Zur Oper am 17. Februar und 14. März 1968 in Berlin

Abendzeitung, München, Datum unbekannt   

Lulu hat Erfolg in Berlin

Alban Bergs "Lulu" in der Inszenierung von Gustav Rudolf Sellner an der Deutschen Oper Berlin. Musikalische Leitung: Karl Böhm, Bühnenbild: Filippo Sanjust. Ovationen.

Das Resultat von Sellners Inszenierung war zwiespältig: Man bewunderte einerseits den hohen Kunstverstand, der die Inszenierung und die hellen, geistreichen Bühnenbilder Filippo Sanjusts prägte; aber man konstatierte andererseits, daß die Exaltation der "Lulu"-hörigen Personen nicht selten unfreiwillig komisch wirkten und wirken mußten.

Evelyn Lear ist eine intelligente intonationssichere Sängerin, aber keine Ausgeburt amoralischer Sinnlichkeit: Man glaubte ihr wohl die Noten Bergs, aber nicht den Wedekind-Touch. Durchweg ausgezeichnet Loren Driscoll, Donald Grobe als Alwa, Josef Greindl als Schigolch und Dietrich Fischer-Dieskau, der über die zeitverhastete Stimme der Figur des Dr. Schön souverän hinwegsang.

Karl Böhm verbrachte mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin Wunderdinge. Transparenter und "ausgehörter" dürfte die "Lulu"-Musik noch an keiner Opernbühne erklungen sein. Der stürmische Schlußbeifall signalisierte einen Sieg des Dirigenten und der Sänger, nicht unbedingt einen des Werkes.

H. K.


     Neue Zeitschrift für Musik, April 1968     

Berlin

Alban Bergs "Lulu" - Krzysztof Pendereckis Lukas-Passion

An der ersten Berliner Inszenierung von Bergs "Lulu" ist dreierlei hervorgehoben worden: Karl Böhms souveräne, verdeutlichende Interpretation der komplexen Partitur, Sellners inszenatorische Dezenz und schließlich, mit deutlichen Vorbehalten, die Gestaltung der Lulu durch Evelyn Lear. Und ruft man sich einmal die Fülle von entstellenden Interpretationen neuer Musik ins Gedächtnis, die ja unausrottbar zum täglichen Konzertbetrieb gehören, dann ist Böhms Realisation der Partitur in der Tat eine aufklärerische Leistung ersten Ranges. Kaum vorstellbar, daß das dicht gewobene Geflecht der Bergschen Musik deutlicher darstellbar ist, daß eine ausgewogenere Balance zwischen Bergs Kunst musikalischer Zeichnung und seines überwältigenden Farbenspiels erreichbar wäre. Böhms musikalischer Elan verfügte zudem über eine einschmelzende, bewundernswert integrierende Kraft, die die Musik unmittelbar versinnlichte, sie geschmeidig machte.

Allerdings wurde zumeist um Nuancen zu laut musiziert. Die Pianissimi etablierten sich alsbald als durchgehaltenes Mezzoforte, und die Fortissimo-Partien übertönten bisweilen sogar die forciertesten Anstrengungen Fischer-Dieskaus (Dr. Schön), sich dem Orchester gegenüber zu behaupten. Zudem hielt Böhm auf straffe Tempi, die dem Rubato-Charakter von Bergs Musik nicht immer ganz gerecht zu werden vermochten. [...]

Eher zucht- und maßvoll wirkte auch Sellners Konzeption der Lulu-Tragödie. [...] Er inszenierte eine Tragödie der versachlichenden zwanziger Jahre vielleicht, keine der Jahrhundertwende. So bekam Alwa, von Donald Grobe sehr gelöst, sehr kultiviert gesungen, smarte Züge. Und Dietrich Fischer-Dieskaus Dr. Schön war zwar herrisch und bisweilen unangemessen hagestolz, aber ohne Nuancen der Gebrochenheit, der Liebestollheit und Verfallenheit glaubhaft zu machen. Fischer-Dieskau suchte zudem - die Partie außerordentlich stimmgewaltig singend - schauspielerisch sein Heil immer wieder in Gesten, die inzwischen einigermaßen vernutzt sind, die mehr das Klischee der Schön-Figur verdeutlichten als sie neu verlebendigten.

Abgezirkelter als zu erwarten gewesen wäre, mehr Lady Lulu als schönes Tier, gestaltete Evelyn Lear die Titelpartie. Vorzüglich im gestischen Detail, von schöner, katzenhafter Geschmeidigkeit, gelang es ihr am Ende doch nicht, das Tabuverletzende, das Gesellschaftsverändernde der Lulu glaubhaft zu machen. Sellner ließ ihr offenbar zu wenig Spielraum, das Extraordinäre der Lulu ausspielen zu können, ihre gewalttätige Triebhaftigkeit, ihren menschenverändernden Sog wie ihr an Menschen Verfallensein szenisch zu realisieren. So schickte sie sich mehr in die Verhältnisse, in den angeschlagenen Ton der Inszenierung, als der Lulu-Rolle guttat. Sängerisch dagegen zeigte sich Evelyn Lear der riesigen und schwierigen Partie vorzüglich gewachsen. Herausragend auch Patricia Johnson als Gräfin Geschwitz und Josef Greindls Schigolch. Darstellerisch vor allem etwas gehemmt: Loren Driscoll als Maler.

