Zum Liederabend am 6. August 1968 in München

     Süddeutsche Zeitung, 8. August 1968     

Münchner Festspiele

Beim Erzvater des Kunstliedes

Liederabend Dietrich Fischer-Dieskau im Herkulessaal

Ein Fall von sinnvoll angewandter Popularität: Ein Sänger, der zu sehr Künstler ist, um noch Star genannt werden zu dürfen, erreicht kraft unbeabsichtigter Starwirkung, daß sich der Herkulessaal bei einem Liedprogramm von edelster geistiger Konsequenz füllt. Dietrich Fischer-Dieskau sang Goethe-Vertonungen aus drei Jahrhunderten. Eingangs äußerte er sich im Programmheft zu dem alten Thema "Goethe und die Musik". Was Fischer-Dieskau hier schrieb, ist der beste, inspirierte Beitrag zu dieser oft recht töricht und kurzsichtig traktierten Frage. "Solange das deutsche Kunstlied lebendig ist, wird es durch Goethe bestimmt und nach allen Richtungen hin beherrscht." Ein goldener Satz, den nur einer schreiben konnte, der seinen Goethe nicht nur im Bücherschrank stehen hat.

Am Anfang standen die Generationsgefährten mit ihren biederen, strophischen Rokokoweisen, wie der Erzvater des Liedes sie schätzte. Wieviel artigen Einfall in Moll hatte doch die weimarische Herzoginmutter Anna Amalia und auf wie noble Weise scheiterte der gute Reichardt an den unkomponierbaren Versen "Feiger Gedanken bängliches Schwanken". Zelter wurde mit einem dünnen, spießigen Lied bloßgestellt; so knöchern war Goethes musikalischer Mentor sonst gar nicht. Beethoven erweiterte bereits die strophische, naive Form; Schubert verwandte sie noch einmal auf das Gedicht "An den Mond", wohl fühlend, daß hier die Musik gut daran täte, ganz zu schweigen, oder allenfalls simplifizierend dahinzugleiten.

Fischer-Dieskau, dem Wort mit erleuchteter Kennerschaft zugetan, färbte Strophe für Stro phe durch Modulationen des Stimmklangs, die ebenso intelligent wie gesangstechnisch vollkommen waren. Und Jörg Demus, der wahre Nachfolger Raucheisens und Moores, behandelte den Flügel, als sei er ein Spinett.

Der schwüle, gewittrige Tag, der anfangs Fischer-Dieskaus Atemführung attackieren wollte, war vergessen beim entrückten Pianissimo von Schuberts "Meeres Stille", beim furiosen Schwager Kronos und erst recht bei der auf mindestens fünf Stimmregister als dramaturgische "Spielebenen" verteilten Erlkönig-Ballade. Nach Schumanns lapidaren Vertonungen der Greisenweisheit des Westöstlichen Diwan meldeten sich die reflektierenden Goethe-Enthusiasten der Romantik, nicht selten dazu aufgelegt, im Klavierpart ein germanistisches Oberseminar für Gedichtinterpretation bereit zuhalten. Erstaunlich, wie wenig Brahms zu Goethe sagen wußte, und wie zart und schlicht der vom Jugendstil angewehte Richard Strauss verfuhr. Dann Reger, der Goethe zerdenkt und zerdehnt; Othmar Schoeck, der wieder an die klargeprägte Melodie glaubt; schließlich Busoni, dessen Zigeunerlied - ein Meisterlied! - von Fischer-Dieskau atemberaubend virtuos nuanciert wurde. Die Wolf-Interpretationen Fischer-Dieskaus gehören längst zu den Denkwürdigkeiten zeitgenössischer Gesangskunst.

Es gibt anheimelnde, gefühlsselige und artistisch schillernde Liederabende. Dieses Konzert machte bis in die vielen Zugaben hinein auf tiefpoetische Weise schaudern. Man befand sich im Innersten der lyrischen Kunst, und ein Künstler, dem das Beherrschen seines Metiers selbstverständlich geworden ist, setzte sich Goethe und der Musik aus, als ginge es um Leib und Leben.

Karl Schumann


     Münchner Merkur, Datum unbekannt     

Fischer-Dieskaus Goethe-Panorama

Der letzte Liederabend der Münchner Festspiele

Dietrich Fischer-Dieskau hatte seine Sängerreise durch eine mit musikalischen Blumenrondellen, Staudenhecken und Wäldergruppen mannigfaltig bepflanzte Goethe-Landschaft trefflich organisiert. Wer daran teilnahm, hatte das Vergnügen, nicht nur zu den gut bekannten Ausflugszielen hoher Liedkunst geführt zu werden, sondern auch, freundlich abgelenkt auf kleine Seitenwege, mancherlei überraschende Ausblicke zu gewinnen.

