Zum Liederabend am 5. Oktober 1968 in Berlin


     Zeitung unbekannt, 7. Oktober 1968     

    

Liederabend mit Fischer-Dieskau: Ein Bombenerfolg

     

Dietrich Fischer-Dieskau gab am Sonnabend einen Liederabend in der ausverkauften Philharmonie. Er rechtfertigte den Ruf, der weltbeste Liedersänger zu sein. Für das Festwochen-Konzert hatte er ausschließlich Goethe als Textdichter gewählt. Und das bedeutet: neben Altbekanntem von Schubert, Schumann, Brahms und Wolf auch Raritäten. Zum Beispiel von der Herzogin Anna Amalia, die das erste Goethe’sche Singspiel in Musik gesetzt hat: "Erwin und Elmire", aus dem Fischer-Dieskau ein Lied an den Anfang des Programms stellte. Kaum ein Sänger verzichtet darauf, im Konzertsaal Schuberts Erlkönig zu singen. Aber kaum einem anderen zuvor dürfte es gelungen sein, ihn so ergreifend zu gestalten wie Fischer-Dieskau es tat.

An dem hohen Festspielniveau des Konzertes war auch der junge Amerikaner Norman Shetler als Begleiter am Flügel beteiligt. Das Publikum war sich der Größe des Dargebotenen bewußt und verlangte stürmisch Zugaben.

M. R.

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     Zeitung unbekannt, 7. Oktober 1968     

   

Acht Zugaben Fischer-Dieskaus

     

Einer der wenigen Sänger, die einen Riesensaal wie die Berliner Philharmonie mit einem Liederabend bis auf den letzten Platz zu füllen vermögen, ist Dietrich Fischer-Dieskau, wie sein Konzert als willkommener Festwochen-Beitrag bewies. Der Künstler, der seine Operntätigkeit wegen der noch nicht überwundenen Folgen eines Bühnenunfalls zunächst eingestellt hat, offenbarte mit einer sorgfältig ausgewählten Programmfolge ausschließlich nach Goethe-Gedichten ein weitgespanntes Stilpanorama des Kunstliedes. Die stimmliche Meisterschaft und vergeistigte Vortragskunst des großen Baritons, dem Norman Shetler ein idealer Begleiter am Flügel war, riß die Zuhörer zu begeisterten Beifallskundgebungen hin, denen Fischer-Dieskau mit nicht weniger als acht Zugaben Rechnung trug.

Autor unbekannt

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     Zeitung und Datum  unbekannt     

   

Mit nicht weniger als acht Zugaben honorierte Dietrich Fischer-Dieskau die begeisterte Aufnahme seines Festwochen-Liederabends in der Philharmonie. Der intelligenteste Sänger der Gegenwart – von dessen eigener Programmeinführung jeder, der nicht gerade auf das Thema "Goethes Musikanschauung" spezialisiert ist, profitieren kann – erwies sich wiederum als der herzlichst Gefeierte; ein Einverständnis stellte sich im Zeichen geistigen Anspruchs her, das allen zu denken geben sollte, die meinen, dem sogenannten Publikumsgeschmack entgegenkommen zu müssen.

Fischer-Dieskau sang, von Norman Shetler mit erstaunlicher Präsenz und Anpassung begleitet, Lieder nach Gedichten von Goethe und stellte somit eine literarische Idee in den Vordergrund eines musikalischen Abends: ein Interpret, der über die Musik hinaus will – mittels ihrer selbst; ein Musiker, dem es wie keinem anderen um die tausendfältigen Möglichkeiten der Verbindung von textlichem Inhalt und kompositorischem Ausdruck geht.

Auf dem Boden des Rokokoliedes und der Berliner Schule fußt das Gesangsstückchen "Auf dem Land und in der Stadt" aus dem Singspiel "Erwin und Elmire", das Herzogin Anna Amalia, die Mutter des Herzogs Karl August von Weimar und eine Nichte Friedrichs des Großen, in Musik setzte. Uraufführung im Mai 1776, die Einstudierung hatte der Dichter selbst besorgt. Eine der frühesten Goethe-Vertonungen, von Fischer-Dieskau ins Licht der Gegenwart geholt. Schwächer erschienen die von ihm gewählten Reichardt- und Zelter-Beispiele.

Über zwei Beethoven-Lieder – "Neue Liebe, neues Leben" wirkte in Stimmung und musikalischer Gestaltung wie eine Vorwegnahme der "Post" aus der "Winterreise" – gelangte die Vortragsfolge zu einer zentralen Schubert-Gruppe. Zwei lyrisch betrachtende ("An den Mond" und "Meeres Stille") und zwei mehr rhythmisch akzentuierte Lieder ("Schwager Kronos" und "Erlkönig") standen einander gegenüber. Auffällig, wie stark Schubert aus dem Rhythmischen lebt.

Meister und Kleinmeister aus der Geschichte der Goethe-Vertonung glitten im zweiten Teil vor der Hugo-Wolf-Gruppe, deren Höhepunkt "Anakreons Grab" bildete, vorüber: Schumann, Brahms, Strauss, Othmar Schoeck – mit irisierenden Harmonien und statischer Melodieführung schildert der Komponist die Stimmung des Gedichts "Dämmrung senkte sich von oben", seiner Weltdeutung vermag er nicht zu folgen -, Reger, Busoni (mit dem hübschen "Halbunsinn" des "Zigeunerliedes").

Der Musiker Fischer-Dieskau ist ein Extremist. Er weiß, daß Musik etwas aussagen will, das über sie hinausgeht, das aber nur sie aussagen kann: Inhalte nämlich, die man nicht hermeneutisch umschreiben soll. Er stellt sein Ich in die Musik hinein, ohne sie zu stören. Seine Klugheit steuert die Emotion, das Maß an Subjektivität, das nötig ist, Musik als menschliche Äußerung zu verlebendigen. In solcher Absicht kann und will Gesang nicht immer glatt und bis ins letzte vollkommen sein: bestechend und beruhigend, daß Fischer-Dieskau seine interpretatorische Verve nicht einem Schöngesang aufzuopfern bereit ist, den er ohne weiteres geben könnte. Er gehört zu den wenigen modernen Künstlern, die, äußerste Anforderungen an sich selbst stellend, musikalische Interpretation aus den Schablonen der jüngeren Vergangenheit befreit haben und zu völliger – nur dem Werk verantwortlicher – Ungebundenheit gelangt sind. Daß sich die heutige Musikbetrachtung vielfach auf dem Wege zu einer neuen Dogmatisierung befindet, zu einer Verfestigung der Anschauungen im Sinne eines Formalismus, dem Leere droht, scheint Fischer-Dieskau als Interpreten glücklicherweise nicht zu berühren. Dieser Abend zeigte ihn musikalisch und stimmlich exzeptionell wie eh und je, und seine unübertreffliche Wiedergabe des Schubert-Liedes "Über allen Gipfeln ist Ruh" wurde (unter anderem!) auch jeglichem Perfektionsanspruch gerecht.

Autor unbekannt

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