Filippo Sanjust hatte Sellner graphisch außerordentlich reizvolle schwarz-weiße Bühnenbilder entworfen. Interieurs, in denen sich vor allem stilisierter Jugendstil ausbreitete, aber auch, wie in Lulus Wohnraum, hollywoodeske Vorstellungen von Wohnpracht. Insgesamt mehr Räume der Verlorenheit als der überheizten, sexgeladenen Extravaganz. Gänzlich überzeugend dagegen die Lösung des schwarz-dunklen Schlußbildes, auf das nur zweimal Licht fällt. Seiner Regiekonzeption entsprechend, hatte Sellner auf Projektionen verzichtet.

[...]

Autor unbekannt


     Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Februar 1968     

Schwarzweiß und psychologisch vertieft

Alban Bergs "Lulu" bei Sellner in West-Berlin

Berlin lernte das Werk 1958 als Gastspiel der Hamburger Oper in Günter Rennerts Regie kennen. Nun erst, drei Jahrzehnte nach der Zürcher Uraufführung, erscheint es in eigener Wiedergabe auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin. Evelyn Lear, seit der Wiener Premiere 1963 ihre meistbegehrte Darstellerin, verkörpert die Titelpartie. "Sie ist immer Mittelpunkt, weil sie nichts tut", hat Rudolf Sellner die Lulu-Figur definiert. Die Lear ist sich dieser sphinxhaften Passivität bewußt. Sie spielt ganz richtig – völlig anders als einst Maria Orskaden – den ruhenden Pol in einem Pandämonium der Lüste. Sie ist gemaltes Modell, zwiefach verheiratetes Objekt, zum Tanz vor der (durch sie fermentierten) Gesellschaft ebenso genötigt wie zum Abschuß des Revolvers auf den einzigen von ihr geliebten Mann, Dr. Schön. Schlank gewachsen, reizvoll und pikant anzusehen, trägt sie das wehende Pierrotkostüm so anmutig-lasziv wie die langen Kleider von 1910 und das enthüllende Tanzgewand. Eben in ihrer kühlen Passivität ist die Lear eine glänzende, körperlich elastische Schauspielerin bis zum Todesschrei unterm Messer des Lustmörders. Ihre Musikalität trägt die schwere Partie im Solo wie in den Ensembles. Intonation, Phrasierung, Melodisierung des Textes sind vorbildlich. Die Stimme selbst hat sich verändert. Die helle Leichtigkeit von einst weicht oft einem wie aufgesetzt wirkenden dramatischen Klang; das Volumen ist auf Kosten der lyrischen Farbe gewachsen. Vorsicht scheint geboten.

Als Dr. Schön hat Dietrich Fischer-Dieskau einen neuen Herrentyp entwickelt. Er spielt ihn als erfolgreichen, sozusagen nach oben scheiternden Bourgeois, mit Kinnbart, Glatzenansatz und Pincenez. Von herrischer Haltung anderen Männern gegenüber, bricht er unter der Hörigkeit vor Lulu zusammen, zitternd, in ohnmächtiger und angeekelter Eifersucht. Eine Gesangsleistung ersten Ranges ist die stetige Verbindung von Parlando und arioser Kraft, namentlich in den Duettszenen.

Loren Driscolls edel-nasaler Tenor gibt dem Maler so viel Relief, wie sein schwermütiges Naturell darstellerisch die Tragik ahnen läßt. Einen hochgewachsenen Alwa spielt Donald Grobe, als Stimmtypus gedämpfter als üblich, musikalisch sehr sicher.

Schmuddelig, dicklich und invalid, ein alter Bohème mit mephistophelischen Zügen, so prächtig singend wie spielend, ist Josef Greindl als Schigolch. Unübertrefflich in den Partien des prologisierenden Tierbändigers und Athleten Rodrigo, ein polternder Kraftmeier und meisterlicher Charakterbariton: Gerd Feldhoff.

Größe in der kleinen Partie der lesbischen Gräfin Geschwitz zeigt Patricia Johnson; ihr abschließendes "Lulu, mein Engel, ich bleibe dir nah in Ewigkeit" gehört zu den gesanglichen Gipfeln des Abends und verfolgt einen in Träumen. Sehr reizvoll, schauspielerisch wie sängerisch, Barbara Scherler als Gymnasiast. Insgesamt eine Besetzung hohen Ranges.

Sellners Regie arbeitet bewußt in die psychologische Tiefe. Sie ist, in der gleichsam selbstverständlichen Führung aller Figuren, von erstaunlicher Reserve dem gegenüber, was man als oberflächlichen Einfall und vordergründigen Gag des Regisseurs so oft überschätzt. Höchste Kunst in den kleinen Nuancen, den Begegnungen der verschiedenen Männer mit Lulu, aber auch der Männer untereinander, kennzeichnet die intimen Bilder, steigert sich in der Peripetie der Theater-Garderobe, gipfelt beim Imbroglio der Szene, die den Mord vorbereitet. Anders als Rennert läßt Sellner den Realismus selbst zum Sinnbild wachsen; er espart dem Zuschauer nicht einmal das Grauen vor der sichbaren Erstechung Lulus.

