Zum Liederabend am 11. November 1967 in Darmstadt


Darmstädter Echo, 13. November 1967

Beethovens Humanität und Idyllen

Dietrich Fischer-Dieskaus Liederabend in der Darmstädter Stadthalle

In den "Randnotizen" zum Programm seines Beethoven-Abends hat Dietrich Fischer-Dieskau von "dem Befreier und Türöffner für das deutsche Kunstlied" geschrieben. Dieser Gedanke ließe sich weiterführen, blickt man auf die romantischen Liederzyklen voraus, für die Beethoven mit dem formal und tonal in sich gechlossenen Liederkreis "An die ferne Geliebte" nach Versen des jungen Wiener Arztes A. Jeitteles einen Prototyp geschaffen hat. Die Nachbarschaft zu der späten A-Dur-Sonate für Klavier scheint nicht ganz zufällig; auch darin lassen sich wie in Beethovens letzten Quartetten deutlich ausgeprägte persönliche Empfindungen vernehmen, mehr als in den objektivierten Liedern nach Gellert, die eher ein zufälliges Reihungsprinzip erkennen lassen, wie es bei Haydn und Mozart ausgeprägt ist. Die Strenge der Gellertschen Verse haben ihr unmittelbares, abstrahierendes Äquivalent in der klassischen, humanistischen Weltschau Beethovens.

Daß der Berliner Bariton diese beiden Zyklen zur dominierenden geistigen Mitte seiner Interpretation machte, werden ihm die Beethoven-Kenner besonders zu danken wissen. Es sind zwei wesenhafte Seiten und Saiten des Komponisten, die der Künstler mit aller ihm eigenen Intensität gegenüberstellt, klassisches Humanitätsempfinden von schlichter Einfachheit und Geradlinigkeit gegen die persönlichere Ausdrucksform, die sich in der Idyllik bei Jeitteles kundtut wie in der Naturlyrik nach Goethe oder den einfachen Gesängen nach Versen von Matthison (Andenken) und "Ich liebe dich" nach Herrosee, denen der Liedersänger in den Zugaben den "Ungeduldigen Liebhaber" nach Metastasio folgen ließ. Hier war noch einmal die Opernszene angeschlagen wie in dem von Beethovenschem Pathos erfüllten "An die Hoffnung" aus Tiedges "Urania", die ganz in der Nähe der großen Leonoren-Arie aus dem "Fidelio" zu stehen scheint. Damit war bei Beethoven nun auch ein sinnvolles zyklisches Programm verwirklicht, wie es dieser Sänger so oft bei Schubert, Schumann oder Hugo Wolf aus dem geistigen Zusammenhang zu gestalten vermag.

Klassisches und romantisches Espressivo, die Deutung vom Wortausdruck ist Dietrich Fischer-Dieskaus eigene Domäne. Die Plastizität des Wortes erhält durch die Färbung des Stimmklangs eine einzigartige Ausdrucksfülle, die für einen Stilpuristen in der souveränen Freiheit des Rhythmischen vielleicht gelegentlich die Grenzen streifen läßt, sie wird aber immer zwingend aus der leidenschaftlich erfüllten persönlichen Darstellung, nicht zuletzt auch in dem bewundernswert differenzierten Zusammengehen mit seinem Partner am Flügel, Günther Weißenborn. Wie sehr solch subjektive, zwingende Interpretation auch Gunst des inspirierten Augenblicks ist, vermag die innere Ruhe in Goethes "Wonne der Wehmut" mit ihrem Ineinandergreifen der zarten Kantilenen oder die "naive" Schlichtheit des "Ich denke dein" mit dem entrückten "nur dein" des Schlusses oder die einfache Liedgestalt des "Ich liebe dich" zu bekunden wie die sonore, schwebende As-Dur-Kantilene der "tomba oscura", die diesen herrlichen Abend einleitete.

War mit diesem Beginn die doppelte Thematik des Programms angezeigt, so wurden die eindringlich-aggressiven Gellertlieder in ihrer unnahbaren Strenge und der "Wachtelschlag" Bestätigung und Erfüllung wie das verklärende "Nimm sie hin denn, diese Lieder". Ein Geben und Nehmen wurde beglückendes, beseligendes Ereignis, das mit hohem Kunstverstand geformt, in der Vielfalt des Ausdrucks, der Nuancen, der Wandelbarkeit des gesungenen und gespielten Tones sich zu erlesener Kammermusik erhob. Und es war wohl der nachhaltigste Eindruck dieses Musizierens, daß es trotz des augenblicklichen Espressivos, trotz der bewegenden Leidenschaft stets das Maß des Klassischen wahrte, wenn die Melodien wie "leichte Segler" im getupften Piano heller Kopftöne dahinschwebten. Die "Register" dieser souverän geführten und behandelten Stimme erschlossen die Welt dieser Gesänge, die geistige Welt Beethovens, der neben seinen Instrumentalwerken in diesen Kompositionen in Sphären eindrang, die in dieser gemeinsamen Interpretation des Sängers und des Pianisten gewiß für viele ungeahnte Offenbarungen wurden. Das Publikum in der überfüllten Stadthalle lauschte diesen kostbaren und seltenen Gaben in spürbarer Spannung und Aufmerksamkeit, man hätte am Samstag in der sonst so geräuschvollen Stadthalle die berühmte Stecknadel fallen hören können. Über eine halbe Stunde währte der Applaus, für den die Künstler mit vier Zugaben dankten, zuletzt mit der heiter-skurrilen "Marmotte" als Pendant zu Goethe-Vertonungen, unter denen "Mephistos Flohlied" zu einer vergnüglichen dramatischen Szene wurde.

G. A. Trumpff

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