Gewiß: ein Liederabend, der sich auf Vertonungen von Goethe-Gedichten spezialisiert, ist nichts Neues. Fischer-Dieskau filterte aus dem fast unübersehbaren Angebot ein höchst abwechslungsreiches Programm heraus, das dem universalen Geist des Weimarer Olympiers immerhin annähernd gerecht wurde. Das Panorama der Goetheschen Liebeslyrik präsentierte sich da ebenso wie die irdischen Täler ernster oder humorvoller Lebensweisheiten, die Schluchten balladesker Hochdramatik.

Ein Programm, das von einem rührend schlichten Liedchen der Amateur-Komponistin Herzogin Anna Amalia zu den braven Liedern eines Reichardt und Zelter überleitete, das Meisterwerke Beethovens und der Romantiker brachte und nach Reger, Richard Strauss und Schoeck mit Busonis packend illustrativem Zigeunerlied fast die Moderne streifte.

Fischer-Dieskau, der bei diesem seinem zweiten Münchner Festspiel-Liederabend von Jörg Demus ideal am Flügel begleitet wurde, spielte sichtlich mit Genuß alle Trümpfe seiner flexiblen Stimme aus, souverän von der sanftesten Mezza voce bis zum ehern strahlenden Forte. Zuweilen schlug sein komödiantisches Temperament im Überbetonen einzelner Worte durch. Unvergeßliche Höhepunkte: Schuberts "Meeresstille" und "An Schwager Kronos", Wolfs "Anakreons Grab" und vieles andere. Offenbar nicht ohne augenzwinkernde Selbstironie hatte Fischer-Dieskau Hugo Wolfs wohlbekannten Sänger-Rattenfänger an den Schluß gesetzt.

Beifall und Blumen in Hülle und Fülle. Mit Schuberts "Du bist die Ruh" als siebenter Zugabe verabschiedete Fischer-Dieskau schließlich die unentwegten Applaudierer im Herkulessaal.

Helmut Lohmüller


     Abendzeitung, München, 8. August 1968     

Münchner Festspiele 68: Liederabend Fischer-Dieskau

Historischer Schnellkursus

    

Münchner Festspiele: Dietrich Fischer-Dieskau sang Lieder nach Gedichten von Goethe. Am Flügel: Jörg Demus (Herkulessaal).

In seinem zweiten Liederabend während der Münchner Festspiele baute Fischer-Dieskau auf das historische Interesse seiner Bewunderer. Goethes Dichtung und ihre Auswirkung auf das kompositorische Schaffen von zwei Jahrhunderten, so etwa lautete das in den Herkulessaal transponierte Seminarthema - Stoff genug für eine vierstündige ganzjährige Vorlesung. Die Frage, in welcher Beziehung die einzelnen Komponisten zu Goethes Dichtung standen, kann in einem Zweistundenkonzert kaum befriedigend beantwortet werden.

Ehe man sich’s recht versah, war der Sprung von Herzogin Anna Amalias Vokalbemühungen zu Schuberts "Erlkönig" schon geschafft. Ein historischer Schnellkursus mit Oberflächenwirkung. Den Luxus, darüber nachzudenken, warum Goethe ausgerechnet in einem mediokren Meister wie Carl Friedrich Zelter den Inbegriff eines begabten Tönesetzers erblickte, konnte man sich nicht leisten. Weiter drehte sich das historische Karussell über Schumann, Brahms, Strauss, Othmar Schoeck, Reger, Busoni und Hugo Wolf.

Mehr vom Abend hatten jene, die geschichtliche Kurven Kurven sein ließen und sich, gleich was kam, an Fischer-Dieskaus Meisterschaft berauschten. Daß er mit dem Pathos manchmal auch die Tonhöhen überzog, seien kleine Einwände gegen einen Sänger, dem alle nur erdenklichen Stimmtechniken in einem überreichen Maße zur Verfügung stehen.

Das klavierspielende Pendant zu Fischer-Dieskau ist Jörg Demus. Partner bis in die letzte Faser, zunächst ganz Hintergrund und ab Schubert ein Interpret von einsamer Pianistenklasse.

Lesch


zurück zur Übersicht 1968
zurück zur Übersicht Kalendarium