Filippo Sanjust läßt das Bühnenbild aus der Idee eines Schwarzweiß mit wenigen kräftigen Farbtupfen wachsen. Über wechselnd angeordnetem Trapez-Grundriß schwebt eine Art Baldachin. Das ovale Porträt Lulus im Stil des frühen Gustav Klimt kehrt wieder. Sofa, Récamier-Liegebank und Metallbett kennzeichnen die wechselnden Stadien von Sinnlichkeit in Armut und Luxus. Ausgezeichnet die Kostüme und Hüte der Belle époque bis zum schwarzen Humpelrock der Geschwitz.

Ungelöst blieb freilich auch diesmal das Problem des Übergangs vom 4. zum 5. Bild. Berg hat dafür einen Film entworfen, dessen Auf- und Abstieg mit der Struktur des symphonischen Zwischenspiels übereinstimmt. Da bisher die Realisierung nie glückte, ließ man auch hier das Orchester allein sprechen.

Seine Sprache war freilich überzeugend genug. Denn am Pult stand, bei jedem Auftritt und Abgang mit stürmischem, anhaltendem Beifall begrüßt, Karl Böhm. Seit dieser große Dirigent und Theatermusiker 1952 den "Wozzeck" für sich entdeckte, ist er zum begeisterten und immer kundigeren Dolmetscher der Bergschen Tonsprache geworden. Ihr unvergleichliches Idiom, hinter dessen Emotions-Strömen sich die kunstvolle Faktur verbirgt, hat für ihn keine Rätsel. Gefühlsmusiker und Künstler der Form, hat Böhm den Doppelsinn dieser symphonischen Opernmusik aus dem Instinkt begriffen. Was für Kleiber 1934 noch Objekt der Erhellung war, ist nun eine in sich deutliche Affektesprache geworden. Den Sängern ist Böhm ein elastischer und bescheiden zurücktretender Partner. Das Orchester besteht vor allen Aufgaben der schweren Bergschen Partitur.

Der Eindruck des Abends war stark, die Spannung ließ bis zum Ende nicht nach. Es gab begeisterten Applaus für alle Mitwirkenden im musikalischen Bereich. Sellner und Sanjust mußten ein paar Äußerungen des Unmuts entgegennehmen. Warum eigentlich? Das einzige, was wir an dieser Aufführung bedauern, ist, daß sie nicht schon lange den Spielplan ziert.

H. H. Stuckenschmidt


     Die Welt, 18. Februar 1968     

Schwarzweiß mit roten Fahnen

Sellners Berliner Inszenierung von Alban Bergs "Lulu"

Fast 31 Jahre sind seit der Züricher Uraufführung vergangen, bevor Berlin jetzt Alban Bergs "Lulu" erstmals in eigener Einstudierung präsentieren konnte: eine unverhältnismäßig lange Zeit gerade für die Stadt, die 1925 mit Erich Kleibers denkwürdiger Uraufführung des "Wozzeck" in der Staatsoper Unter den Linden so entscheidend dazu beigetragen hat, dem damals noch wenig bekannten, bald darauf kulturpolitisch verfemten Komponisten und seinem Werk, das andere Bühnen zunächst für unspielbar hielten, zu internationalem Ruhm, zu weltweitem Erfolg zu verhelfen.

Zur Ehre Berlins muß freilich auch daran erinnert werden, daß Kleiber, der sich nicht zuletzt eben durch diese "Wozzeck"-Premiere den Machthabern des 30. Januar verdächtig gemacht hatte, kurz vor seiner Emigration noch den Mut besaß, hier die "Lulu-Suite" uraufzuführen: das rein musikalische Substrat der neuen Oper, deren dritten Akt Berg vor seinem frühen Tod 1935 nur noch im Partizell vollenden konnte.

Während der Berliner Festwochen 1958 gastierte die Hamburgische Staatsoper mit Rennerts Inszenierung der "Lulu" im Behelfsheim der Städtischen Oper an der Bismarckstraße: damals allgemein begrüßt als Auftakt einer ergänzenden Zusammenarbeit zweier prominenter Bühnen, die sich dann auf die Dauer leider doch nicht hat realisieren lassen – jedenfalls eine interessante Begegnung, der wertvolle Informationen zu verdanken waren.

Natürlich wäre es Berlin auf die Dauer nicht erspart geblieben, sich auch Bergs "Lulu" selbst zu erarbeiten: ein Werk, das immer noch wächst, je häufiger man ihm begegnet und je eingehender man sich mit ihm beschäftigt. Mit dem Abstand von seiner Entstehungszeit vergrößert sich auch die Distanz zu dem Stoff des Librettos, den Berg – selber schon eine Generation jünger – Wedekinds Dramen "Erdgeist" und "Büchse der Pandora" entnahm und der uns heute – abermals drei Jahrzehnte später – noch ferner steht mit seinen spielerisch verbrämten Fanfarenstößen einer bitteren Ironie, mit denen der große Moralist die Menschheit am fin de siècle glaubte wachrufen zu müssen. Jene Menschheit, die nicht sah oder nicht sehen wollte, wie brüchig die sogenannte gute Gesellschaft geworden war, die sich in ihren Lust- und Trauerspielen an den "wohlgesitteten Haustieren" ergötzte, während unter dem schönen Schein längst das Gewürm nagte und das Raubtier seine Krallen zeigte.

