Zum Liederabend am 15. November 1967 in Stuttgart


Stuttgarter Zeitung, 17. November 1967

Eusebius und Florestan

Fischer-Dieskau singt Schumann

Auch unter den großen Sängern unserer Zeit gibt es nicht viele, die es wagen könnten, mit einem Programm aufzutreten, wie es Dietrich Fischer-Dieskau für seinen diesjährigen Liederabend in der Stuttgarter Liederhalle gewählt hatte. Fischer-Dieskau sang an diesem Abend ausschließlich Schumann. Das ist aber ein Komponist, dessen Liedschaffen, bei aller charakteristischen Ausprägung im einzelnen, an Reichweite und Mannigfaltigkeit mit dem etwa von Schubert oder Wolf nicht zu vergleichen ist. Und so war hier für die Dauer von zwei Stunden von dem Sänger ein Äußerstes gefordert: den jeweiligen Möglichkeiten einer ganz individuellen Gestaltungsweise bis in die letzten Feinheiten nachzugehen und dabei doch die musikalische Einheit der dem Komponisten eigenen Tonsprache zu wahren.

In welchem Maße Fischer-Dieskau diese Kunst beherrscht, zeigte sich zum Beispiel gleich an der Folge der beiden Lieder "Der Nußbaum" und "Mein Herz ist schwer". Man glaubte, zwei verschiedene Stimmen zu hören, und doch war es beidesmal wirklicher Schumann, verträumte Eusebius-Stimmung dort, Florestan-Erregung und Byronscher Weltschmerz hier. So ausgeprägt allerdings tritt das Gegensätzliche der Schumannschen Natur in seinen Liedern nur selten hervor, und so waren es mehr die kaum merklichen Wandlungen des Ausdrucks, in denen sich die Interpretationen des Sängers vollendeten, der sich ganz unauffällig vollziehende Wechsel in der Färbung einer sich wiederholenden Stelle etwa, oder die gewissermaßen von selbst anhebenden und wieder zurücksinkenden Bewegungen einer meisterhaft beherrschten verhaltenen Dynamik.

Man könnte viele Beispiele hierfür anführen, so das Lied "Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht" und vor allem die an Schlichtheit und lebendigem Ausdruck unübertroffene "Lotosblume" und überhaupt unzählige einzelne Stellen, wie die unerhörte Zeile "Im Leuchtturm wurden die Lichter allmählich angesteckt", und hätte dagegen höchstens ein einziges Lied zu halten, in dem die Strophen mit einer gewissen, in ihrer Melancholie aber doch wohl auch beabsichtigten Gleichförmigkeit aufeinander folgten: das "Berg und Burgen schaun herunter". Doch erschöpfte sich die Darstellungskunst Fischer-Dieskaus keineswegs in den hier angedeuteten Qualitäten, die vielmehr in einigen Liedern nach Texten von Geibel, so im "Hidalgo" und im "Kontrabandiste", um das ganz unbeschwerte, von Humor und Witz inspirierte, für diesen Künstler kaum weniger bezeichnende Charakterisierungsvermögen bereichert wurden.

Günther Weißenborn hätte sich allein durch das Nachspiel zu dem Lied "Ich wandelte unter den Bäumen" als hervorragend gestaltender Pianist ausgewiesen.

Wilhelm Riekert


  Stuttgarter Nachrichten, 17. November 1967     

     

Der Ausnahmesänger

Dietrich Fischer-Dieskaus Schumann-Abend im Beethovensaal

    

Dietrich Fischer-Dieskau singt Robert Schumann, einen ganzen Abend lang nichts als Lieder von Schumann. Wer außer ihm würde dergleichen wagen? Liederabende (nämlich: ohne Schmetterarien) sind an und für sich nicht populär, wenn Schubert und Abwechslung fehlt schon gar, und der riesige Beethovensaal scheint überhaupt so Intimem, wie es ein romantisches deutsches Klavierlied ist, denkbar unangemessen. Aber wenn Fischer-Dieskau singt, zeigt sich, wie groß die Gemeinde ist, die er durch seine Renaissance des Liedgesanges erst wieder geschaffen hat (es sind überraschend viele junge Leute darunter!). Er kann das Programm so streng, so einförmig wählen wie er nur mag, und man muß trotzdem noch Sesselreihen aufs Podium stellen.

In dieser Attraktivität spiegelt sich äußerlich die Ausnahmestellung Fischer-Dieskaus unter den Liedsängern der Gegenwart. Und so oft man ihn wiederhört, bestätigt er deren innere Fundierung. Er hat heute, als 42jähriger, eine Reife und Höhe seiner Kunst erreicht, von der sich kaum denken läßt, daß er sie noch überbieten könnte. Die Stimme klingt so schön wie eh und je: kein "Stimmwunder", aber ein Wunder an Ausdrucksfähigkeit, Technik ist unhörbar, selbstverständlich geworden: das Schwierigste, was ein Sänger erreichen kann. Diese unverwechselbare Baritonstimme scheint über unerschöpfliche Register zu verfügen, ohne daß man technische Registergrenzen (Bruststimme, voix mixte und Kopfstimme) wahrnimmt.

Von Caruso wird berichtet, er habe in einer Bohème-Aufführung einmal den "Abschied vom Mantel" für seinen heiser gewordenen Baßkollegen gesungen, ohne daß jemand im Publikum die Täuschung merkte. Fischer-Dieskau flötet die zarten Melodiefloskeln des "Nußbaums" mit tenoraler Mezza voce: und unmittelbar darauf setzt er dunkel, markig, lastend die ersten Worte von Byrons "Aus den hebräischen Gesängen", "Mein Herz ist schwer" Kontraste auf engstem Raum, in stimmlich-seelischem Zusammenklang höchst wirkungsvoll ausgeschöpft, ohne auf vordergründigen Effekt zu zielen.

Es ließen sich so viele Beispiele für Fischer-Dieskaus stilistisches Einfühlungsvermögen anführen, als er überhaupt Lieder sang. Er enthüllt selbst in der Beschränkung dieser Auswahl, die Goethe mied und im Liederkreis op. 24 und fünf weiteren Heine-Gedichten den Schwerpunkt hatte, die Weite von Schumanns lyrischer Landschaft. Fischer-Dieskaus jede Nuance ausschöpfender Espressivostil ist nicht unanfechtbar, wo er, so etwa in der "Lotosblume", zu einem Dramolett vertieft, was eigentlich von der Dichtung her leichter, schwebender gedacht zu sein scheint. Übrigens singt er heute gelassener, ebenmäßiger als früher, deshalb aber nicht weniger intensiv: das Lied als Ganzes tritt vor den Reiz des ausgekosteten Details.

Wie immer bei Fischer-Dieskau, war der Pianist keineswegs bloßer "Begleiter", es sei denn in dem höheren Sinn eines Begleiters auf einem geistigen Wege. Günther Weißenborn erfüllte diese Partnerschaft als gleicherweise hochmusikalischer wie pianistisch makelloser Mitgestalter. In den bedeutsamen Klaviernachspielen konnte er diese auch solistisch bestätigen. Als Fischer-Dieskau sich mit einer Probe humoriger Charakterisierungsgabe, dem virtuos zungenfertigen "Kontrabandiste", verabschiedete, kannte der Jubel der Zuhörer schier keine Grenzen.

Kurt Honolka

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