Zum Liederabend am 3. November 1967 in Köln


Kölnische Rundschau, 5. November 1967

Jubel um Fischer-Dieskau

Kostbarkeiten im Meisterkonzert – Applaus ohne Ende

In einem der Hebräischen Gesänge von Lord Byron steht die Zeile "Töne, die das Herz betören". In Robert Schumanns Vertonung des Gedichts ist der Vers musikalisch kaum besonders hervorgehoben. Aber er kann stellvertretend für alle herzbetörenden Lieder Schumanns stehen und für ihre Interpreten, sofern sie über die das Herz anrührende Macht des Gesangs gebieten.

Solcher Macht im vorwiegend stillen und leisen Bereich Ausdruck zu geben, zeichnet die Vortragskunst Dietrich Fischer-Dieskaus aus. Er sang im Gürzenich Lieder von Robert Schumann: den Liederkreis nach Gedichten von Heinrich Heine, weitere Lieder nach Heine und Geibel und, präludierend, drei Gesänge, unter denen allenfalls der "Nußbaum" zu den halbwegs populär gewordenen Liedern Schumanns zu zählen ist.

Lange waren kostbare Liedschätze dieser Art im Konzertsaal vergessen gewesen. Um 1950 war der Liederabend, für die vorige Generation noch Inbegriff höchster Kunstübung, nahezu ausgestorben. Damals hat kein Geringerer als Wilhelm Furtwängler dieser intimen, öffentlich kaum noch gepflegten Kunstform einen schmerzlichen Nachruf gewidmet, voll tiefer Besorgnis um die Gründe für den kaum erklärbaren Verfall, ja Untergang einer der edelsten öffentlichen Musizierformen.

In der zweiten Abendhälfte einer solchen effektvollen Stimm- und Gesangsdemonstration folgte dann der pflichtgemäß absolvierte Liedteil, selbstverständlich nur mit den Perlen der Literatur, die im Sammelalbum stehen, mit der Forelle, der Mondnacht, mit den Weiten Wiesen im Dämmergrau (nun geh’ ich hin zu der schönsten Frau) und ähnlichen unfehlbaren Schnellzündern, bei denen das Publikum mitten ins Nachspiel des Klaviers hineinklatscht, als sei der versponnene Nachklang des Instruments nichts als die poetische Marotte eines ahnungslosen Komponisten.

An seinem Kölner Abend sang Fischer-Dieskau 22 Lieder von Schumann, von denen die ganz überwiegende Zahl dem breiten Meisterkonzertpublikum gänzlich unbekannt gewesen sein dürfte. Dann noch vier Zugaben: wiederum keine Mondnacht *), keine Frühlingsnacht, keine Mignon und kein Armer Peter.

Und wenn sich "des Liedes Zauberbann löst" (in "Mit Myrten und Rosen"), dann postludierte der musterhaft diskrete Begleiter und Mitgestalter Günther Weißenborn ungewohnt viele Takte lang so versonnen und versponnen am Flügel, daß die Hörer den Atem anhielten.

Der einstige Retter des Liederabends ist noch immer (und trotz einiger weniger, gelegentlich manieristisch wirkender Operneffekte) der unbestrittene König im Reich des deutschen Liedes. Der Applaus im überfüllten Saal wollte kein Ende nehmen.

E.

*) hier vermerkt Werner Wilke: "doch!"


  Kölner Stadtanzeiger, 6. November 1967     

  

Magier singt Lieder

Dietrich Fischer-Dieskau im dritten Meisterkonzert

     

Fischer-Dieskau-Fieber im Gürzenich. Im großen Saal kein freier Platz, auf dem Podium alle Stühle besetzt, bis nahe an den Flügel. Einige standen. Die Plakatkosten (hier fürs dritte Meisterkonzert) können die Veranstalter sich bei dem Herold des Liedgesangs ohnehin sparen: Fischer-Dieskau-Abende sprechen sich herum, werden Monate zuvor im Kalender angekreuzt. Hingegeben lauschte die Menge dem Orpheus unserer Zeit, die Bitte (eigentlich überflüssig – oder?), während der Liedgruppen nicht zu klatschen und das Programmheft nicht umzublättern, bis Lied und Begleitung beendet sind, wird penibel befolgt. Einem Magier widerspricht man nicht.

In der Tat ist es unmöglich, sich der kompromißlosen Unbedingtheit, der Faszination dieses Künstlers zu entziehen. Er bannt. Er macht selbst da wehrlos, wo man Bedenken vorzubringen entschlossen ist. Dietrich Fischer-Dieskau erfüllt auch Übertreibungen mit seiner ganzen Autorität. Alles, was er macht, stimmt in sich.

Fischer-Dieskau befindet sich derzeit – vereinfacht gesagt – in seiner "dritten Periode". Der Zeit der reinen lyrischen Ergüsse und den Jahren, da er, bemüht in neue Schichten vorzudringen, den Ausdruck über die melodischen Gesetze stellte, ist jetzt eine Periode gefolgt, da er beide Extreme vereinigt und sich von Fall zu Fall für das eine oder das andere entscheidet.

Sein Bariton, dem alle, aber auch alle Nuancen zu Gebote stehen, ist bezeichnenderweise immer noch am schönsten, wenn die schlackenfreie Mezza voce sich aussingen kann. Sein Höhenforte ist, was die tonliche Schönheit angeht, am meisten gefährdet. Die Art jedoch, wie er es immer wieder durch ein organisch aus ihm herauswachsendes Piano auffängt (und somit der Textdeutung schillernde Doppeldeutigkeit einräumt), fasziniert stets aufs neue. Eine "Schwäche" wird so zur ausgesprochenen Stärke.

Fischer-Dieskau sang ein Schumann-Programm, in dem die Seltenheiten weit überwogen. Schwerpunkte waren der Heine-Liederkreis op. 24, fünf weitere Heine-Lieder und sechs Geibel-Lieder. Seine Interpretation wird eben deshalb zu einem erregenden Abenteuer, weil er keinen "direkten Draht" zur Romantik hat. Die Unschuld romantischen Vor-sich-hin-Singens hat er längst verloren. Bei ihm ergibt sich (im Gegensatz zu Prey) nichts von selbst. Er erreicht die Identifikation mit dem Liedgehalt auf artifiziellem Wege. Er singt und gibt gleichzeitig eine intellektuelle Interpretation des Romantischen. Das kann im atemraubenden Wechsel der dynamischen Bereiche und der Akzentuierungen natürlich zu Übertreibungen führen. Für Wagnisse gibt es eben keine Sicherheiten.

Nach einem Höhepunkt befragt, würde ich das volksliedhafte "Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht" Heines nennen, dessen ausgesparte, lapidare, beinahe aphoristische Trauer Fischer-Dieskau wunderbar traf.

Günther Weißenborn ist mehr als nur Begleiter; er ist Partner, der Fischer-Dieskaus Intensität auf das Klavier überträgt und oft suchend in die Stille horcht.

Heinz W. Koch

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