Man soll heute bei Berg nicht nach Wedekind fragen, sondern zu ergründen versuchen, auf welche Weise, unter welchen künstlerischen Gesichtspunkten und mit welchen kompositorischen Mitteln der Musiker die vorliegenden Dramen seiner Tonsprache gefügig gemacht hat. Anders als bei Büchner, dessen Text er nur seiner dramaturgischen Konzeption anzupassen hatte, mußte Berg bei Wedekind tiefgreifende Änderungen vornehmen, die auch die Substanz nicht unberührt ließen. Er entrückt Lulu, die "süße Unschuld", das "wilde, schöne Tier", die "Urgestalt des Weibes", vollends den Moralbegriffen nicht nur seines Dichters, sondern des 19. Jahrhunderts schlechthin: in einer Tonsprache, die – mag sie für das heutige Klangbewußtsein noch stark an überkommene Vorbilder geknüpft sein – vor allem mit der Variabilität ihrer Rhythmik, ihrer hoch entwickelten Kunst dramatischer Charakterisierung und Klangfarbendifferenzierung noch längst nicht ausgeschöpfte, zukunftsträchtige Möglichkeiten musikalischen Gestaltens offenhält.

Soweit Berg sich von Wedekind emanzipierte: dem "Zirkus"-Milieu des Dichters bleibt er offenbar stärker verhaftet, als seinem eigenen Naturell entsprach. Auch der modernste Regisseur kommt nicht um den Prolog herum, in dem der Dompteur vor dem Zirkuszelt die handelnden Personen in ihren musikalischen Porträts und Lulu, die süße, unheilstiftende Schlange, gar in persona vorzuführen hat.

Aber das ist – und darin erweist sich die Terminverspätung als segensreich für die Berliner Aufführung – auch fast der einzige Tribut, den der Regisseur Gustav Rudolf Sellner und sein Bühnenbildner Filippo Sanjust an Bergs Wedekind-Konzeption entrichteten – abgesehen von den knallroten Fähnchen des Zirkuszelts, die während der ganzen Aufführung unauffällig distanzierend über den auf Schwarz und Weiß stilisierten Szenenbildern und Kostümen schweben.

Aber dieses Schwarzweiß gilt nicht für die musikalische Interpretation, der Karl Böhm vielmehr ein Höchstmaß an klanglich fein ausgehörter, reich differenzierter, beziehungsvoll eingestufter Instrumentalfarbe und den dramatischen Impuls verleiht, der von den singenden Darstellern mit leidenschaftlicher Intensität aufgegriffen und über die Rampe gebracht wird: vor allem von Dietrich Fischer-Dieskau, der als Doktor Schön hinter der Maske des seriösen älteren Herrn sein tragisches Schicksal unerhört eindringlich aussingt und ausspielt.

Evelyn Lear enttäuschte in der Titelpartie, weil sie an Stelle von naturhafter Unschuld und spielerischer Grazie mehr bewußte Koketterie und darstellerisches Raffinement einzusetzen hatte: sehr virtuos und musikalisch souverän, aber ohne stärkere persönliche Ausstrahlung (zumal im zweiten Akt) und mit einem stimmlichen Aufwand, der den spielerischen Koloraturen dieser Sopranpartie ein wesensfremdes Pathos, der graziösen Koketterie eine ungemäße Dämonie beimischte.

Weit über den Typus belkantistischen Tenors hinaus scharf profiliert war der leidenschaftlich entflammte Alwa Donald Grobes, auch wenn er im ekstatischen Finale des zweiten Aktes nicht mehr ganz durchhielt. Schwach blieb Patricia Johnson als Gräfin Geschwitz, während Josef Greindl als Schigolch eine recht interessante Karikatur bot.

Glücklicherweise verzichtete Sellner auf die filmischen Zutaten, die Lulus Abstieg in das Londoner Elendsquartier illustrieren sollen. Trotzdem konnte niemand begreifen, was die Variationen über Wedekinds reichlich triviales Bänkelsängerlied bedeuten sollen. Solange Bergs Witwe das handschriftlich nahezu abgeschlossene Manuskript ihres Gatten nicht zur Veröffentlichung freigibt, werden wir uns mit solchen Kompromißlösungen abzufinden haben.

