Zum Liederabend am 24. Oktober 1967 in Kassel


Kasseler Post, 26. Oktober 1967 

"Wohl accentuiert und sprechend"

Beethoven-Liederabend von Fischer-Dieskau im 1. Konzert des Meisterzyklus

Das Lied, seinem Wesen nach Empfindungslyrik, hat in der Romantik seine Heimat gefunden. Weniger bekannt blieb, mit Ausnahme einiger Einzelstücke, das Liedschaffen unserer Klassiker. Dabei hat Beethoven 100 Klavierlieder geschrieben, von denen ein Teil nicht zum Druck erschien. Aber auch von den etwa 80 bekannten tauchen nur wenige in Konzertprogrammen auf, meist sind es immer die gleichen. Dies hat Ursachen. Sie liegen in der klassizistischen Einengung z.B. der Melodiebildung, der starken Bindung an das Strophenlied, wohl auch an der teilweise wenig gehaltvollen Textwahl.

Daß man es aber mit einem Vorurteil zu tun hat, bewies Fischer-Dieskau an diesem Abend. Und dies wollte er wohl auch. Er tat das Notwendige, sichtete und stellte eine wohlüberlegte, klug aufgebaute Auswahl zusammen, in welcher der Liedkreis "An die ferne Geliebte", Krönung von Beethovens Liedschaffen, nicht fehlen durfte.

Der Sänger liebt solche geschlossenen Abende. Sie sind mit Schubert, Brahms, Schumann, Wolf gang und gäbe und von ihm selbst auch in Kassel demonstriert worden. Wer aber hat bis jetzt einen Beethoven-Liederabend gewagt? Fischer-Dieskau stellte sich damit eine Aufgabe, die vielleicht nur er sich erlauben kann. Seine sängerische Suggestion erprobte sich an dem Ungewöhnlichen, das natürlich auch dem Publikum einiges an Bereitschaft zum Mitgehen abforderte. Aber solche Liedkunst macht es leicht. Als die ersten Töne des "In questa tomba oscura" in ihrer cello-dunklen Verhaltenheit aufklangen, war diese merkwürdige Faszination da, deren Ausstrahlung jeden Konzertsaal zu füllen vermag. Ein Phänomen, gewiß, aber einfach in seiner Begründung. Es ist die absolute Erfülltheit einer tiefen Erlebniskraft, die hinter jeder Liedgabe steht, ein unübertragbares Einmaliges, das die Herzen anrührt, mitschwingen läßt und sich am unmittelbarsten da mitteilt, wo das Innerlichste sich im mezza voce, der Feinheit der Zwischentöne, auslebt. Unnötig, von der technischen Vollkommenheit und Reife der stimmlichen Mittel, ihrer virtuosen Beherrschung zu sprechen.

Fischer-Dieskau ist ein Meister der Nuance und des Deklamatorischen. Von hier aus erschließt sich der Liedstil Beethovens, der selbst vorschreibt: "Mit Empfindung, jedoch entschlossen, wohl accentuiert und sprechend vorgetragen." Wir erinnern nur an "Der Wachtelschlag" oder "Mephistos Flohlied", Kabinettstücke sängerischer Darstellung. Selbst das von zahllosen Bearbeitungen (Blasorchester nicht ausgeschlossen) vergewaltigte und von Männerchören zersungene "Die Himmel rühmen" gewann seinen weihevollen Glanz zurück. Der stets gleichbleibenden Intensität der Gestaltung (ergreifend "An die Hoffnung" – "Bußlied") stand die variable Behandlung innerhalb der Liedgruppen gegenüber, die jedem einzelnen Stück der stimmungsmäßig sich ähnelnden 6 Kompositionen "An die ferne Geliebte" eine eigene Note gab, dabei die einen Kreis bildende Tonartenarchitektur geschickt nutzend. Belassen wir es dabei. Das Vollkommene ist schwerer zu beschreiben als das Anfechtbare.

Ein Wort uneingeschränkten Lobes auch dem langjährigen Begleiter am Flügel, Günther Weißenborn, dessen pianistische Leistung dem Niveau des Sängers entsprach und ihn in idealer Weise ergänzte. Es war ein Abend, an dem sich Natur und Kunst, musikalischer Geschmack, Stilgefühl und sängerische Intelligenz makellos einten. Am Schluß bot sich das bei Fischer-Dieskau gewohnte Bild: Beifallsstürme, Bravorufe, eine Welle herzlicher Dankbarkeit brandete zum von der Menge der Hörer umdrängten Podium. Der beifallgewohnte Sänger, sichtlich berührt, spendete fünf Zugaben aus der reich gefüllten Beethoven-Truhe: "Andenken", "Ich liebe dich", "Der Zufriedene", die Arietta "L’amante impaciente" und "Marmotte".

Georg Rassner

 

zurück zur Übersicht 1967
zurück zur Übersicht Kalendarium