefst mit absolutem Wissen zu tun. In der Philharmonie sang er "Die schöne Müllerin", den mit der "Winterreise" geheimnisvoll wesensverwandten Zyklus auf Gedichte Wilhelm Müllers; "die Welt selbst in ewig fließender, schwellender Bewegung" (Abert) stellte sich dar. Die Vollkommenheit seines Vortrages ist über Rezensenten-Lob erhaben: Müßig von technischer Beherrschung zu berichten, von Virtuosität, die Teil seiner genialen Begabung ist.

Spannung und Gleichklang des sprachlichen und musikalischen Melos’ sind nirgends anschaulicher als in Fischer-Dieskaus Wiedergabe des Schubertschen Strophenliedes. Es sind Nuancen der Betonung, Bindungen zwischen den Zeilen, Akzentverschiebungen, die den Forderungen des Textes und seiner Ausdrucksinhalte in der zunächst vom rein Musikalischen ausgehenden Darstellung Rechnung tragen. Durch den Rhythmus hat die Musik ihre eigene Zeit; seine Akzentuierung, die Betonung der Bewegung ist daher dem Interpreten in dem Liede vom "Wandern" erstes Gebot. Dem Gewicht des Einzelwortes bleibt immer der Sinnzusammenhang des Ganzen übergeordnet: Die Liedzeile "In Sturm und Regen" ("Die böse Farbe") bedeutet in den Abschiedsgedanken des Müllerburschen keinen besonderen Affekt, der melodische Aufschwung "Der Mai ist gekommen, der Winter ist aus" ("Trockene Blumen") kann ihm keine herrliche Zukunft mehr ankündigen.

Herb, mitunter beinahe trocken und weich zugleich, ist der Schubert-Klang Fischer-Dieskaus und seines exzellenten Begleiters Jörg Demus; erstaunlich, wie zurückhaltend beide in der Demonstration von Gefühlen waren; jede Expression des Vortrags ging vom Musikalischen aus. Die Dynamik der Gefühle hat Schubert komponiert.

S. M.

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