Heinz Joachim


     Generalanzeiger, Bonn, Datum unbekannt     

Ein Bett – mit Schlachtopfern bedeckt

Gustav Rudolf Sellner inszenierte "Lulu" in Berlin

Alban Bergs "Wozzeck" war unter Erich Kleiber 1925 noch in der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt worden. Bis aber Berlin sich einer eigenen "Lulu" freuen durfte, sind seit der Premiere der zweiten Literatur-Oper des Schönberg-Schülers am Zürcher Stadttheater mehr als dreißig volle Jahre dahingegangen. Um so verständlicher ist es nun, daß man dieser Inszenierung an der Deutschen Oper, für die an Namen und Mühe nicht gespart wurde, mit besonderer Erwartung entgegensah, einer Erwartung übrigens, die, so finden wir, im Blick auf musikalische und szenische Realisierung auf delikate Weise gespalten war.

Der übliche Begrüßungsklatsch für den Dirigenten steigerte sich schon zu Beginn des Abends zur endlosen, großartigen Ovation. Und Karl Böhm war es auch, dem man später, als Jack the Ripper längst schon im Namen alles Männlichen die Schlange Lulu niedergestochen hatte, mit Emphase zujubelte als dem eigentlichen Meister dieses Abends, unter dessen Hand die Partitur Bergs durch hohe Sensibilität differenzierteste Gestalt fand.

Dietrich Fischer-Dieskaus Dr. Schön ist ohne Zweifel, was die Einheit von Gesang und Darstellung angeht, der Mittelpunkt auf der Bühne. Mit großer stimmlicher Souveränität gibt er die tragische Zerrissenheit dieses stockbeinigen und befrackt Moralisierenden, dem Lulu, nach seinen Worten, Altersfreude und Würgeengel zugleich, zunächst und besonders aber – wie allen anderen auch – "unabwendbares Verhängnis" wurde. Donald Grobe war ein mit sehr viel Verve singender Heldentenor-Schriftsteller, Loren Driscoll ein sehr wohlklingender Maler; Josef Greindl karikierte treffend den Schigolch, während man Patricia Johnsons Gräfin Geschwitz ihre "Besonderheit", die sie mit solcher Hingabe Lulu unterwürfig macht, nicht sonderlich anmerkt.

Problematisch war natürlich die Lulu-Rolle: als prickelte nicht in jedem Unterfangen, die "Urgestalt des Weibes" leibhaftig auf den Brettern agieren zu lassen, schon das ewig Unmögliche! Die Lulu zu singen, ist ohnehin kein "Spaziergang", und es ist der in dieser Rolle erfahrenen Evelyn Lear nicht hoch genug anzurechnen, mit welcher Überlegenheit sie alle Schwierigkeiten zwischen höchster Koloraturraffinesse und reinem Sprechgesang durchschritt. Das kindhafte Biest ist sie aber nicht, dessen bloße Existenz auf der Bühnenwelt mehr denn jede bewußte Aktion angetan ist, "Unheil anzustiften, zu locken, zu verführen, zu vergiften, zu morden", und zwar: "ohne daß es einer spürt". Die Berliner Lulu ist nicht als solche geboren; wenn sie ihre Beine aufrichtet, weiß man: sie tut’s nicht zufällig, sondern der Regisseur Sellner hat es so gewollt. Sie ist nicht die "süße Unschuld", deren "Bett mit Schlachtopfern" bedeckt ist, wie Dr. Schön, so nah, sich selbst dazuzulegen, es apostrophiert.

Daß Sellner den Darstellern nicht ebensoviel abgewinnen konnte wie Böhm den Sängern, mag nicht zuletzt an Filippo Sanjusts Bühnenbild liegen, das in keiner Weise jene laszive Welt spiegelt, in der man die Schlange Lulu gerne züngeln sähe. Wenn sich die aparten roten Planen des Zirkuszeltes beiseite gehoben haben, ist nichts mehr von Manegen-Haugout und Boudoir-Schwere zu spüren. Mit grellstem Weiß-Schwarz-Kontrast zwischen glatten, unregelmäßig viereckigen Wänden entsteht ein ungemäßer filmischer Effekt, eine aseptische Szenerie wie in Operationsräumen; sogar die nun doch unentbehrlichen Liegemöbel sind weiß bezogen, als gelte es, Lulu und die Ihren zu sezieren. Jugendstil gibt es nur andeutungsweise. Die gespritzten Wandmuster muten eher fernöstlich kalligraphisch an. Man denke da zum Vergleich nur an Wieland Wagners Stuttgarter "Lulu" vor zwei Jahren!

Über den fragmentarischen Schluß half man sich auch in Berlin auf bewährte Weise: zum Adagio der Lulu-Suite tut Jack the Ripper seinen Stich pantomimisch – im nun doch überraschenden Londoner Bühnendunkel von den lange geblendeten Augen allerdings nur mit Mühe auszumachen.

Bei der verständlichen Begeisterung für den Dirigenten und die Sänger Fischer-Dieskau und Lear konnte man die sparsamen Buhs für Bühnenbildner und Regisseur, die zudem nicht allein vor den Vorhang kamen, kaum wahrnehmen.

