Zum Konzert am 1. Oktober 1968 in Berlin


Der Tagesspiegel, Berlin, Datum unbekannt

Zwei Musikertemperamente

Brahms-Requiem mit Karajan und Fischer-Dieskau

Die Aufführung des Deutschen Requiems, mit der Herbert von Karajan und die Berliner Philharmoniker ihren Brahms-Zyklus in der Philharmonie beschlossen, war von der ästhetischen Konzeption her zunächst der vier Jahre zurückliegenden sehr ähnlich. Dem Dirigenten standen dasselbe Orchester und derselbe Chor zur Verfügung wie damals. Wieder erweckten Karajans weich modellierende Bewegungen reine Klangschönheit, wieder hörte man schwingendes Streicherpizzikato und goldenen "Regen" in den Harfen. Ein konzertantes Ereignis von überredender Geschlossenheit, dem das Präzisionsinstrument des Opernchores entsprach. In diese heile Kunstwelt, deren Formenreichtum so meisterhaft abgestimmt wie differenziert erschien, traf Fischer-Dieskaus Einsatz "Herr, lehre doch mich" wie ein Fremdkörper. Die predigende Intensität seiner Wortinterpretation fand bei Chor und Orchester geglättetes konzertantes Echo. Ein denkwürdiger und fesselnder Dialog zwischen zwei entgegengesetzten Musikertemperamenten, zwischen Fischer-Dieskaus prophetischem Ausdruckswillen und Karajans dirigentischer Eleganz: Welten, die einander im Verlauf der Aufführung näherzukommen schienen. Das holde Sopransolo der Gundula Janowitz entsprach – wie vor vier Jahren schon – den Intentionen des Maestro vollkommen.

S. M.


  

     Telegraf, Berlin, 3. Oktober 1968     

  

Wie in Granit gemeißelt

Brahms’ "Deutsches Requiem" unter Herbert von Karajan

    

Herbert von Karajan und das Berliner Philharmonische Orchester beendeten ihren vier Abend umfassenden Brahms-Zyklus mit dem "Deutschen Requiem". In Karajans Laufbahn hat das Werk eine schicksalhaft zu nennende Rolle gespielt. Es gehörte zu denen, deren Interpretation vor rund drei Jahrzehnten ihn in Berlin über Nacht berühmt machte, und ich erinnere mich noch genau der Faszination, die seine Fähigkeit, die Spannung der sieben Sätze kontinuierlich durchzuhalten, auf mich damals in der alten Philharmonie in der Bernburger Straße übte.

Eine ähnliche Wirkung wollte sich diesmal erst allmählich einstellen, obwohl Karajan erlesene Kräfte zur Verfügung hat. Seiner Neigung zu groß dimensionierten Wirkungen gemäß, hat er die Holzbläser verstärkt und ein Streichorchester von annähernd 60 Mann aufgeboten. Der Chor der Deutschen Oper umfaßte rund 100 Sänger. Jeder hat eine ausgebildete Stimme, jeder ist Berufschorist und zählt, mit einem Laienchoristen verglichen, doppelt. Die schwebende Schönheit des Klangs im Mittelteil des zweiten Satzes "So seid nun geduldig" oder im vierten, "Wie lieblich sind deine Wohnungen", war zauberhaft, der Forte-Ausbruch "Aber des Herrn Wort" wie in Granit gemeißelt. Die Frage "Tod, wo ist dein Stachel" fuhr mit peitschender Energie in den weiten Raum, und in den beiden Fugen, die leicht in ein schwer durchhörbares Wogen ausarten können, war jede Stimme stählern.

Doch seltsam genug, die schlichten Trostsprüche wollen sich in der Wiedergabe durch einen Laienchor inniger mitteilen als in so virtuos raffinierter Aufmachung. Der etwas schleppend genommene erste Satz mit dem übertriebenen Pianissimo – Brahms schreibt piano, nicht pianissimo vor – vermochte uns nicht sonderlich anzurühren, und auch später ersetzte Karajan durch imposante Mächtigkeit der Klangquadern die wirkliche Eindringlichkeit, wie sie uneingeschränkt von den beiden Solisten ausging.

Gundula Janowitz ist immer noch auf steigender Linie. Ihr Solo war bis in die Höhen des "a" und "b" von angeleischer Reinheit und süßer Fülle. Von Dietrich Fischer-Dieskau geht prophetische Kraft aus. Wenn er singt "Siehe, ich sage euch ein Geheimnis", dann schillert sein Bariton selbst in schier geheimnisvoller Mannigfaltigkeit der Nuancen.

Den einsetzenden Beifall am Schluß erstickte Karajan mit zwei hastig abwinkenden Bewegungen. Warum? Ein Konzertsaal ist keine Kirche, und die Aufführung auch eines geistlichen Werkes kein Gottesdienst, sondern eine künstlerische Darbietung, die ihre Resonanz erwarten darf.

K. W.

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