Peter Hans Göpfert


     Der Tagesspiegel, Berlin, 20. Februar 1968     

Musiktheater aus eigenem Recht

Alban Bergs "Lulu" erstmals in der Deutschen Oper –
Ovationen für Karl Böhm

Eine grandiose Partitur stellt sich wie ein Filter zwischen Wedekinds Drama und das Opernpublikum. Hindurch, dahinter zu schauen, Genaueres zu erfahren über den Dialog, seine Verästelungen und Nuancen, ist zunächst der vordringliche Wunsch des Betrachters. Alban Bergs "Lulu" haftet alle Problematik der Gattung Literaturoper an.

Der Komponist hat zwei große Werke für die Bühne geschrieben. Im ersten Fall, beim "Wozzeck", wurde aus einem Dramenfragment eine vollendete, vollkommene Oper, im zweiten, bei "Lulu", ist aus zwei kompletten, wortreichen Theaterstücken ein Opernfragment entstanden: eine Dialektik mit tieferer Bedeutung.

Der Mensch als Naturphänomen, als animalisches, von sozialer Bedingtheit unberührtes Wesen ist Gegenstand beider literarischen Vorlagen. Hier wie dort fällt kreatürliches Empfinden der Gesellschaft zum Opfer. Das Tier im Menschen wird bei Büchner exemplifiziert an Mann und Frau – auch Marie ist ein Spiegelbild Lulus – bei Wedekind allein an der Frau. Die unreflektiert aus ihrem Selbstverständnis heraus lebende Kreatur steht jeweils ihrerseits in einer – karikierten – Umwelt, an der sie schuldlos-schuldig scheitert. Obwohl Lulu raffiniert auf allen Klaviaturen der wilhelminischen Gesellschaft zu spielen versteht, wird sie dennoch notwendig deren Opfer.

Ein weiteres verbindendes Moment ist der Mord, der Mord zwischen Lust und Rache, der Lulus wie Maries Leben beendet, die Vergeltung der Männerwelt. Büchners Marktschreier präsentiert das Tier in Rock und Hosen: "Der Aff ist Soldat; ’s ist noch nit viel, unterste Stuf’ von menschliche Geschlecht", Wedekinds Tierbändiger den Menschen als Schlange – kurz: die Parallelität der Stoffe liegt auf der Hand.

Das eine Modell aber, dem der Musiker zweimal verfiel – Lulus Verwandtschaft mit Don Giovanni, deren Erwähnung Berg so wohl tat, ist dagegen eine entferntere -, erscheint in ungleicher dichterischer Gestalt. Ließ die Wortkargheit des "Wozzeck" reichlich Atmosphäre offen, die eine geniale Musik nur auszufüllen hatte, so leben dagegen Wedekinds "Erdgeist" und "Büchse der Pandora" von ihrer Eloquenz. Die Fülle des Gesagten gibt für eine Vertonung kaum Lücken frei; alle Zwischentöne, die im "Wozzeck" die Musik setzt, sind bei Wedekind in der Sprache bereits vorhanden. Hinzu kommt, daß Wedekinds Stücke neben dem Überreichtum an Gesagtem durch ihren Witz faszinieren. Selbst Alwas, des verliebten Schriftstellers, glühendes Pathos stellt sich selbst in Frage. Des Medizinalrats Schlagfluß, des Malers Selbstmord, Dr. Schöns Erschießung, Lulus Tod durch den alle seine Vorgänger rächenden Jack spielen sich auf einer wesentlich anderen Ebene ab als der Untergang eines "edlen Helden" etwa vom Schlage Marquis Posas – Musik aber kann Ironie nicht ausdrücken. Der Wedekind-Leser erwartet die vertrauten Bonmots und staunt, wie sie im Klang untergehen. Sie lassen sich nicht adäquat komponieren.

Die Musik indes errichtet ihr eigenes Reich, dessen Geheimnisse und Gesetzmäßigkeiten zu entdecken hohe ästhetische Freude bereitet, eine Partitur, die aus einer Zwölftonreihe ihre Dramaturgie entwickelt, die vom Aufklingen der "Erdgeist"-Quarten bis zum Erlöschen der Lulu-Gestalt mit dem traurigen Zitat jener Dr. Schön-Thematik, die seine Verbundenheit mit Lulu ausdrückte, den Hörer in ihren Bann zieht. Verlorenes Kolorit wird neu gewonnen, Verflechtungen, Beziehungen, absolute Formen gelten, die Kompromisse, etwa ein lebensnäheres Parlando bei dem Morgengespräch Lulus mit Dr. Schön im ersten Akt, nicht dulden können, wenn es an ebendieser Stelle um die Einführung des Seitenthemas der Dr. Schön zugeordneten "Sonate" geht. Daß Lulu und der Maler, ihr zweites Opfer, sich musikalisch im Kanon jagen, verliert sich in der Turbulenz der Szene: daß Pentatonik die Gräfin Geschwitz als exotisches Wesen kennzeichnet, wirkt dagegen geradezu handgreiflich direkt. Die Problematik des Werkes liegt also in der weitgehenden Inkongruenz von Text und Musik. Wer sie akzeptiert, dem öffnet sich die Welt der "Lulu"-Partitur.

Die umjubelte Aufführung in der Deutschen Oper entsprach dem diffizilen Anspruch des Werkes, dank Böhm am Pult, dank einer Reihe exzellenter Darsteller, dank der Inszenierung Gustav Rudolf Sellners. Der Name Karl Böhm, gleichbedeutend mit musikalischer Sensibilität, Spannung, höchstem Niveau in jedem technischen und interpretatorischen Bezug, bestimmte den Abend. Das Orchester war dem Dirigenten ein williger Partner.

Eine stilisierende Verfremdung des Jugendstils muß aus dem geringen zeitlichen Abstand einstweilen schwerfallen: so mag es zu erklären sein, daß man der aus weißen, schwarzbemalten asymmetrisch verschachtelten Stellwänden gebauten Bühnenbilder Filippo Sanjusts, die als Theater auf dem Theater die Hohlheit der gezeigten bürgerlichen Welt andeuten wollen, nicht ganz froh wird. Unbehaglichkeit zu demonstrieren, gelingt ihnen allerdings vorzüglich.

Zu bewundern ist die Dezenz der Sellnerschen Regie, die des Widerspruchs Wedekind – Berg Herr zu werden sucht. Über Details läßt sich streiten, etwa darüber, ob die zur Decke gestreckten, netzbestrumpften Schenkel der Protagonistin wirklich so faszinieren oder besser aus dem Spiel geblieben wären. Aber auch hier waltet vielleicht eine Absicht der vorsichtigen Ironisierung, mit der Sellner der Gebrochenheit der Wedekindschen Dichtung im Ganzen sehr nahe kommt. Es geht ja nicht um große, erhabene, sondern um kleine, sozusagen anrüchige Tragik.

Daß Dietrich Fischer-Dieskau der Verführung, aus dem Dr. Schön einen Olympier und Szenenbeherrscher à la Mittenhofer zu machen, nicht einen Augenblick erliegt, ist in diesem Sinn das Besondere seiner Leistung: schwankende, staksige Schritte von langen Beinen kündigen das Ende eines äußerlich wohlsituierten, von bürgerlichen Moralbegriffen redenden, im Innersten jedoch schäbigen Helden an. Fischer-Dieskau erhebt den alternden Chefredakteur eines "Käseblättchens" nicht über seine Umgebung, nicht über sich selbst: große Kunst zeigt sich hier in der Bescheidung.

Schigolch, der geheimnisvolle Alte im Hintergrund, dessen Weg so rätselhaft bleibt wie seine Beziehung zu Lulu, ist Josef Greindl: gleich Fischer-Dieskau makellos in der Diktion (Textverständlichkeit wird im übrigen in dieser Aufführung nicht sehr groß geschrieben), zeichnet er die Figur des Greises betulich und abstoßend; eine Darstellung, die nicht zuletzt durch ihren Mut zur Häßlichkeit imponiert. Alwa, der Sohn Dr. Schöns, ist nach dem Willen des Komponisten ganz lyrischer Tenor, sein hanebüchenes "Schriftsteller"-Deutsch verliert sich in hymnischen Gesängen – Donald Grobe gibt ihnen vokalen Wohllaut.

Mit sympathischer Diskretion bewegt sich Patricia Johnson in der Rolle der Gräfin Geschwitz; am Ende besticht ihr Mezzosopran durch eine erstaunlich mühelose Höhe. Der Maler hat den hellen Stimmklang Loren Driscolls, der Tierbändiger alias Rodrigo ist mit athletischer Gebärde und Tongebung Gerd Feldhoff. Als weitere Verehrer Lulus treten der schwärmerische Gymnasiast Barbara Scherlers, der Medizinalrat Walter Dicks’, der Prinz Karl Ernst Merckers und der rührend beklommene Kammerdiener Leopold Clams auf; indigniert und gleichsam hemdsärmelig im Frack gibt sich der von Ernst Krukowski charakterisierte Theaterdirektor.

Von dem gleichmachenden Schwarz-Weiß der Szenen und Gestalten hebt sich Lulu – dies eine einleuchtende Lösung Sellners und Sanjusts – jeweils als einzige Farbe ab: das bunte "wilde, schöne Tier", jenseits von Gut und Böse, in einer Welt der unterhöhlten Konventionen. Wie Evelyn Lear mit der schweren Rolle der Lulu, deren Wirkung wesentlich vom So-Sein abhängt, fertig wird, verdient allen Respekt; ihre Musikalität und Intelligenz bestimmen die Interpretation. Daß ein Rest zu wünschen bleibt, was sowohl die klangliche Nuancierung als auch die darstellerische Ausstrahlung betrifft, möchte man ihr kaum zur Last legen. Instinkt läßt sich nicht erjagen, und das ständige Bemühen der Sängerin, die Lulu angemessen zu spielen, erweist ja doch im Grunde, daß sie eine Lulu von Natur nicht ist.

Nachdem sich der Zwischenvorhang, das rote Zelt des Tierbändigers, vor der fast leeren Bühne geschlossen hatte, auf der Sellner zum "Adagio" der "Lulu"-Suite die letzte Londoner Szene in Andeutungen spielen läßt, wollte die Begeisterung des Premierenpublikums kaum ein Ende finden; Ovationen feierten Karl Böhm und alle Mitwirkenden, ein paar Buh-Rufe bei Sellners und Sanjusts Erscheinen fielen dabei wenig ins Gewicht.

Sybill Mahlke


     Telegraf, Berlin, 20. Februar 1968     

Bergs "Lulu" in Berlin

Berlin hat Alban Bergs "Lulu" vor zehn Jahren durch ein Gastspiel der Hamburger Oper kennengelernt. Mit einer eigenen Inszenierung hat es gezögert. Jetzt ist sie in der Deutschen Oper erfolgt. Rund drei Jahrzehnte nach der Züricher Uraufführung. Inzwischen hat "Lulu" die Runde gemacht, in Hannover, Stuttgart, München, Bielefeld, Kiel. Sie ist jetzt 34 Jahre alt. Der Schock ist verflogen, längst. Die Avantgardisten haben uns im letzten Jahrzehnt an Dinge gewöhnt, neben denen Bergs "Lulu"-Musik erstaunlich ruhig, kontinuierlich im Fluß, klangschön und insgesamt nicht radikaler erscheint als etwa Strauss’ "Elektra". Partien wie die Violinkantilene im zweiten Orchesterzwischenspiel empfinden wir heute schon beinahe als melodisch "süß".

Der Verlust an Schockwirkung hat sein Gutes. Jetzt kann und muß die Musik zeigen, was an wirklichem Gehalt in ihr steckt. Und da müssen wir bekennen, ein wenig enttäuscht zu sein. Gewiß war Bergs Aufgabe hier schwieriger als in dem ungleich großartigeren "Wozzeck", Wedekinds "Erdgeist" kann nicht mehr so interessieren wie Büchners soziales Drama, wo jede Figur schärfstes Eigenprofil hat und darum der Musik ganz andere Kontrastmöglichkeiten gibt. Wedekind geht nicht mehr "unter die Haut". Was daher die "Lulu"-Partitur an Differenzierung gewonnen hat, verlor sie an Schlagkraft.

Das Beste steht in den drei Orchesterzwischenspielen, ferner den "Variationen" und dem Adagio des unvollendeten 3. Aktes. Darüber hinaus gibt es berückende Klangimpressionen. In die Szenen greift das Orchester oft mehrfach tief erregend ein, neben anderen läuft es gleichgültig einher. Den Motiven fehlt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die unerläßliche Plastik. Soweit sie sie haben, ist ihre Erfindung nicht bedeutend genug. Von der Gesangsmelodik geht so gut wie nichts aus. Auch bei mehrmaligem Hören würde man keine zehn Takte behalten.

Lulu selbst war textlich kaum zu verstehen, obwohl Karl Böhm als musikalischer Leiter das Orchester soviel wie möglich zurückhielt (und einige textmörderische Koloraturen ausgemerzt waren). Böhm schon zu Beginn mit anhaltendem Beifall begrüßt, wurde auch am Schluß vom Publikum zum Star des Abends gemacht. Der Hausherr Gustav Rudolf Sellner mußte als Regisseur einige kräftige Buhrufe einstecken. Seine Intention hatte sich zwischen Kammerspiel und Kolportage nicht entschieden. Die Szene, in der Dr. Schön überall die Liebhaber Lulus entdeckt, hinterm Paravent, unterm Tisch und wo sonst noch, schmeckte nach nur halb geglückter Kintopptravestie von 1910. Daß er den Film zwischen 2. und 3. Akt nicht machte, war bestimmt richtig. Sehr eindrucksvoll war die stummfilmhafte Pantomime des 3. Akts.

Evelyn Lear hat Lulus große Augen und "des Lasters Kindereinfalt". Verführerisch ist sie kaum, gleisnerisch ein wenig, vamphaft in Andeutungen. Gesanglich bewältigte sie die Partie bewundernswert. Neben ihr galt der Applaus des Premierenpublikums besonders Dietrich Fischer-Dieskau als Dr. Schön. Ausgezeichnet in der Maske, spielte er ihn als ganz nur auf Reputation bedachten, ständig mürrischen und vorzeitig stocksteif gewordenen Honorator. Auch im Gesanglichen veränderte er nicht den gleichsam verbissenen Ton des stets Mißgelaunten.

Die Aufführung litt überhaupt daran, daß ihre Dynamik vom Gesanglichen her von vornherein zu hektisch angesetzt war, so gleich im übertrieben artikulierten Prolog Gerd Feldhoffs (dem man nachher den muskelprotzigen Athleten glaubte), auch bei Loren Driscolls Maler. Gelassener und der Figur des Alwa entsprechender gab sich Donald Grobe. Eine glänzende Zilletype machte Josef Greindl aus dem alten Schigolch. Um diese Hauptfiguren gruppierten sich Patricia Johnson, Barbara Scherler, Alice Oehlke, K. E. Mercker, Leopold Clam. Filippo Sanjust hatte als Bühnenbildner mit Schwarz-Weiß-Wänden von verschiedenen geometrischen Formen gearbeitet. Das übliche Zirkuszelt fehlte nicht. Das Premierenpublikum begeisterte sich erst allmählich.

Kurt Westphal



 



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